Handbuch des Verwaltungsrechts

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IV. Verdichtung des Rechts und Zunahme von Normkollisionen

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Europäisierung als Verrechtlichungsschub des nationalen Rechts

Wie vorstehend skizziert wurde, haben sich das Völkerrecht und das Unionsrecht verdichtet. Gleiches gilt für die Ebene des einfachen Gesetzesrechts. Auch hieran hat die Europäisierung ihren Anteil, soweit nationales Recht nicht abgelöst, sondern lediglich harmonisiert worden ist. Mit dem Ausbau der Lehre vom Gesetzesvorbehalt ist die Erhöhung der Normdichte auch durch das BVerfG vorangetrieben worden.[119] Dies zeigt sich in besonderer Weise im Umgang mit dem für eine Informationsgesellschaft zentralen Rohstoff der Daten.[120] Ein Verrechtlichungsschub ist aber auch in der Leistungsverwaltung zu verzeichnen.[121] Gleiches gilt für das Verfahrensrecht, was auf das Konzept des Grundrechtsschutzes durch Verfahren zurückführt.[122]

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Konkordanzmuster zur Auflösung von Normkollisionen

Die Hochzonung von Entscheidungen auf die völkerrechtliche, die unionale und die verfassungsrechtliche Ebene und die Verdichtung der Rechtskreise bedingen eine Zunahme von Normkollisionen. Das geläufige Bild der Normpyramide darf nicht den Blick darauf verstellen, dass hinter den verschiedenen Rechtskreisen unterschiedliche Akteure stehen, die in ihren eigenen Rationalitäten verhaftet sind. Dies hat auch dort, wo die Rangordnung unbestritten ist, Verzögerungen und Anpassungsprobleme zur Folge. Der Rechtsquellenlehre wächst hier die zentrale Aufgabe zu, Konkordanzmuster zu entwickeln, wie Widersprüche zwischen den Normebenen aufgelöst werden können. Das tradierte Muster des Geltungsverlustes hat sich dabei als unterkomplex erwiesen und differenzierteren Lösungen Platz gemacht.[123]

V. Relativierung des Geltungsanspruchs

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Unbedingter Geltungsanspruch der klassischen Rechtsquellen

Mit den Rechtsnormen, die Regeln zum Gegenstand haben und in den klassischen Verfahren förmlicher Rechtserzeugung gesetzt werden, verbindet sich ein strikter Geltungsanspruch (z. B. Gesetz, Rechtsverordnung, delegierte Rechtssetzung gem. Art. 290 AEUV).[124] Dieser kann allein unter Hinweis auf entgegenstehende Vorgaben des höherrangigen Rechts aufgehoben bzw. ausgesetzt werden (Geltungs- oder Anwendungsvorrang).[125] Abweichendes gilt für Prinzipien,[126] aber auch für weitere Rechtsquellen, die erst in jüngerer Zeit in das Zentrum der verwaltungsrechtlichen Rechtsquellenlehre gerückt sind. Das Richterrecht, Verwaltungsvorschriften, aber auch die technische Normung weisen nur eine präsumtive Verbindlichkeit auf.[127] Paradigmatisch hierfür steht das Rechtsregime der Verwaltungsvorschrift. Von ihnen kann und muss abgewichen werden, sofern ein atypischer Fall vorliegt.[128]

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Chancen und Gefahren präsumtiver Verbindlichkeit

Aus einer systemtheoretischen Sicht sind diese relativen Geltungsansprüche ambivalent zu beurteilen.[129] Die dem Recht zugeschriebene Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion wird gefährdet, wenn unbedingte Geltungsansprüche durch bloße Argumentationslastregeln abgelöst werden, die unter Umständen erst langwierig im Instanzenzug außer Streit gestellt werden müssen. Diesem Verlust an klarer Orientierung steht aber ein Zugewinn an Sachgerechtigkeit und die Steigerung der Fähigkeit gegenüber, sich schnell an wandelnde Problemlagen anzupassen. Aus dieser Perspektive erscheinen Prinzipien und andere präsumtive Normen als Chance, Defizite zentraler Steuerung zu überwinden. Die mit präsumtiver Verbindlichkeit verbundenen Spielräume müssen nicht zwangsläufig zum Einfallstor willkürlicher Entscheidungen werden. Richtig verstanden, begründen sie Argumentationslastregeln, die nur dann eine Abweichung gestatten, wenn überzeugende Gegengründe geltend gemacht werden. Prozedural kann dies vor allem durch Begründungserfordernisse gesichert werden.[130]

