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Europäisierung als omnipräsentes Phänomen
Die Europäisierung durchdringt heute alle Teilgebiete des Rechts.[1] Im Verwaltungsrecht wird sie seit Längerem intensiv diskutiert[2] und steht dort im Kern für die Beeinflussung, Überlagerung und Überformung des von den EU-Mitgliedstaaten beim indirekten Vollzug des Unionsrechts angewandten nationalen Rechts.[3] Die Rede ist auch vom Unionsverwaltungsrecht in Abgrenzung zum Eigenverwaltungsrecht der EU.[4] Über den Unionsrahmen hinaus greifen die Einwirkungen des Konventionsverwaltungsrechts, allen voran die EMRK samt der hierzu ergangenen Judikatur des EGMR. Um das omnipräsente Phänomen zu erfassen, ist zunächst eine nähere begriffliche Einordnung und Kategorisierung vorzunehmen (B.).[5] Sodann gilt es, die Entwicklungslinien (C.) und übergreifende Strukturprinzipien herauszuarbeiten (D.). Auf dieser Grundlage werden konkrete Einwirkungsfelder sowohl im Bereich der allgemeinen Lehren (E.) als auch beim Verwaltungsrechtsschutz (F.) sichtbar gemacht und die verbleibende Rolle der Verfassung hinterfragt (G.).
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Begriffsbildung
Die begriffliche Einordnung steckt zugleich den Rahmen der weiteren Analyse ab. Dabei kann zwischen einer Europäisierung im engeren und weiteren Sinne (I.), den Formen der direkten und indirekten Europäisierung (II.), den Kategorien einer materiellen, prozeduralen, prozessualen und institutionellen Europäisierung (III.), dem Begriffspaar von heteronomer und autonomer Europäisierung (IV.) sowie den Spielarten einer vertikalen und horizontalen Europäisierung differenziert werden (V.). Klärungsbedürftig ist überdies das durch Überschneidungen gekennzeichnete Verhältnis zur Internationalisierung (VI.).
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Adressierung verschiedener Rechtskreise
Die Differenzierung zwischen einer Europäisierung im engeren und im weiteren Sinne adressiert die einbezogenen Rechtskreise. Hier besteht eine Verbindungslinie zur allgemeinen Debatte um den Begriff des Europarechts.[6] Unter Europarecht i. w. S. wird das Recht aller europäischen Internationalen Organisationen verstanden.[7] Besondere Bedeutung kommt insoweit dem Recht des Europarats und der in seinem Rahmen angenommenen EMRK zu. Demgegenüber erfasst das Europarecht i. e. S. allein das Recht der EU und von Euratom. Den Hintergrund der Differenzierung bildet der supranationale Charakter des EU-/EAG-Rechts, wie er in den Figuren der unmittelbaren Anwendbarkeit[8] und des (Anwendungs-)Vorrangs gegenüber nationalem Recht[9] seinen prägnanten Ausdruck findet.[10] Gewendet auf das Verwaltungsrecht lässt sich vor diesem Hintergrund auch terminologisch zwischen Unions- und Konventionsverwaltungsrecht[11] differenzieren.
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Direkte Europäisierung
Mit der Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Europäisierung werden die Einwirkungsformen des Europarechts in Bezug genommen. Die direkte Europäisierung erfolgt regelmäßig durch eine bereichsspezifische Normierung unmittelbar anwendbaren oder zumindest (zwingend) umzusetzenden Sekundärrechts bzw. – im Falle der Europäisierung i. w. S. – durch die Annahme entsprechender völkerrechtlicher Konventionen im Rahmen europäischer Internationaler Organisationen.[12] Beispiele finden sich in weiten Teilen des besonderen Verwaltungsrechts. Besonders ausgeprägt ist die als Folge einer direkten Normenkollision eintretende gezielte Überlagerung und Überformung des nationalen Rechts etwa im Stoffrecht, im Umwelt- und Planungsrecht oder auch im Wirtschaftsverwaltungsrecht.[13]
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Indirekte Europäisierung
In Abgrenzung dazu stellt sich die indirekte Europäisierung zum einen als Folge einer mittelbaren Kollision zwischen materiellem Unionsrecht und nationalem Durchführungsrecht dar.[14] Erfasst werden Fälle, in denen die einheitliche Anwendung des materiellen Unionsrechts mit den nationalen prozess-, organisations- und verfahrensrechtlichen Rahmenbedingungen kollidiert. Das zentrale Instrument bildet eine unionsrechtlich veranlasste Neuinterpretation des zur Durchsetzung der EU-Vorgaben anwendbaren mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechts im Lichte des Grundsatzes der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV).[15] Zum anderen werden von der indirekten Europäisierung auch Fälle einer faktischen Einwirkung erfasst. Hiermit sind u. a. spill-over-Effekte angesprochen, die aus unionsrechtlich nicht zwingend vorgegebenen Anpassungsreaktionen der nationalen Rechtsordnungen resultieren.[16] Hintergrund dieser Entwicklung ist typischerweise die Frage, ob die bestehenden Institute oder Prinzipien dann, wenn sie keine Überlagerung durch europarechtliche Vorgaben erfahren, unverändert bleiben können.[17]
