Handbuch des Verwaltungsrechts

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3. Exekutive Rechtssetzung

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Ratio

Bei der exekutiven Rechtssetzung lassen sich wiederum drei Grundtypen unterscheiden, die im Grundgesetz angelegt sind, aber jedenfalls zum Teil auch eine Entsprechung im Unionsrecht finden. Unterscheidungskriterium ist der Grad der Rückbindung an ein Gesetz, das die Verwaltung zur Normsetzung ermächtigt. Damit lassen sich Rechtsverordnungen und Tertiärrecht (a) von Satzungen (b) und Verwaltungsvorschriften (c) unterscheiden.[174] Alle drei Formen dienen der Entlastung der parlamentarisch-gubernativen Rechtssetzung. Diese kann sich auf die Grundentscheidungen beschränken, wohingegen die exekutive Rechtssetzung hieran anknüpfend eine schnelle und sachverständige Regelung von Detailfragen (Rechtsverordnungen, delegierte Rechtsakte[175]) oder die Autonomie und Selbstbestimmung von Selbstverwaltungskörperschaften bzw. Anstalten durch Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten ermöglicht (Satzungen). Im Rahmen der durch das Außenrecht gesetzten Bindungen erlauben Verwaltungsvorschriften eine flexiblere Selbstprogrammierung der Verwaltung, die als Steuerungsressource und Wissensspeicher dient. Inwieweit Verfahrensanforderungen (z. B. Beteiligungsrechte, Begründungspflichten), die gesetzlich vorgesehen, auch verfassungsrechtlich gefordert sind, wird unterschiedlich beurteilt.[176]

a) Rechtsverordnungen, Tertiärrecht

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Rechtsverordnungen

Der stärkste Grad der Rückbindung besteht bei Rechtsverordnungen, deren Zahl die der Gesetze und Satzungen deutlich übersteigt.[177] Zu ihrem Erlass bedarf die Verwaltung einer formell-gesetzlichen Rechtsgrundlage (Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG). Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen im Gesetz bestimmt werden (Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG). Entsprechende Vorschriften finden sich auch im Verfassungsrecht der Länder.[178] Die Rückbindung sichert den Gewaltenteilungsgrundsatz, dient aber auch der demokratischen Legitimation der Rechtsverordnungen.[179]

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Rechtsverordnungen

Auffällig parallel strukturiert ist die Regelung delegierter Rechtsakte auf Ebene des Unionsrechts (Art. 290 AEUV).[180] Demnach kann der Kommission in Gesetzgebungsakten (sog. Basisrechtsakt)[181] die Befugnis übertragen werden, Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen (Art. 290 Abs. 1 S. 1 AEUV). In dem betreffenden Gesetzgebungsakt sind Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festzulegen (Art. 290 Abs. 1 S. 2 AEUV). Neben dem gewaltenteilenden Aspekt erklärt sich die Regelung vor allem aus dem Anliegen, einer Aushöhlung der Befugnisse der Mitgliedstaaten beim Erlass von Sekundärrecht entgegenzutreten.[182]

b) Satzungen

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Legitimation von unten

Deutlich abgeschwächt ist die gesetzliche Rückbindung bei den Satzungen. Im GG wird dieser, gleichwohl allgemein anerkannte Normtyp nicht explizit erwähnt. Verfassungsrechtlich garantiert ist er jedenfalls im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GG), die auch die sog. Satzungsautonomie einschließt.[183] Satzungen sind Rechtsvorschriften, die von einer dem Staat eingeordneten juristischen Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie mit Wirksamkeit für die ihr angehörigen und unterworfenen Personen erlassen werden.[184] Damit wird einerseits der Gesetzgeber entlastet. Andererseits soll die Verleihung der Satzungsautonomie gesellschaftliche Kräfte aktivieren, sie selbst betreffende Angelegenheiten zu regeln. Das verringert den Abstand zum Normgeber, was eine demokratische Legitimation von unten ermöglicht, verbürgt aber auch eine hohe Sachkunde und Passgenauigkeit der erlassenen Normen.[185] Verfassungsrechtlich vergleichsweise klar vorstrukturiert ist die kommunale Satzungsautonomie. Abweichendes gilt für die in ihren Erscheinungsformen sehr heterogene funktionale Selbstverwaltung.[186]

c) Verwaltungsvorschriften

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Gegenstand und praktische Bedeutung