E. Ordnungsprinzipien

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Systematisierung nach Ordnungsprinzipien

Die Rechtsquellenlehre systematisiert den Rechtsstoff nach bestimmten Ordnungsprinzipien, die in der Rechtsanwendung beständig reproduziert werden. Ihnen kommt axiomatische Bedeutung zu. Sie grundlegend zu negieren, müsste das Rechtssystem selbst in Frage stellen. Dazu gehört, die Rechtsnormen in Rechtskreise einzuordnen (I.). Innerhalb der Rechtskreise sind verschiedene Normebenen zu unterscheiden (II.). Dort, wo Normen der Rechtskreise und Rechtsschichten in Konflikt geraten, muss der Konflikt aufgelöst werden, um die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zu sichern (III.). Dabei spielt das Konzept des Stufenbaus der Rechtsordnung eine wichtige Rolle, wonach sich die Rechtsebenen innerhalb eines Rechtskreises in eine hierarchische Ordnung bringen lassen und die übergeordnete Ebene der unteren Ebene Rechtserzeugungsregeln bereitstellt. Besondere Probleme treten in polyzentrischen Rechtsordnungen auf (IV.). Zu den Ordnungsprinzipien der Rechtsquellenlehre gehört zuletzt ihre normative Verankerung, was die Frage nach den Rechtsquellen der Rechtsquellenlehre aufwirft (V.).

I. Rechtskreise

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Rechtskreise im Verwaltungsrecht

Die im verwaltungsrechtlichen Kontext der Bundesrepublik Deutschland relevanten Rechtskreise sind das Völkerrecht, das Unionsrecht, das Bundesrecht, das Landesrecht, das Kommunalrecht sowie das von Selbstverwaltungskörperschaften, wie beispielsweise den Universitäten, gesetzte Recht (sog. funktionale Selbstverwaltung). Die Rechtskreise sind zu unterscheiden, stehen aber nicht beziehungslos nebeneinander. Das Gegenteil ist der Fall. Im verwaltungsrechtlichen Mehrebenensystem durchdringen sich die Rechtsebenen, da zwischen den Rechtskreisen Interdependenzen und räumliche Überlappungen bestehen.[131] Gleichwohl bleibt die Unterscheidung verschiedener Rechtskreise sinnvoll und geboten. Die Normen eines Rechtskreises stehen in einem gemeinsamen Legitimations- und Rechtserzeugungszusammenhang, der sich deutlich von anderen Rechtskreisen unterscheidet. Die Ausdifferenzierung dieser Rechtskreise ist das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung.[132] Die Absage an ein zentralistisches Einheitsrecht erlaubt es, innerhalb einer größeren territorialen Einheit, für bestimmte Rechts- und Politikbereiche eigenständige (Teil-)Regelungen zu treffen. Damit ist die Ordnungsidee der Rechtskreise Ausdruck eines föderalen, regionalen und gegebenenfalls auch funktional gegliederten Staatsaufbaus. Dies ist nicht nur die Voraussetzung sowie Garant von Autonomie und Selbstbestimmung,[133] mit der sich ein beträchtlicher Freiheitsgewinn verbindet, sondern kann sich auch unter Wettbewerbsaspekten legitimieren.[134] Gegenläufig besteht die Gefahr einer Fragmentierung der Staatsgewalt, in der die Verantwortung für politische Entscheidungen differenziert wird.[135]

II. Rechtsschichten

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Ausdruck der Gewaltenteilung und -verschränkung