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Verzahnung der Rechtsschichten
In der Folge einer durch spill-over-Effekte ausgelösten indirekten Europäisierung erfahren die unterschiedlichen Schichten des Verwaltungsrechts eine engere Verzahnung.[18] Exemplarisch für derartige „,überwirkende‘ Veränderungseffekte“[19] steht die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie (DLR) 2006/123/EG.[20] Hier wurde u. a. das Verfahren über eine einheitliche Stelle (§§ 71a ff. VwVfG) überschießend als allgemeines Verfahrensmodell implementiert und auch auf reine Inlandssachverhalte erstreckt.[21] Von der Umweltinformationsrichtlinie 90/313/EWG[22] (heute 2003/4/EG)[23] ging ein Impuls zur autonomen Einführung eines voraussetzungslosen und verfahrensunabhängigen Zugangs zu den bei öffentlichen Stellen vorhandenen amtlichen Informationen aus.[24] Darin lag zugleich eine „sektorale Systemänderung“ der deutschen Rechts- und Verwaltungskultur[25] durch Einbindung der Öffentlichkeit als „Forum der Kommunikation“.[26] Der „Durchbruch“ zum allgemeinen Grundsatz eines freien Informationsflusses gelang dann mit dem am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen Informationsfreiheitsgesetz (IFG).[27]
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Differenzierung nach Europäisierungsgegenstand
Eine weitergehende Systematisierung im Hinblick auf den Europäisierungsgegenstand leistet die Differenzierung zwischen materieller, prozeduraler, prozessualer und institutioneller Europäisierung.[28] Mit der materiellen Europäisierung ist die Überlagerung der nationalen Rechtsvorschriften durch inhaltliche Vorgaben des Unionsrechts angesprochen.[29] Dabei variiert der Einwirkungsgrad erheblich. Während einzelne Rechtsgebiete (wie das Wirtschaftsverwaltungs-, Umwelt- und Migrationsrecht) weitgehend europäisch imprägniert sind, bleiben andere Bereiche (wie das Polizei-, Kommunal- oder Schulrecht) national geprägt. Prozedurale, prozessuale und institutionelle Überformungsphänomene als Unterfälle einer formellen Europäisierung erfassen demgegenüber die Beeinflussung des Verwaltungsverfahrens, des Verwaltungsprozessrechts bzw. der Verwaltungsorganisation.
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Motivation der Europäisierung
Die Motivation der Europäisierung bildet den Hintergrund des Begriffspaars der autonomen und heteronomen Europäisierung.[30] Heteronome Europäisierung meint die von unionsrechtlichen Vorgaben abhängige, also gleichsam extrinsische Europäisierung. Dagegen werden die von den Mitgliedstaaten freiwillig herbeigeführten (intrinsischen) Annäherungen an die europäische Dogmatik durch den Terminus der autonomen Europäisierung erfasst. Die Rede ist hier erneut von den bereits adressierten spill-over-Effekten.[31] Trennscharf lässt sich die Unterscheidung indes nur dann vornehmen, wenn eine rein rechtliche Betrachtung zugrunde gelegt wird. Dagegen verschwimmen die Grenzen, wollte man den faktischen Unitarisierungsdruck einbeziehen (und als Fall einer heteronomen Europäisierung einordnen), der insbesondere von den Grundsätzen des Eigenverwaltungsrechts oder den Ebenenverflechtungen im Europäischen Verwaltungsverbund ausgeht.[32]
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Wechselseitige Einwirkungen
Die Europäisierung verläuft nicht allein hierarchisch von oben nach unten, sondern stellt einen wechselseitigen Prozess dar. Dies bedingt eine gegenläufige faktische Einwirkung der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtssysteme auf die Unionsrechtsordnung. Die nationalen Rechtsordnungen bilden dergestalt eine Inspirationsquelle für die EU-Organe.[33] Dies gilt neben der Rechtssetzungs- auch für die richterliche Rechtsfindungsebene.[34] Deutlich wird hiermit zugleich die zentrale Rolle der Rechtsvergleichung für eine informierte Auswahl des passenden Konzepts.[35] In diesem Sinne besitzt die Europäisierung ein „endogenes Vereinheitlichungspotenzial“ und darf nicht nur als Prozess betrachtet werden, der etablierte nationale Lösungen verdrängt.