Verwaltungsvorschriften[187] sind abstrakt-generelle Weisungen einer übergeordneten an ihr untergeordnete Verwaltungsstellen, die sich auf die Art und Weise der Aufgabenerfüllung beziehen. Die Zahl sowie die rechtspraktische Bedeutung dieses verwaltungsrechtlichen Binnenrechts ist enorm.[188] Von ihren Übersetzungs- und Konkretisierungsleistungen profitieren aber nicht nur die Verwaltung selbst, sondern ebenso die Bürger, die sich an Verwaltungsvorschriften wie an Gesetzen orientieren.[189] Für den Erlass von Verwaltungsvorschriften kann sich die übergeordnete Stelle auf ihre Organisations- und Geschäftsleitungsgewalt stützen.[190] Einer besonderen Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsvorschriften bedarf es nur dann, wenn eine Bindungswirkung für Amtswalter eines anderen Verwaltungsträgers eintreten soll (siehe etwa Art. 84 Abs. 2 GG). Der Bürger ist zunächst nur reflexhaft betroffen: Schon mit Rücksicht auf die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte ist es weder zulässig, Belastungen unmittelbar auf eine Verwaltungsvorschrift zu stützen noch vermögen Verwaltungsvorschriften allein aus sich heraus Ansprüche gegenüber der Verwaltung zu begründen. Hierzu bedarf es einer außenrechtlichen Wirkungsnorm.[191]

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Einordnung in die Rechtsquellenlehre

Verwaltungsvorschriften nehmen innerhalb der Rechtsquellenlehre eine Sonderstellung ein. Die Normpyramide wird im Binnenrecht quasi auf den Kopf gestellt.[192] Außenrechtlich ist die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift nach allgemeiner Auffassung ein Nullum.[193] Vorbehaltlich der durch § 36 Abs. 2, Abs. 3 BeamtenStG und § 63 Abs. 2, Abs. 3 BBG gesetzten Grenzen[194] bindet die rechtswidrige Verwaltungsvorschrift aber die nachgeordnete Stelle, sodass sie sich gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht und sogar gegenüber der Verfassung durchsetzt. Eine weitere Besonderheit ist ihre relative Bindungswirkung. In besonderen Einzelfällen kann und muss die Behörde von der Verwaltungsvorschrift abweichen.[195] Damit stehen Verwaltungsvorschriften paradigmatisch für den neueren Normtyp in der Rechtsquellenlehre, dem nur eine präsumtive Verbindlichkeit zukommt.[196]

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Typologie und Außenverbindlichkeit

Nach ihrem Gegenstand und mit Blick auf die Rechtswirkungen im Außenrechtsverhältnis lassen sich fünf Kategorien von Verwaltungsvorschriften unterscheiden.[197] Organisationsvorschriften haben die innere Ordnung von Verwaltungsstellen, das Verwaltungsverfahren sowie den Dienstbetrieb zum Gegenstand.[198] Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften enthalten für die Verwaltung verbindliche Weisungen, wie unbestimmte Rechtsbegriffe auszulegen sind. Beiden kommt keine Außenverbindlichkeit zu, weil Verwaltungsvorschriften allein Gegenstand, nicht jedoch Maßstab richterlicher Kontrolle sind.[199] Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften steuern die Rechtsfolgenseite, beispielsweise bei der Verteilung von Subventionen.[200] Über den Umweg des Art. 3 Abs. 1 GG (Selbstbindung der Verwaltung) soll ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften Bindungswirkung zukommen.[201] Vom BVerwG ist mit normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften eine weitere Kategorie anerkannt worden.[202] Wie norminterpretierende Verwaltungsvorschriften beziehen sich diese auf die Auslegung bzw. Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe. Wichtige Anwendungsfälle sind die TA-Luft und die TA-Lärm. Um ihre Außenverbindlichkeit zu begründen, griff das BVerwG ursprünglich auf die Figur des antizipierten Sachverständigengutachtens zurück.[203] Nunmehr geht die Rechtsprechung von einem der Verwaltung gesetzlich eingeräumten Beurteilungsspielraum aus, der durch eine generelle Regelung ausgefüllt wird.[204] Ihre Bindungswirkung steht unter verschiedenen Vorbehalten. Sie müssen den Vorrang des Gesetzes respektierten, dem Erkenntnisstand in Wissenschaft und Technik entsprechen und in einem besonderen, gesetzlich vorgezeichneten Verfahren erlassen worden sein, das eine hohe Sachgerechtigkeit und die Einbindung von Sachverstand verbürgt. Zuletzt werden auch sog. gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften für zulässig gehalten. Mit Rücksicht auf den Vorbehalt des Gesetzes ist dies nur im Bereich der Leistungsverwaltung denkbar, beispielsweise um die Vergabe von Subventionen zu regeln, für die nur ein Titel im Haushaltsplan ausgewiesen ist.[205] Auch hier ist die Selbstbindung der Verwaltung zu beachten. Durch die rechtsstaatliche Einhegung der früher so bezeichneten besonderen Gewaltverhältnisse hat sich die Figur der Sonderverordnungen als „Ableger und Variante“ der Verwaltungsvorschrift überholt.[206] An deren Stelle sind nunmehr die klassischen Rechtsquellen getreten.[207] Rechtsstaatliche Mindestvoraussetzung außenwirksamer Verwaltungsvorschriften ist deren Publizität.[208]

