Handbuch des Verwaltungsrechts

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1. Gesellschaftliche Wertvorstellungen

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Juridifizierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen

Verschiedene Normen des geschriebenen und des ungeschriebenen Verwaltungsrechts knüpfen tatbestandlich an Begriffe an, die auf gesellschaftliche Konventionen und Wertvorstellungen Bezug nehmen. Hierzu gehören die polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklauseln, die ein Einschreiten auch bei einer Missachtung der öffentlichen Ordnung gestatten. Eine derartige Inkorporation darf nicht zu dem Missverständnis führen, hiermit würden gesellschaftliche Werte und Normen unmittelbar zu Rechtsquellen des Verwaltungsrechts. Entsprechende Normen werden nach den Maßstäben juridischer Rationalität ausgelegt und sind damit insbesondere im Lichte verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen zu interpretieren.[253]

2. Technische Normung

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Private Normierungseinrichtungen

Sowohl auf nationaler, europäischer wie auf internationaler Ebene haben sich verschiedene private Normierungseinrichtungen etabliert.[254] Hierzu gehört auf nationaler Ebene insbesondere das Deutsche Institut für Normung e. V. (DIN).[255] Auf europäischer Ebene ist dies das Europäische Komitee für Normung (CEN)[256] und auf internationaler Ebene die International Organization for Standardization (ISO).[257] Die Fülle der von diesen gesetzten, nichtstaatlichen und damit mangels Rechtssetzungsbefugnis prima facie unverbindlichen Standards[258] ist unüberschaubar.[259] Ihr traditioneller Regelungsgegenstand sind technische Normen, die die Sicherheit und die Qualität von Produkten gewährleisten sollen. Große Bedeutung kommt der privaten Normsetzung auch im Bereich der Cybersecurity zu.[260] Damit entlastet die private Normierung den Staat. Dies gilt nicht nur unter Kostenaspekten. Der Verzicht auf eine eigene staatliche Standardsetzung setzt Ressourcen frei, die sonst in möglicherweise langwierigen Auseinandersetzungen um einen Ausgleich divergierender Interessenlagen gebunden wären. Kehrseite dieser Effizienzvorteile sind legitimatorische Schwächen. Wohl unstrittig ist hingegen der wichtige Beitrag, den die private Standardsetzung zur Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs leistet.[261]

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Organisation privater Normierungseinrichtungen

Beim DIN obliegt die Normierung den Normierungsausschüssen,[262] deren Arbeitsweise sich nach der DIN-Richtlinie bestimmt.[263] Die fachliche Arbeit wird durch externe Mitarbeiter geleistet, die von hauptamtlichen Bearbeitern des DIN unterstützt werden. Zu diesen gehören Fachleute aus den interessierten Kreisen, u. a. Anwender, Behörden, aber auch Vertreter von Umweltschutzverbänden, Verbraucher, Wissenschaft und gesellschaftspolitische Interessenverbände. Ungeachtet dieser Öffnung zur Zivilgesellschaft dominieren in den Normierungsausschüssen wirtschaftliche Interessen. Den größten Anteil an der Finanzierung der Normierungsarbeit haben die Einnahmen aus dem Verkauf der urheberrechtlich geschützten Standards.[264]

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Mittelbare rechtliche Verbindlichkeit privater Regelwerke