Das Nebeneinander und das Zusammenspiel unterschiedlicher Rechtsquellen innerhalb eines Rechtskreises (z. B. Verfassung, Gesetz, Verordnung, Satzung, Gewohnheitsrecht, Richterrecht) sind kein Produkt des Zufalls. Sie sind Ausdruck der Gewaltenteilung und Gewaltenverschränkung innerhalb einer Rechtsordnung und das Ergebnis historischer Erfahrungen und Lernprozesse. Die verschiedenen Normtypen stehen für unterschiedliche Modi der Rechtserzeugung. Unterscheidungskriterien sind ihre Stabilität (z. B. Primärrecht, Sekundärrecht, flexibles Tertiärrecht), ihr Niveau demokratischer Legitimation (z. B. verfassungsänderndes Gesetz, einfaches Gesetz, Rechtsverordnung), der in die Regelung eingehende Sachverstand, die Transparenz der Normsetzung, die Flexibilität sowie die (örtliche) Sachnähe. Damit bietet das Nebeneinander die Chance, Verfahren, Akteure sowie den in die Normsetzung eingehenden Sachverstand der jeweiligen Materie anzupassen. Die Pluralität der Rechtsquellen ist deshalb kein Webfehler der Rechtsordnung, sondern Ausdruck unterschiedlicher Regelungsbedürfnisse.[136] Ungeachtet aller Unterschiede im Detail zeichnen sich rechtskreisübergreifend verschiedene Modi der verwaltungsrechtlichen Rechtserzeugung ab, die allerdings unterschiedlich akzentuiert sind.[137]

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Bestimmung der Rechtsquelle

In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle bereitet die Bestimmung der Rechtsquelle keine besonderen Schwierigkeiten. Die Verfahren der Normsetzung sind bei den primären Rechtsquellen hochgradig formalisiert. Letzter Akt ist die Verkündung in einem Gesetzes- oder Amtsblatt, sodass sich der Rang unschwer bestimmen lässt. Nicht möglich ist dies hingegen bei den ungeschriebenen Rechtsquellen, wie etwa dem Gewohnheitsrecht. Auch diese sind aber einer konkreten Rechtsschicht zuzuordnen. Für die Einordnung ist zu überlegen, auf welcher Ebene eine entsprechende Regelung im Wege eines förmlichen Gesetzgebungsverfahrens getroffen worden wäre.[138] Ungeschriebenes Recht kann sich in allen Rechtskreisen und in allen Rechtsschichten bilden. Brisanz kommt diesem Befund insbesondere für die richterliche Auslegung und Fortbildung des Primärrechts sowie des Verfassungsrechts zu, weil Richterrecht nur durch die Rechtsprechung selbst oder im Wege der Vertrags- bzw. Verfassungsrevision verändert werden kann. Wenn Form und Inhalt einer Regelung auseinanderfallen, ist der entsprechende Rechtsakt rechtswidrig, also wenn beispielsweise anstatt eines Gesetzes unter Missachtung des Vorbehalts des Gesetzes eine Rechtsverordnung erlassen wird[139] oder eine abstrakt-generelle Regelung nicht im Wege einer Rechtsverordnung, sondern durch Allgemeinverfügung getroffen wird.[140] Unterschiedlich beurteilt wird, welche Konsequenz eine Divergenz von Form und Inhalt für den Rechtsschutz hat.[141]

 

III. Widerspruchsfreiheit

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Widerspruchsfreiheit und Einheit der Rechtsordnung

Der Funktion der Rechtsquellenlehre, Normkollisionen aufzulösen, entspricht das Axiom der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Innerhalb eines Rechtskreises kann nicht etwas zugleich durch die eine Rechtsnorm erlaubt und durch die andere Rechtsnorm verboten sein.[142] Das Axiom gilt allerdings nur auf Regel- und nicht auf Prinzipienebene. Wertungswidersprüche in verschiedenen Teilen der Rechtsordnung sind nichts Ungewöhnliches.[143] Das Rechtssystem muss sie aushalten, weil sie Kehrseite der (begrenzten) Autonomie der Regelungsebenen bzw. der Herrschaft auf Zeit sind. Äußerste Grenzen setzt hier allein ein Verbot der Beeinträchtigung von Zielsetzungen anderer Teilrechtsordnungen.[144] Die Rechtsquellenlehre vermeidet Normkollisionen auf Regelebene, indem sie verschiedene Konkordanzmuster ausgebildet hat. Dabei ist zwischen Kollisionen gleichrangiger Normen und Normkollisionen auf unterschiedlichen Ebenen zu differenzieren.[145]