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Kein originäres Rechtssetzungsrecht der Verwaltung

Ein Teil der Literatur will Verwaltungsvorschriften generelle Außenwirksamkeit zusprechen. Hierzu wird mit einem der Exekutive vorbehaltenen Funktionsbereich, der Vollzugskompetenz der Verwaltung sowie dem Anliegen argumentiert, den gekünstelt erscheinenden Umweg über Art. 3 Abs. 1 GG zu vermeiden.[209] Die wohl überwiegende Meinung argumentiert dagegen u. a. überzeugend mit einem Umkehrschluss aus Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG. Das sich hieraus ergebende Erfordernis einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Ermächtigung ist kaum mit einem originären Normsetzungsrecht der Exekutive zu vereinbaren.[210] Um hinreichenden Abstand zur Rechtsverordnung zu wahren, kann der Verwaltungsvorschrift auch nur eine präsumtive Verbindlichkeit zukommen.[211] Zumindest das Potenzial für eine bedeutende Ausweitung der Außenverbindlichkeit von Verwaltungsvorschriften bietet eine jüngere Entscheidung des BVerfG zur richterlichen Kontrolldichte bei außerrechtlichen Fragen, die bislang noch nicht durch Fachkreise und Wissenschaft eindeutig beantwortet sind.[212]

 

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Verwaltungsvorschriften in der EU

Auch auf Unionsebene besteht ein erheblicher Bedarf, den Vollzug des Unionsrechts zu steuern. Im Bereich des direkten Vollzugs ermöglichen dies Mitteilungen und Leitlinien der Kommission.[213] Dass sie nicht im Katalog des Art. 288 AEUV genannt werden, ist unerheblich, weil sie – jenseits einer anderen expliziten primärrechtlichen Verankerung[214] – prinzipiell rechtlich unverbindlich sein sollen. Ähnlich wie Verwaltungsvorschriften im deutschen Recht soll ihnen aber doch eine mittelbare rechtliche Verbindlichkeit zukommen. Begründet wird diese über den Gleichheitssatz sowie den Grundsatz des Vertrauensschutzes.[215] Funktionale Äquivalente zu den deutschen Verwaltungsvorschriften sind seit dem Vertrag von Lissabon im Bereich des indirekten Vollzugs die Durchführungsrechtsakte (Art. 291 AEUV), die an die Stelle des früheren Komitologieverfahrens getreten sind und grundsätzlich von der Kommission erlassen werden (Art. 291 Abs. 2 AEUV).[216] Die Kontrolle der Kommission bei der Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Mitgliedstaaten bestimmt sich nach der neuen Komitologieverordnung (VO (EU) 182/2011)[217], die auf Grundlage des Art. 291 Abs. 3 AEUV erlassen worden ist. Die Durchführungsmaßnahmen müssen im Basisrechtsakt vorgesehen sein. Ihnen kommt dann Außenverbindlichkeit zu.[218] Dies unterscheidet sie von den unverbindlichen Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 288 Abs. 5 AEUV). Nach der Rechtsprechung des EuGH sollen die nationalen Gerichte gleichwohl verpflichtet sein, diese bei der Auslegung zu berücksichtigen.[219]

II. Ungeschriebene Rechtsnormen

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Gewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze, Richterrecht