Unmittelbare Rechtsverbindlichkeit erlangen Standards, wenn eine staatliche Norm direkt auf ein privates Regelwerk verweist (z. B. § 37b Abs. 3 BImSchG). Damit wird die private Norm in das staatliche Recht inkorporiert. Hierbei ist zwischen statischen und dynamischen Verweisen zu unterscheiden.[265] Eine weitere Form der Inbezugnahme erfolgt über unbestimmte Rechtsbegriffe. Beispielsweise wird in verschiedenen Normen des Technik- und Anlagenrechts auf die „anerkannten Regeln der Technik“[266] verwiesen (u. a. § 23 EnEV, § 50 Abs. 4 WHG). Um diese zu bestimmen, stellen DIN-Vorschriften eine Rechtserkenntnisquelle dar. Ohne den Rückgriff auf weitere Erkenntnismittel auszuschließen, begründen sie eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sie als Regeln, die unter Beachtung bestimmter verfahrensrechtlicher Vorkehrungen zustande gekommen sind, sicherheitstechnische Festlegungen enthalten, die einer objektiven Kontrolle standhalten.[267] Wo die Standards jedenfalls mittelbar rechtlich relevant werden, stellt das Rechtsstaatsprinzip Anforderungen an deren Zugänglichkeit.[268]

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Legitimationsdefizit privater Standardsetzung

Die praktische Relevanz der privaten Standardsetzung steht in einem auffälligen Kontrast zu ihrer eher prekären Legitimation. Die Festlegung technischer Standards ist keinesfalls eine apolitische Frage, sondern setzt häufig eine Risikoeinschätzung und Risikobewertung voraus, bei der konfligierende Interessen zum Ausgleich gebracht werden.[269] Insofern erscheint es zweifelhaft, wie weit eine Legitimation über den Aspekt der Selbstregulierung und einer grundrechtlich verbürgten Normierungsautonomie[270] trägt, da von der Normierung typischerweise auch unbeteiligte Dritte sowie Allgemeininteressen berührt sind.[271] Damit spricht viel dafür, dem österreichischen Beispiel zu folgen, das in einem Normengesetz zentrale Fragen wie die Anerkennung von Normierungsorganisationen, ihre Aufgaben und Pflichten und die Grundsätze der Normungsarbeit gesetzlich geregelt hat.[272]

3. Weitere Formen nichtstaatlicher Normsetzung

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Situation im Völkerrecht

Auch jenseits der technischen Normung haben sich weitere nichtstaatliche Normen etabliert, die von NGOs oder Privaten gesetzt werden. Die Beispiele für diese sog. soft law[273] und seine Verschränkungen mit dem staatlichen Recht sind sehr vielschichtig und entziehen sich einer generalisierenden Betrachtung.[274] Aus der Perspektive der staatlichen Akteure kann diese Art der Normsetzung aus verschiedenen Gründen attraktiv sein. Diese reichen von der Einbeziehung externen privaten Sachverstandes, über die Akzeptanzsicherung bis zur Auflösung von Blockadehaltungen, die durch das Konsensprinzip im Völkerrecht und politische Widerstände im nationalen Recht bedingt sind. Ein Schwachpunkt dieser Form der Rechtssetzung ist die tendenziell prekäre demokratische Legitimation.[275]

IV. Numerus clausus

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Numerus clausus der Rechtsquellen

Keine Frage einer allgemeinen Rechtsquellenlehre ist, ob innerhalb einer Teilrechtsordnung ein Numerus clausus der Rechtsquellen besteht.[276] Dies muss innerhalb des jeweiligen Rechtskreises beantwortet werden. Jenseits der Frage der (verfassungs- und unions-)rechtlichen Zulässigkeit spricht aus rechtspraktischen Gründen viel dafür, bei der Anerkennung neuartiger Rechtsquellen zurückhaltend zu verfahren. Neuartige oder hybride Rechtsquellen müssen auch neue Rechtsfragen aufwerfen. Die hiermit verbundenen Anpassungsprobleme gilt es gegen die Vorteile größerer Passgenauigkeit neuer Formen der Rechtssetzung abzuwägen. Im Binnenbereich der Verwaltung spricht viel dafür, nicht von einem abschließend definierten Kanon der Rechtsquellen auszugehen. Problematisch ist das Außenverhältnis zum Bürger, weil der rechtsstaatlichen Formenklarheit auch eine machtbegrenzende Funktion zukommt.[277] Prüfstein für die Anerkennung eines neuen Normtypus muss das Legitimationsniveau des Art. 80 Abs. 1 GG sein. Jenseits des Sonderfalles des Sozialversicherungsrechts[278] dürften daher kaum Spielräume für weitere Rechtsquellen verbleiben.