[36] Beispielhaft für jenes „Gegenstromprinzip“ stehen die Ausdifferenzierungen des im deutschen Recht wurzelnden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder die u. a. auf Vorstellungen des common law zurückgehende stärkere Betonung des Verfahrensgedankens in der EuGH-Judikatur.[37] Bemerkenswert erscheint schließlich, dass nationale Rechtsfiguren (wie die Verhältnismäßigkeit oder der Vertrauensschutz) „über die Brücke“ des Unionsrechts Eingang in andere nationale Rechtsordnungen finden und einen Transkulturationsprozess durchlaufen können.[38] Die Europäisierung erfolgt mithin auch horizontal zwischen den nationalen Rechtssystemen.[39] Insoweit lässt sich von einer regelrechten „doppelten Rezeption“ (vertikal und horizontal) sprechen, wobei beide Formen miteinander verzahnt sind.[40]
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Verhältnis zur Internationalisierung
Schnittmengen weist die Europäisierung mit der Internationalisierung auf.[41] Beide Phänomene beschreiben einen Prozess fortschreitender Beeinflussung, Überformung und Durchdringung der nationalen Rechtssysteme durch europäisches bzw. internationales Rechtsdenken und -handeln.[42] Die Internationalisierung stand bislang wegen der geringeren Einwirkungstiefe weniger im Fokus.[43] Während sich das Unionsrecht durch Supranationalität auszeichnet, weist das internationale Recht einen intergouvernementalen Charakter auf. Die Europäisierung i. e. S. lässt sich daher auch als besondere Form der Internationalisierung begreifen.[44] Im Übrigen sind vielfältige Schnittmengen erkennbar. So gibt es auch im Unionsrecht mit der GASP ein Politikfeld, das intergouvernemental konzipiert ist. Darüber hinaus kann die EU eigene internationale Abkommen schließen, sodass dem Unionsrecht insofern die Rolle als „Medium der Internationalisierung“ zukommt.[45] Schließlich wird mit dem Begriff der Europäisierung i. w. S. nicht nur das supranationale Unionsrecht, sondern auch das Recht aller europäischen Internationalen Organisationen erfasst.
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Drei Phasen der Europäisierung
Die Europäisierung des Verwaltungsrechts hat bislang drei Phasen durchlaufen.[46] Diese reichen von der allmählichen Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH seit den 1960er-Jahren (I.) über zunehmend strukturelle Einwirkungen auf die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre (II.) bis hin zur Entdeckung des neuen Paradigmas vom Verwaltungsverbund seit den 2000er Jahren (III.). Aktuell befindet sich das Europäische Verwaltungsrecht in einem Stadium der Konsolidierung, wobei darum gerungen wird, ob im nächsten Schritt eine Kodifikationsphase eingeläutet werden sollte (IV.).
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1960er- bis 1980er-Jahre
Mit Blick auf die Entwicklung der europäischen Dimension des Verwaltungsrechts ist festzustellen, dass die Wissenschaft den Fokus bis in die 1980er-Jahre stärker auf das Eigenverwaltungsrecht durch Stellen der EU gelegt hat.[47] Eine zentrale Rolle spielte insoweit die Verwaltungsrechtsvergleichung als Inspirationsquelle.[48] Demgegenüber erfuhr das Phänomen einer Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen zunächst nur eine nachgelagerte Behandlung.[49] Dessen ungeachtet kam es in der Judikatur auch insoweit bereits zur Herausbildung allgemeiner, den Diskurs bis heute prägender Rechtsgrundsätze. Zum einen entwickelte der Gerichtshof in den Fällen Salgoil (1968) und Fleischkontor (1971)[50] den später auf den Begriff der „Verfahrensautonomie“[51] gebrachten Ansatz einer institutionellen und verfahrensmäßigen Autonomie der Mitgliedstaaten. Dem entgegengestellt wurden in den Rechtssachen Rewe und Comet (1976) die beiden – seinerzeit noch als Diskriminierungs- und Vereitelungsverbot firmierenden – Schranken der Effektivität und Äquivalenz.[52] Eine Komplettierung erfuhren diese Vorgaben durch die „Soweit“-Formel der Milchkontor-Entscheidung (1983), wonach die Anwendung der Vorschriften des nationalen Verfahrensrechts nur erfolge, „[s]oweit das Gemeinschaftsrecht […] hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält“.[53]
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1980er und 1990er-Jahre