IV. Stufenbau versus Polyzentralität

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Stufenbau der Rechtsordnung

Das wohl wirkmächtigste Konzept, Normkollisionen aufzulösen, führt auf das Konzept des Stufenbaus der Rechtsordnung[146] zurück. Von Hans Kelsen ist dieses wie folgt beschrieben worden: „Die Rechtsordnung ist … nicht ein System von gleichgeordneten, gleichsam nebeneinander stehenden Rechtsnormen, sondern eine Stufenordnung verschiedener Schichten von Rechtsnormen.“[147] Zwischen diesen Stufen besteht ein hierarchischer Zusammenhang. Nur wenn alle Bedingungen der Ermächtigungsnorm erfüllt sind, kann eine Norm der jeweiligen Rechtsordnung zustande gekommen sein.[148] Das Modell erklärt die Unwirksamkeit der niederrangigen Norm damit, dass die Rechtserzeugungsregeln einer höherrangigen Norm missachtet worden sind.[149] Darüber hinaus kann auch eine Kollision gleichrangiger Normen über das Stufenmodell aufgelöst werden. Möglich ist dies unter der Annahme, dass in der jeweiligen Rechtserzeugungsnorm eine (höherrangige) Vorrangregel eingebaut ist.

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Polyzentrische Rechtsordnungen

Nicht weiterzuhelfen vermag das Stufenbild, wenn in polyzentrischen Rechtsordnungen zwischen den konfligierenden Normen kein sie verbindender Rechtserzeugungszusammenhang besteht. Von Polyzentralität ist prima facie im Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht auszugehen. Ob sich Völkerrecht gebildet hat, beurteilt sich nach seinen eigenen Maßstäben und nicht nach denen des nationalen Rechts. Umgekehrt kann das nationale Recht nicht aus dem Völkerrecht abgeleitet werden. Deshalb kann eine Norm in beiden Rechtskreisen unterschiedlich, nämlich einmal als rechtmäßig und einmal als rechtswidrig eingeordnet werden. Vergleichbare Fragen stellen sich auch im Verhältnis von Außenrecht und dem staatlichen Binnenrecht.[150]

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Unionsrecht und deutsches Recht

Das Verhältnis des Unionsrechts zum deutschen Recht lässt sich bruchlos weder in das eine noch in das andere Modell einordnen.[151] Dies gilt sowohl aus Sicht des BVerfG wie auch für die abweichende Position des EuGH. Für das BVerfG steht das Unionsrecht in einem Rechtserzeugungszusammenhang, der im nationalen Recht wurzelt.[152] Zur Ausübung von Hoheitsgewalt in Deutschland sind die Organe der Union daher nur insoweit ermächtigt, als sie die Grenzen einhalten, die durch die deutsche Integrationsermächtigung gesetzt sind (Art. 23 GG). Rechtsakte, die darüber hinausgehen, können in Deutschland keine Rechtswirkungen entfalten.[153] Mit diesen Einschränkungen setzt sich aber das Unionsrecht generell gegenüber dem nationalen Recht durch und entfaltet auch gegenüber Verfassungsrecht Anwendungsvorrang. Damit wird die Normhierarchie legitimatorisch quasi auf den Kopf gestellt. Im Normfall ist Unionsrecht dem nationalem Recht übergeordnet, leitet seine Legalität und Legitimität aber aus dem nationalen Recht ab. Aus Sicht des EuGH kann nationales Recht dagegen nur in dem Rahmen Rechtswirkungen entfalten, den das höherrangige Unionsrecht lässt.[154] Das Unionsrecht stellt damit eine emergente Ordnung dar, die sich von ihrem Entstehungskontext abgelöst hat. Abweichend vom tradierten Stufenmodell besteht zwischen dem Unionsrecht und dem nationalen Recht kein Rechtserzeugungszusammenhang, sodass das Stufenmodell mit polyzentrischen Elementen angereichert wird.

V. Die Rechtsquellen der Rechtsquellenlehre

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Normativer Charakter der Rechtsquellenlehre

Die Rechtsquellenlehre, die über die Anerkennung von Geltungsansprüchen befindet, hat selbst normativen Charakter. Ähnlich wie andere Bereiche der juristischen Methodenlehre[155] ist sie in den verschiedenen Rechtskreisen nur in Teilen kodifiziert (z. B. Art. 288 AEUV, Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV). Art. 31 GG statuiert den Vorrang des Bundes- vor dem Landesrecht. Die sich jenseits der kodifizierten Rechtsquellenregeln eröffnende Lücke wird durch Gewohnheitsrecht bzw. allgemeine Rechtsgrundsätze geschlossen. Auch das Rechtsquellenrecht ist nicht autointerpretativ, sondern darauf angewiesen, richterrechtlich konkretisiert zu werden. Mangels eines gemeinsamen Höchstgerichts ist es daher auch nicht ausgeschlossen, dass Rangfragen von den Höchstgerichten ihres Rechtskreises unterschiedlich beantwortet werden.