V. Rechtsformenwahl und Regelungsdichte

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Wahl der Rechtsquelle

Aus dem Nebeneinander verschiedener Formen der Rechtserzeugung innerhalb eines Rechtskreises folgt nicht, dass dieses Differenzierungspotenzial auch vollumfänglich ausgeschöpft werden muss. Eine Regelung, die auch auf einer niederen Rangstufe in Kraft gesetzt werden könnte, kann auch auf einer höheren Ebene normiert werden. Wenn neuere verfassungsändernde Gesetze das GG mit Detailfragen überfrachten (z. B. Art. 16a GG, 91e GG), mag dies die Verfassungsfunktion beeinträchtigen, ist aber verfassungsrechtlich irrelevant.[279] In umgekehrter Richtung bleiben bestimmte Regelungen höherrangigen Normebenen vorbehalten oder müssen doch in einer höherrangigen Ebene vorgezeichnet sein. Tertiärrecht (Art. 290, 291 AEUV) kann nur erlassen werden, soweit sich die Unionsorgane hierfür auf eine ausreichende Rechtsgrundlage auf Ebene des Sekundärrechts stützen können. Entsprechendes gilt für das Verhältnis von Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 GG) und Satzungen zum einfachen Gesetzesrecht.

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Regelungsdichte

Eng hiermit verwandt ist die Frage nach der Detaildichte der erlassenen Normen.[280] Hier hat sich die Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes mit dem Bestimmtheitsgrundsatz verschränkt. Im Sicherheitsrecht ist bei heimlichen Grundrechtseingriffen beispielsweise eine normenklare und bereichsspezifische Regelung gefordert,[281] die den Sicherheitsbehörden noch geringe Spielräume für eine Selbstprogrammierung offen lässt. Das als Zugewinn an demokratischer Legitimation zu feiern, greift zu kurz. Die Legitimation, die die parlamentarisch-gubernative Rechtssetzung vermitteln kann, ist keine unerschöpfliche Ressource. Wenn es der parlamentarisch-gubernativen Regelungsebene verwehrt wird, sich auf Grundsatzfragen zu beschränken, droht die Problemlösungskapazität des parlamentarischen Verfahrens überdehnt zu werden. Die Folge sind „parlamentslose“ Parlamentsgesetze,[282] in denen selbst die Fachausschüsse darauf beschränkt bleiben, die mit Detailregelungen überfrachteten Gesetzentwürfe durchzuwinken.

G. Rechtmäßigkeit und Fehlerfolgen

I. Rechtmäßigkeitsanforderungen

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Höherrangiges Recht als Prüfstein der Rechtmäßigkeit

Das Urteil über die Rechtmäßigkeit einer Rechtsnorm ist davon abhängig, ob die Rechtmäßigkeitsanforderungen erfüllt sind, die sich aus den übergeordneten Rechtsebenen ergeben.[283] Üblicherweise wird zwischen formellen und materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen differenziert. Im Grundsatz lässt sich dieses Gliederungsschema auch auf die ungeschriebenen Rechtsquellen übertragen.

1. Formelle Rechtmäßigkeitsanforderungen

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Formelle Rechtmäßigkeit

Bei den formellen Rechtmäßigkeitsanforderungen hat sich eine Dreiteilung durchgesetzt, die nach Kompetenz, Verfahren und Form unterscheidet. Beim Richterrecht als der zentralen ungeschriebenen Rechtsquelle ergeben sich diese Anforderungen aus den geltenden Verfahrensordnungen.