Die zweite Phase der Europäisierung läutete der EuGH mit einer Reihe fundamentaler Urteile ein, denen im Schrifttum eine gleichsam disruptive Kraft für das deutsche Rechtssystem beigemessen wurde. Im Fokus der bisweilen ungewohnt scharfen Kritik stand vor allem die Judikatur zur Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger staatlicher Beihilfen, zum einstweiligen Rechtsschutz sowie zur Staatshaftung.[54] Dem Gerichtshof wurde vorgeworfen das nationale Recht zu „denaturieren“[55] bzw. als „Torso“[56] zurückzulassen.[57] Rückblickend erscheinen die Einwände zwar überzogen und werden heute auch von früheren kritischen Stimmen relativiert.[58] Dessen ungeachtet verschaffen sie einen Eindruck von der Irritation, die der verstärkte Zugriff des EuGH auf das nationale Verwaltungsrecht auslöste. In der Folgezeit konzentrierte sich die Diskussion zunehmend auf das europäisierte nationale Recht.[59] Die anfängliche Abwehrhaltung wich einer pragmatischen Sachauseinandersetzung.[60] Hierzu hat nicht zuletzt beigetragen, dass der Gerichtshof in einer Reihe von Entscheidungen auch die nationale Verfahrensautonomie zur Geltung gebracht hat. Der Wirkungsanspruch des Unionsrechts entfaltet sich dergestalt in Abhängigkeit von den spezifischen Rezeptionsbedingungen im nationalen Recht.[61]
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2000er-Jahre bis heute
Die dritte Phase der Europäisierung ist mit dem neuen Paradigma vom Europäischen Verwaltungsverbund verknüpft.[62] Im Hintergrund steht der Befund einer zunehmenden Ablösung der Dichotomie von direktem und indirektem Vollzug durch Kooperationsmodelle. Eine Verdichtung zum Verwaltungsverbund verlangt als Grundelemente das Vorliegen einer qualifizierten Vollzugsteilung und -verflechtung.[63] Während erstere durch die Verteilung der Aufgaben des Unionsrechtsvollzugs zwischen dezentraler und zentraler Ebene charakterisiert ist, zeichnet sich letztere durch die wechselseitige Verflochtenheit des Handelns der Ebenen in horizontaler und vertikaler Hinsicht aus. Die als prägend vorausgesetzten hierarchischen Ingerenzrechte auf Unionsebene können bis hin zu Vetobefugnissen gegenüber den nationalen Behörden reichen.[64] Bedeutende Referenzgebiete bilden das Produktzulassungsrecht,[65] die Bankenaufsicht im Single Supervisory Mechanism[66] oder die Regulierung in den Bereichen Energie und Telekommunikation[67]. Mit der Klassifizierung als „Europäischer Verwaltungsverbund“ wird metaphorisch verdeutlicht, dass es beim Verhältnis des nationalen Rechts zum europäischen Verwaltungsrecht um mehr geht als eine Überlagerung und Überformung der nationalen Rechtssysteme.[68] In Rede steht auch die ebenenübergreifende Verknüpfung des Verwaltungshandelns in einem gegliederten europäischen Verwaltungsraum.[69]
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Stand der Kodifizierungsbemühungen
Perspektivisch stellt sich die Frage, in welche Richtung sich das aktuell in einer Konsolidierungsphase befindliche europäische Verwaltungsrecht fortentwickeln wird. Eine vieldiskutierte vierte Stufe der Europäisierung könnte die Kodifikation darstellen.[70] Dabei ist zwischen direktem und indirektem Vollzug zu differenzieren. Die Kodifizierungsbemühungen für den direkten Vollzug stehen seit einer Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Januar 2013 verstärkt im Fokus.[71] Im Folgejahr veröffentlichte das ReNEUAL-Netzwerk[72] seinen Musterentwurf für ein EU-Verwaltungsverfahrensrecht.[73] Daran anknüpfend erarbeitete erneut das Parlament einen im Juni 2016 vorgelegten Verordnungsvorschlag für das Eigenverwaltungsrecht.[74] Die Kommission hat sich hierzu indes sehr zurückhaltend geäußert und den Mehrwert bezweifelt.[75] Immerhin beinhaltet Art. 41 GRCh eine Kodifikation von Teilen des europäischen Verwaltungsverfahrensrechts.[76] Keine substanziellen Kodifizierungsbemühungen sind dagegen für den indirekten Vollzug festzustellen, wenngleich ein entsprechendes Vorgehen bisweilen rechtspolitisch befürwortet wird.[77] Primärer Grund ist das Fehlen einer Kompetenz zum Erlass einer allgemeinen Kodifikation in diesem Bereich.[78] Der bisweilen angeführte Art. 352 AEUV[79] scheitert schon daran, dass sich eine bereichsübergreifende Harmonisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts weder im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche bewegt[80] noch überhaupt ein Ziel der Verträge darstellt.[81] Hierfür spricht neben dem Rückschluss aus dem Kompetenztitel für die Regelung des Eigenverwaltungsrechts (Art. 298 Abs. 2 AEUV[82]) auch der Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie.