Weite Teile des geltenden Rechts werden nicht in förmlichen Rechtssetzungsverfahren in Kraft gesetzt. Erscheinungsformen dieses ungeschriebenen Rechts sind das Gewohnheitsrecht, allgemeine Rechtsgrundsätze sowie das Richterrecht. Dass sie keinen Eingang in amtliche Verkündungsblätter finden, macht das ungeschriebene Recht schwer greifbar. Anzutreffen ist es in allen Rechtskreisen. In der Regel begegnet das ungeschriebene Recht den Rechtsunterworfenen in verbindlichen Entscheidungen der Judikative. Dies erklärt, warum sich die Kategorien überschneiden und das Richterrecht vielfach als die zentrale Rechtsquelle des ungeschriebenen Rechts angesehen wird. Die mit dem ungeschriebenen Recht verbundenen Deutungs- und Interpretationsspielräume ermöglichen ihm, sich flexibel an veränderte Umstände anzupassen.[220] Demokratisch ist es vergleichsweise schwach legitimiert.[221] Die Rechtssetzung vollzieht sich dezentral und weitgehend unbeobachtet von der Öffentlichkeit. Der in sie eingehende Sachverstand beruht im Wesentlichen auf Milieukenntnis, was in der Regel hinter dem förmlicher Rechtssetzungsverfahren zurückbleibt.[222] Die Gerichte, die für weite Teile des ungeschriebenen Rechts verantwortlich sind, sind allein Gesetz und Recht unterworfen und – aus guten Gründen – durch die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG, Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh) vor einer direkten Intervention der anderen Gewalten geschützt. Ungeachtet dieser rechtsstaatlichen und demokratischen Schwächen ist das ungeschriebene Recht für das Funktionieren einer Rechtsordnung unentbehrlich. Kein Gesetzgeber ist in der Lage, zukünftige Entwicklungen vorherzusagen.[223] Die große Leistung ungeschriebener Rechtsregeln besteht gerade darin, gleichwohl für relative Rechtssicherheit zu sorgen. Größere legitimatorische Probleme entstehen nur dann, wenn richterliche Entscheidungen in Bereichen getroffen werden, die im politischen System praktisch nicht mehr korrigiert werden können.[224]

1. Gewohnheitsrecht

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Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle des Völkerrechts

Das Gewohnheitsrecht ist in Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut explizit als Rechtsquelle des Völkerrechts anerkannt. In den anderen Rechtskreisen spielt es tendenziell keine große Rolle mehr.[225] Voraussetzung für die Bildung völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts ist nach dem IGH-Statut eine allgemeine, als Recht anerkannte Übung. Dies stimmt mit den allgemeinen Voraussetzungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht überein.[226] Notwendig sind die länger dauernde Übung (longa consuetudo) sowie die Überzeugung der Beteiligten (opinio iuris).[227] Diese Kriterien sind relativ vage. Die relevanten Fragen, auf welchen Personenkreis es ankommt, wie lange eine Übung dauern muss und welche Rechtsfolgen die Nichtbefolgung der Norm hat, werden zwar gestellt, aber nicht wirklich beantwortet.[228] Um in Bereiche vorzustoßen, die der Volksanschauung entzogen sind, wird zum Teil auch die Berufung auf eine opionio juris doctorum für möglich gehalten.[229] Seit jeher ist auch partikulares Gewohnheitsrecht anerkannt,[230] sodass es regional bzw. lokal begrenzt sein kann. Analog zu seiner Entstehung kann Gewohnheitsrecht durch Desuetudo seine Geltung verlieren.[231]

2. Allgemeine Rechtsgrundsätze

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Allgemeine Rechtsgrundsätze im Völker- und Unionsrecht

Sowohl im Völkerrecht wie im Unionsrecht ist die Einordnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle explizit in verbindlichen Normtexten abgesichert. Für den Bereich des Völkerrechts folgt dies aus Art. 38 Abs. 1 lit. b IGH-Statut. Auch das Unionsrecht nimmt auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze Bezug (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 340 Abs. 2, Abs. 3 AEUV). Vor Inkrafttreten des VwVfG bildeten die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine zentrale Rechtsquelle des allgemeinen Verwaltungsrechts.[232] Der einheitliche Begriff darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hinter den allgemeinen Rechtsgrundsätzen aus rechtstheoretischer Perspektive unterschiedliche Normtypen verbergen. Bei den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Verwaltungsrechts, die 1977 durch das VwVfG abgelöst wurden, handelte es sich um subsumtionsfähige Regeln, die jedenfalls zum Teil nach dem Konditionalschema Tatbestand und Rechtsfolge strukturiert waren. Speziell auf primär- und auf verfassungsrechtlicher Ebene kommt den allgemeinen Rechtsgrundsätzen hingegen eher Prinzipiencharakter zu. Sie sind auf eine Konkretisierung angelegt und müssen in der Regel mit gegenläufigen Prinzipien abgewogen werden. Beispiele hierfür sind so abstrakte Prinzipien wie der Grundsatz von Treu und Glauben[233] oder das Verbot des Rechtsmissbrauchs.[234]