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Kompetenz

Die Gesetzgebungskompetenzen sind ein Spiegel der politischen Aktionsräume der Akteure der Normsetzung. Dies ist in gestuften Rechtsordnungen keine Quantité négligeable. Nur wenn die Kompetenzordnung strikte Beachtung findet, ist sichergestellt, dass politische Verantwortung klar zugerechnet werden kann. Dies umzusetzen, fällt schwer, wenn die Normsetzungsbefugnisse auf den verschiedenen Ebenen nach unterschiedlichen Ordnungsprinzipien verteilt werden. Dies zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit bei den Grundrechten (Art. 1–19 GG, Art. 101–104 GG, GRCh), aber auch den Grundfreiheiten des Unionsrechts. Ihr potenziell universeller (wertbezogener) Geltungsanspruch, der in ihrem Prinzipiencharakter wurzelt, liegt quer zu den eher nach Politikbereichen geordneten Kompetenzkatalogen des AEUV und des GG. Die Folge sind vielfältige Interventionen des Richterrechts in nahezu sämtliche Politikbereiche.[284]

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Verfahren

Verfahrensrechtliche Anforderungen beziehen sich auf den Ablauf des Rechtssetzungsverfahrens und das Zusammenspiel der daran beteiligten Akteure. Inwieweit eine Norm das ihr innewohnende Legitimationspotenzial auszuschöpfen vermag, ist entscheidend vom Faktor Zeit und den in die Rechtssetzung eingehenden personellen wie sachlichen Ressourcen abhängig. Die Akzeptanz einer Norm (förmliches Gesetz, Richterrecht) korreliert im Allgemeinen damit, wie sorgfältig sie ausgearbeitet und begründet worden ist. Beides ist mit häufig übersehenen Opportunitätskosten verbunden, weil auch Ressourcen, die dem „Gesetzgeber“ zur Verfügung stehen, nicht beliebig vermehrt werden können.

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Form

Die Beachtung der Form sichert die Authentizität und die Zugänglichkeit des gesetzten Rechts. Dies ist bei den primären Rechtsquellen in der Regel unproblematisch, obwohl sich auch hier – beim sog. Redaktionsversehen – Fragen stellen können, welche textliche Fassung verbindlich ist.[285] Deutlich schwieriger ist es, das geltende Richterrecht zu bestimmen. Hier leisten Leitsätze eine wichtige Hilfestellung, die aber häufig interpretationsbedürftig sind und dann unter Rückgriff auf die Entscheidungsgründe konkretisiert werden müssen.[286]

2. Materielle Rechtmäßigkeitsanforderungen

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Vereinbarkeit mit Vorgaben des höherrangigen Rechts

Prüfstein der materiellen Rechtmäßigkeit sind die inhaltlichen Vorgaben der höherrangigen Normebenen (Vorrang der Verfassung, Vorrang des Gesetzes, Vorrang des Primärrechts).[287] Diese einzuhalten, wird umso eher zum Problem, je deutungsoffener die Normtexte des höherrangigen Rechts abgefasst sind. Damit steigt auch das Risiko, dass sie richterrechtlich in einer Weise konkretisiert werden, die bei der Normsetzung auf den untergeordneten Ebenen noch nicht berücksichtigt werden konnte. Besondere Schwierigkeiten sind hier mit dem Prinzipiencharakter der rechtlichen Grundordnungsebene verbunden. Konfligierende Prinzipien müssen durch Vorrangregeln im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden.[288] Dies kann nur über eine Präjudizienbindung gelingen, die Pfadabhängigkeiten begründet.[289]

II. Fehlerfolgen

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Nichtigkeitsdogma und Vernichtbarkeit