F. Rechtskreisübergreifende Typologie der Normerzeugung

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Unterschiedliche Modi der Rechtserzeugung

Bei der Normsetzung lassen sich zwei grundlegend unterschiedliche Modi der Rechtserzeugung unterscheiden.[156] Ein Teil des positiven Rechts wird in streng formalisierten Verfahren der Rechtserzeugung in Kraft gesetzt. Diese basieren auf dem Konzept vom Stufenbau der Rechtsordnung und finden ihren Abschluss mit der Publikation in einem amtlichen Verkündungsblatt. Der andere Teil des positiven Rechts ist das Ergebnis dezentraler Normsetzungsverfahren. Seine verschiedenen Erscheinungsformen sind auf allen Ebenen der Normpyramide anzutreffen. Auch bei den ungeschriebenen Rechtssätzen lassen sich rechtskreisübergreifend erstaunliche Parallelen feststellen, die zum Teil auch noch den völkerrechtlichen Rechtskreis einschließen.

I. Förmliche Rechtssetzung

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Bedeutung des geschriebenen Rechts

In den hier betrachteten Rechtskreisen lassen sich die Verfahren der förmlichen Rechtssetzung auf drei Grundmuster bzw. Grundtypen der Normerzeugung zurückführen, die sich anhand des Konzepts des Stufenbaus der Rechtsordnung in eine Hierarchie bringen lassen. Auf höchster Stufe steht die sog. Grundordnung, die vertragsrechtlich fundiert ist (EUV, AEUV, GRCh, GG, Landesverfassung).[157] Darunter ist eine Ebene parlamentarisch-gubernativer Rechtssetzung (Verordnung, Richtlinie, einfache Bundes- und Landesgesetze) sowie eine Ebene exekutiver Normsetzung (Tertiärrecht, Rechtsverordnung, Satzungen, Verwaltungsvorschriften).[158] Der Erlass von Rechtsnormen in streng formalisierten Verfahren hat den Vorteil, im fixierten amtlich verkündeten Wortlaut einen klar identifizierbaren und zeitlich bestimmten Anknüpfungspunkt zu finden.[159] Dem steht als Nachteil gegenüber, dass unpassendes verschriftlichtes Recht weniger leicht vergessen werden kann.[160] Ein funktionales Äquivalent sind die Verfahren der Rechtsfortbildung, die es erlauben, den Normtext zu überspielen und einen davon abweichenden Norminhalt zu konstruieren.[161]

1. Rechtliche Grundordnung: GG, Länderverfassung, Europäisches Primärrecht

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Rechtliche Grundordnung

Die Grundordnungsebene steht innerhalb eines Rechtskreises an der Spitze der Normenpyramide. Sie zeichnet sich durch ein besonders hohes Maß demokratischer Legitimation sowie ihre erschwerte Abänderbarkeit aus. Die Normsetzung ist an ein besonderes Gesetzgebungsverfahren gebunden, das eine hohes Maß an Akzeptanz verbürgt (Art. 79 GG, Art. 48 AEUV). Abgesichert ist dies durch qualifizierte Mehrheitserfordernisse, zum Teil auch darüber hinausgehende Plebiszite (Art. 79 Abs. 2 GG; Art. 75 Abs. 2 S. 1, 2 BayVerf) sowie auf Ebene des Grundgesetzes einen Verfassungskern, der jenseits des Wegs der Verfassungsablösung durch den pouvoir constituant (Art. 146 GG) an die Vorgaben des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden ist.[162] Normen dieser Regelungsschicht verbürgen daher in besonderem Maße Rechtssicherheit durch Beständigkeit der Normtexte. Die Konfrontation mit der sich verändernden Rechtswirklichkeit bedingt einen spezifischen Normsetzungsstil. Dieser ist in der Regel durch eine besondere Offenheit der Normtexte gekennzeichnet. Damit bleibt Raum, den unveränderlichen Normtext geänderten gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen im Wege der Auslegung oder der Fortbildung des Verfassungsrechts anzupassen.[163] Diese Deutungsoffenheit tritt in eine eigenartige Spannungslage zur Stabilität der Verfassung[164] und weist der die Normtexte konkretisierenden Judikative besondere Verantwortung zu. Eingehegt wird deren Deutungsmacht vor allem durch die Selbstbindung an Präjudizien.[165] Darüber hinaus bleibt nur noch der Appell an judical self-restraint.