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Begründung allgemeiner Rechtsgrundsätze

Die normative Verbindlichkeit der allgemeinen Rechtsgrundsätze unter Hinweis auf Gewohnheitsrecht zu begründen, sieht sich den allgemeinen Einwänden ausgesetzt, die speziell im Verwaltungsrecht gegen die Figur erhoben werden.[235] Methodisch überzeugender sind zwei alternative Ansätze. Allgemeine Rechtsgrundsätze lassen sich häufig aus übergeordneten Verfassungsprinzipien ableiten, die miteinander konfligieren und dann im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden.[236] Diesem deduktiven Ansatz steht ein induktiver Ansatz gegenüber. Hier wird aus verschiedenen Einzelregelungen auf eine allgemeine Regel geschlossen. Anwendungsbeispiele für diesen Ableitungszusammenhang sind im Völkerrecht die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut) sowie die unionalen Grundrechte, soweit sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben (Art. 6 Abs. 3 EUV). In beiden Fällen wird nicht unmittelbar auf nationales Recht zurückgegriffen. Vielmehr dient dieses als Grundlage, um einen völkerrechtlichen bzw. unionalen Rechtssatz zu bilden. Die „fremden“ Rechtsordnungen sind daher keine echten Rechtsquellen, sondern lediglich Rechtserkenntnisquellen. Nicht überzeugend ist es, allgemeine Rechtsgrundsätze unmittelbar aus dem Prinzip der Gerechtigkeit abzuleiten.[237]

3. Richterrecht/Präjudizien

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Richterrecht

Eine weitere Rechtsquelle des ungeschriebenen Rechts ist das Richterrecht.[238] Dessen Anerkennung ist insoweit unproblematisch, als eine Entscheidung nicht vollständig durch andere Rechtsquellen vorgegeben ist. In diesem Rahmen setzt das zur Entscheidung berufene Gericht selbst Recht.[239] Deutlich kritischer ist die Frage, ob eine einmal getroffene Entscheidung auch Wirkungen für Folgeentscheidungen hat bzw. haben darf. Die Rechtsprechungspraxis deutet in diese Richtung. In den Entscheidungsbegründungen nimmt die Auseinandersetzung mit Vorentscheidungen eine prominente Rolle ein.[240] Deren Bestätigung ist die Regel, eine Abweichung eine seltene und dann begründungsbedürftige Ausnahme. So unstrittig diese Beobachtung ist, so ist damit noch nicht die Frage beantwortet, ob dies auch rechtlich geboten ist. Die Argumente in der Debatte sind weitgehend ausgetauscht.[241] Gegen die Bindung spricht, dass gerichtliche Entscheidungen nur inter partes wirken.[242] Wo ein Rückgriff auf Gewohnheitsrecht ausscheidet,[243] wird die normative Verbindlichkeit von Präjudizien unter Hinweis auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes,[244] die Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz[245] oder – was zirkulär anmutet – als Recht im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG begründet.[246] Ähnlich wie Verwaltungsvorschriften kommt dem Richterrecht nur eine präsumtive Verbindlichkeit zu.[247] Es kann im Wege des distinguishing fortentwickelt und im Wege des overruling abgelöst werden.[248] Umstritten ist, inwieweit der Vorrang und der Vorbehalt des Gesetzes der richterlichen Rechtsfortbildung im Bereich der Eingriffsverwaltung[249] Grenzen setzen. Dies ist entscheidend davon abhängig, ob Gesetzesbindung als Bindung an den Normtext (positivistischer Gesetzesbegriff), die ratio legis (teleologischer) oder die hinter den Normtexten stehenden Wertungen betrachtet wird (axiologischer Gesetzesbegriff).[250]

III. Nicht-Recht als Rechtsquelle

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Nicht-Recht als Rechtsquelle des Verwaltungsrechts

Eine wichtige Funktion der Rechtsquellenlehre besteht darin, Recht von außerrechtlichen Sollensgeboten zu unterscheiden.[251] Diese strikte Zweiteilung wird durchbrochen, wenn im Rechtssystem selbst auf außerrechtliche Normen Bezug genommen wird. Dies kann sich aus verschiedenen Gründen anbieten. Hierzu zählen die Einbindung privaten Sachverstandes, die Erhöhung der Akzeptanz und Vollzugsbereitschaft bei den Normadressaten, aber auch die Vermeidung einer unbedingten, strikten Verbindlichkeit zugunsten einer flexibleren situativen Normanwendung.[252]