Die Fehlerfolgenlehre von Rechtsnormen wird durch zwei Grundpositionen abgesteckt.[290] Nach dem Nichtigkeitsdogma ist die rechtswidrige Norm ipso iure unwirksam und vermag keinerlei Rechtswirkungen zu entfalten. Denkbar erscheint es aber auch, von der bloßen Vernichtbarkeit der rechtswidrigen Norm auszugehen. Die Norm bleibt solange wirksam, bis sie durch den Gesetzgeber selbst aufgehoben oder durch Richterspruch vernichtet wird. Diese Auffassung hat den Vorzug, den Widerspruch zwischen rechtlicher Geltung im Außenbereich und soziologischer Geltung sowie der Normgeltung im Binnenbereich zu vermeiden, mit dem sich das Nichtigkeitsdogma konfrontiert sieht. Bis zu dem Zeitpunkt einer autoritativen Normverwerfung (gesetzliche Aufhebung der Norm oder judikative Nichtigkeitserklärung) ist die Norm jedenfalls seitens der Verwaltung mangels Normverwerfungsbefugnis zu beachten. Ebenso handelt auch der Bürger, der von der Nichtigkeit ausgeht, auf eigenes Risiko. Haupteinwand gegen die Vernichtbarkeitsthese ist ihre Abhängigkeit vom Prozessrecht. Wenn der Prozessgesetzgeber über die Voraussetzungen der Normvernichtung disponieren kann, wird ihm auch in materiell-rechtlichen Fragen Rechtssetzungsmacht zugeschrieben.[291]

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Verfassungsrechtliche Vorgaben

Dem deutschen Recht liegt jedenfalls im Ausgangspunkt das Nichtigkeitsdogma zugrunde.[292] Verfassungsrechtlich ist dies nicht zwingend geboten.[293] Gefordert ist allein eine gewichtige Sanktion,[294] sodass es dem Gesetzgeber frei steht, das Nichtigkeitsdogma bei überwiegenden gegenläufigen Belangen zu durchbrechen. Von dieser Option ist insbesondere im Planungsrecht (Grundsatz der Planerhaltung, §§ 214 ff. BauGB),[295] aber auch für kommunalrechtliche Satzungen für Form- und Verfahrensfehler Gebrauch gemacht worden (z. B. § 4 Abs. 4 GemO Bad.-Württ.[296], § 7 Abs. 6 GemO NRW[297]).[298] Darüber hinaus ist mit der richterrechtlich entwickelten Unvereinbarkeitserklärung, die durch §§ 31 Abs. 2 S. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG einfachgesetzlich bestätigt wurde, eine bedeutende Ausnahme anerkannt worden. Dies ist bei Gleichheitsverstößen geboten,[299] aber auch dann, wenn die Nichtigkeitsfolge dem verfassungsmäßigen Rechtszustand noch ferner steht als die bestehende Regelung.[300] Eine bloße Unvereinbarkeitserklärung wird auch bei untergesetzlichen Rechtsvorschriften als zulässig angesehen.[301]

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Vernichtbarkeitsdoktrin

Die Rechtsprechung des EuGH wählt einen anderen Ausgangspunkt, der in der Vernichtbarkeitsdoktrin gründet. Für Rechtsakte der Unionsorgane soll grundsätzlich die Vermutung der Gültigkeit[302] bzw. der „Rechtmäßigkeit“[303] sprechen. Abweichendes gilt für Rechtsakte, die mit einem Fehler behaftet sind, dessen Schwere so offensichtlich ist, dass er von der Unionsrechtsordnung nicht geduldet werden kann. Solche Rechtsakte entfalten keine auch nur vorläufige Rechtswirkung, sondern sind von Anfang an als rechtlich inexistent zu betrachten.[304] Aus Gründen der Rechtssicherheit soll dies aber allein „ganz außergewöhnlichen Fällen vorbehalten“ bleiben.[305] Die Nichtigkeitsklage ist folglich als Gestaltungsklage mit ex tunc Wirkung anzusehen.[306] Die Befugnis, einen Rechtsakt der Union für nichtig zu erklären, steht ausschließlich dem EuGH zu, der damit über ein Normverwerfungsmonopol verfügt.[307]