2. Parlamentarisch-gubernative Rechtssetzung: Richtlinie, Verordnung, einfaches Gesetz, völkerrechtlicher Vertrag

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Parlamentarisch-gubernative Regelungsebene

Auch die parlamentarisch-gubernative Regelungsebene ist streng formalisiert.[166] Im nationalen Recht sind ihr die einfachen Bundes- und Landesgesetze (Art. 72 ff. GG, Art. 70 Abs. 1 GG), im Unionsrecht die als Gesetzgebungsakte unter Beteiligung des Parlaments erlassenen Richtlinien und Verordnungen (außerhalb des Tertiärrechts) zuzuordnen (Art. 289 Abs. 3, 288 Abs. 2 und 3 AEUV). Die Entscheidung wird durch die Organe getroffen, denen innerhalb des Rechtskreises eine besonders hohe demokratische Legitimation zukommt. Der Entscheidungsprozess zeichnet sich durch eine Einbindung weiterer Akteure aus, die sowohl das exekutive wie das föderale bzw. mitgliedstaatliche Element der Verfassung des Rechtskreises repräsentieren. Dies kann durch Initiativrechte (Art. 76 Abs. 1 Var. 1 und 3 GG)[167] oder sogar Initiativmonopole (Art. 294 Abs. 2 AEUV) geschehen und sich in Mitentscheidungsbefugnissen fortsetzen (Art. 77 Abs. 2–4 GG; Art. 294 Abs. 3–14 AEUV). Damit bietet das Verfahren der Normsetzung eine hohe Gewähr, etwaige Vollzugsschwierigkeiten zu antizipieren.

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Richtlinien

Eine besondere Herausforderung für die Rechtsquellenlehre ist das Rechtsregime der Richtlinie.[168] Anders als die Verordnung, die unmittelbar und allgemein gilt (Art. 288 Abs. 2 AEUV), ist sie auf ein zweistufiges Normsetzungsverfahren angelegt. Verpflichtet sind zunächst allein die Mitgliedstaaten, die Richtlinie bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist in ihr nationales Recht umzusetzen. Dabei sind sie in der Wahl der Mittel frei (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Wenn die Umsetzungsfrist verstrichen ist, kann die Richtlinie aber gleichwohl im Außenverhältnis zum Bürger Wirkungen entfalten. Um dies sicherzustellen, hat der EuGH unterschiedliche Wege eingeschlagen. Hierzu gehört die mit der Entscheidung van Duyn begründete unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist können sich die Bürger unmittelbar auf eine Richtlinie berufen, wenn diese hinreichend klar und unbedingt ist.[169] Dagegen wird eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien abgelehnt, wenn es um staatliche Belastungen geht.[170] Im Einzelnen sehr schwierige Fragen stellen sich im Rahmen der sogenannten horizontalen Drittwirkung.[171] Sofern eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie ausscheidet, können richtlinienwidrige Ergebnisse unter Umständen noch im Wege der richtlinienkonformen Auslegung oder einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung vermieden werden.[172]

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Begründungskultur und Transparenz parlamentarischer Verfahren

Die Begründungskultur, ebenso wie die Transparenz des parlamentarischen Verfahrens zwingen die handelnden Akteure politische Verantwortung zu übernehmen und sich der Kritik einer den Normsetzungsprozess begleitenden Öffentlichkeit zu stellen. Dazu gehören auch Anhörungen von Experten in den vorbereitenden Ausschüssen. Die Einbindung der föderalen/mitgliedstaatlichen Ebene erschöpft sich nicht in der Verbreiterung des exekutivischen Sachverstandes, sondern hat auch ein demokratisches Moment, weil die dieses Element repräsentierenden Organe ihrerseits über eine hohe demokratische Legitimation verfügen. Erkauft sind diese Vorteile durch die relative Schwerfälligkeit des Verfahrens. Den Sachverstand der Ministerialbürokratie durch die externe Beauftragung von Anwaltskanzleien zu ersetzen, die eigenverantwortlich einen vollständigen Gesetzentwurf erarbeiten, begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.[173]