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Mitgliedstaatliche Kodifizierung
Ungeachtet der fehlenden Kompetenz zur sachgebietsübergreifenden Angleichung, wird seit einigen Jahren über eine „Rekodifikation des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts sub specie des Unionsverwaltungsrechts“ diskutiert.[83] Als Ausgangspunkt ist zu konstatieren, dass bislang im „inlandszentriert[en]“ VwVfG kaum explizite Antworten auf die Europäisierung formuliert wurden.[84] Eine bedeutsame Ausnahme bildet die Umsetzung der DLR 2006/123/EG in den §§ 8a ff., 42a und 71a ff. VwVfG.[85] Stattdessen wird die Anpassungsaufgabe typischerweise durch Fachgesetze bewältigt und im Übrigen den Norminterpreten überlassen. Hieran ist kritisiert worden, dass das VwVfG seine Funktion als Kodifikation im Spannungsverhältnis von nationaler Verfahrensautonomie und einheitlicher Anwendung des Unionsrechts nicht mehr voll erfülle.[86] Für eine stärkere Rückanbindung der Europäisierung spricht daher die übergreifende Erkenntnis, wonach allgemeine Teile und Kodifikationen die „Konzept- und Systemfähigkeit“[87] der deutschen Rechtsordnung im Wettbewerb der Systeme[88] sichern.[89]
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Strukturprinzipien der Europäisierung
Art und Umfang der Europäisierung des Verwaltungsrechts werden durch Strukturprinzipien geprägt, die sich in Rechtsprechung und Literatur herausgebildet haben. Im Fokus stehen hier zunächst die widerstreitenden Grundsätze der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie (I.) sowie der Äquivalenz und Effektivität (II.). Hiermit verknüpft ist die Forderung nach einer Konformitätsauslegung des nationalen Recht (III.). Eine zentrale Rolle spielen ferner das Postulat der Kohärenz (IV.) sowie die Garantie effektiven Rechtsschutzes (V.).
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Verfahrensautonomie
Die vielfältigen Einwirkungen des Unionsrechts im Bereich des indirekten Vollzugs sind mit einem stetig wachsenden Anpassungsdruck verbunden. Dem steht gleichsam als Widerlager die vom EuGH in ständiger Rechtsprechung[90] betonte Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten gegenüber. Der weite Begriff des „Verfahrens“ erfasst neben dem Verfahrensrecht i. e. S. auch andere Bereiche wie das Verwaltungsorganisations- und Verwaltungsprozessrecht sowie die Staatshaftung.[91] Ungeklärt ist allerdings, ob die Verfahrensautonomie einen bloß empirischen Befund[92] oder einen normativen Grundsatz[93] darstellt. Die Befürworter/-innen der Normativitätsthese verweisen überzeugend auf das in Art. 291 Abs. 1 AEUV verankerte Regel-Ausnahme-Verhältnis, die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sowie den Harmonisierungsausschluss für die mitgliedstaatliche Verwaltungszusammenarbeit in Art. 197 Abs. 2 S. 4 AEUV. Als Konsequenz ergibt sich hieraus auch, dass die „Soweit“-Formel der Milchkontor-Entscheidung des EuGH nicht (mehr) dahingehend verstanden werden kann, dass die Verfahrensautonomie unter einem pauschalen Vorbehalt des Vorliegens abweichender unionsrechtlicher Vorschriften steht.[94] Ganz auf dieser Linie hat das BVerfG jüngst für die Verbundverwaltung im Rahmen der Bankenaufsicht betont, dass Art. 114 AEUV nicht zur Beseitigung jeglicher Hindernisse ermächtigt, die aus dem Nebeneinander der nationalen Verwaltungen resultieren. Dabei unterstrich der Zweite Senat, dass Aufbau und Organisation der nationalen Verwaltung in den politischen und sozialen Traditionen der Mitgliedstaaten wurzeln und „vielfach deren nationale Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV [prägen]“.[95] Indem das BVerfG den Umfang der Binnenmarktkompetenz derart begrenzen will, plädiert es zugleich für eine normative Rolle der hierfür maßgeblichen nationalen Verfahrensautonomie.