H. Externe Normwirkungen

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Bindungswirkung von Normen

Die Antwort auf die Frage, inwieweit Normen in der Lage sind, Bindungswirkungen außerhalb ihres eigenen Rechtskreises zu erzeugen, lässt sich auf zwei Grundmuster zurückführen. Diese entstammen ursprünglich der Völkerrechtslehre,[308] lassen sich als Deutungsmuster aber auch auf das Verhältnis anderer Rechtskreise übertragen. Nach dem Monismus werden Völkerrecht und nationales Recht als Teile einer sich überschneidenden Gesamtrechtsordnung gedacht. Dabei kann entweder dem nationalen Recht oder dem Völkerrecht Vorrang zukommen.[309] Demgegenüber geht der auch vom BVerfG vertretene Dualismus von zwei voneinander getrennten Rechtskreisen aus.[310] Die Geltung einer Norm der anderen Rechtsordnung muss dann entweder generell oder im Einzelfall angeordnet werden. Die Öffnung für den anderen Rechtskreis kann auch von einschränkenden Bedingungen abhängig gemacht werden.

I. Monismus

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Einheitsparadigma

Innerhalb der deutschen Rechtsordnung sind mit dem Bundesrecht, dem Landesrecht sowie der kommunalen und funktionalen Selbstverwaltung verschiedene Rechtskreise zu unterscheiden. Ihr Verhältnis zueinander basiert auf dem monistischen Ansatz. Gültige Rechtsnormen des deutschen Rechts sind allgemein und von jedermann zu beachten. Bundesbehörden sind an geltendes Landesrecht gebunden.[311] Dem Landesrecht kommt bundesweite Geltung zu.[312] Eine kommunale Satzung bindet nicht nur die Gemeindebürger, sondern auch Außenstehende. Entsprechendes gilt für die Normen der funktionalen Selbstverwaltung.[313] Monistisch argumentiert auch der EuGH zum Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht. Die Verträge sollen mit ihrem Inkrafttreten eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden ist und ihnen vorgeht.[314]

II. Dualismus

83

Trennungsparadigma

Das Verhältnis zum ausländischen Recht ist durch das völkerrechtliche Territorialitätsprinzip bestimmt. Die Grenzen des eigenen Hoheitsgebiets markieren zugleich die Grenzen der Staatsgewalt.[315] Ausländisches Recht wirkt daher in die deutsche Rechtsordnung nur insoweit ein, als deutsches Recht es für anwendbar erklärt.[316] In der Frage nach dem Verhältnis von Völkerrecht zum nationalen Recht bekennt sich das BVerfG im Grundsatz zum Dualismus[317], [318] und differenziert zwischen den verschiedenen Rechtsquellen des Völkerrechts. Nach Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ipso iure Bestandteil des Bundesrechts. Darüber hinaus bedarf es keines speziellen Transformationsaktes bzw. Vollzugsbefehls. Der Anwendungsbereich der Vorschrift beschränkt sich aber auf das Völkergewohnheitsrecht sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts.[319] Ausgenommen bleibt das praktisch besonders bedeutsame Völkervertragsrecht.[320] Dieses muss im Regelfall im Wege des Art. 59 Abs. 2 GG in die deutsche Rechtsordnung transformiert bzw. für anwendbar erklärt werden. Das Erfordernis eines formellen Bundesgesetzes dient der demokratischen Kontrolle. Die Rangstufe der transformierten bzw. für innerstaatlich anwendbar erklärten völkerrechtlichen Norm entspricht der eines einfachen Bundesgesetzes. Wichtige Konsequenz ist, dass ein sogenannter treaty override, bei dem sich der nationale Gesetzgeber innerstaatlich bewusst über eine wirksame völkerrechtliche Bindung hinwegsetzt, verfassungsrechtlich zulässig bleibt.[321] Ebenfalls auf einer dualistischen Konzeption beruht das Verhältnis des Binnen- zum Außenrecht.[322]