Handbuch des Verwaltungsrechts

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B. Begriffliche Klarstellungen

I. Recht, Rechtsnorm, Rechtssatz

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Recht als Sollensordnung

Das Recht wird durch die Gesamtheit aller geltenden Rechtsnormen im Sinne von Sollensgeboten gebildet.[35] Sollensgebote können abstrakt-generell formuliert oder individuell adressiert sein. Der Gegenstand der Rechtsquellenlehre beschränkt sich üblicherweise auf allgemeinverbindliche Regelungen,[36] „individuelle Rechtsnormen“ (u. a. Verwaltungsakte, Verträge, gerichtliche Urteile) liegen hingegen außerhalb ihres Gegenstandes.[37] Klassisch ist die Begriffsbestimmung von Peter Liver, Rechtsquelle sei die Form, in der Recht als positives Recht in Erscheinung tritt.[38] Manifestiert wird die Rechtsnorm in Rechtssätzen.[39]

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Form und Inhalt der Rechtssätze

Rechtssätze enthalten häufig Rechtsnormen, müssen dies aber nicht. Damit ist bei Rechtssätzen zwischen ihrer Form (z. B. einfaches Bundesgesetz, Richtlinie, Verordnung) und ihrem Inhalt (Rechtsnorm oder sonstiger Hoheitsakt, z. B. Haushaltsgesetz, Planfeststellung durch Gesetz) zu unterscheiden.[40] Geläufig ist die Unterscheidung zwischen Rechtssätzen im materiellen und im formellen Sinne. Rechtssätze, die Rechtsnormen enthalten, sind Rechtssätze im formellen und im materiellen Sinne. Rechtssätze im nur formellen Sinne sind ihrem Inhalt nach keine Rechtsnormen, sondern sonstige Hoheitsakte. Das klassische Beispiel ist das Haushaltsgesetz, das den Haushaltsplan feststellt.[41] Rechtssätze können bereits als vollständige Rechtsnormen formuliert sein. Häufig handelt es sich aber um unvollständige Rechtssätze (Rechtsnormen im weiteren Sinne[42]), beispielsweise um Legaldefinitionen, aus denen sich erst in der Zusammenschau mit anderen Rechtssätzen Rechtsnormen ableiten lassen.

II. Rechtserzeugungs-, Rechtswertungs- und Rechtserkenntnisquellen

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Unschärfe des Rechtsquellenbegriffs

Der Begriff der Rechtsquelle verweist mit der Quellenmetapher auf den Ursprung und die Entstehung des Rechts.[43] Der Begriff ist mehrdeutig und bedarf der Präzisierung.[44] Oftmals erschweren terminologische Unterschiede die Verständigung, ohne dass die verschiedenen Definitionsansätze tatsächlich miteinander inkompatibel sind. Auch noch in jüngerer Zeit wird im verwaltungsrechtlichen Schrifttum regelmäßig auf die bereits 1929 erschienene, grundlegende Untersuchung von Alf Ross zur „Theorie der Rechtsquellen“[45] Bezug genommen. Ross unterscheidet eine kausalwissenschaftliche (bzw. rechtssoziologische), eine ethische und eine spezifisch rechtstheoretische Dimension des Begriffs.[46] Hieran knüpft jedenfalls in der Sache auch eine 1955 publizierte Abhandlung des schweizerischen Zivilisten Peter Liver[47] an, die im verwaltungsrechtlichen Schrifttum viel rezipiert worden ist.[48] Rechtserzeugungsquellen sind die auch außerrechtlichen Faktoren der Rechtsbildung, die die Ursachen der Entstehung einer bestimmten Rechtsordnung bilden. Rechtswertungsquellen sind die Beziehungen, in denen das positive Recht zu absoluten Werten, wie dem der Gerechtigkeit oder der Rechtssicherheit steht. Im Mittelpunkt dieses Beitrags werden nicht die rechtssoziologische und die ethische Perspektive, sondern allein die dritte, rechtstheoretische Perspektive stehen. Liver spricht hier von Rechtserkenntnisquellen. Einer so verstandenen Rechtsquellenlehre kommt nach Liver die Aufgabe zu „festzustellen, wo die Rechtssätze, die zum Bestand des positiven Rechts gehören, zu finden sind.“

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Primäre und sekundäre Rechtsquellen

Im Schrifttum wird dazu zwischen formellen Rechtsquellen (oder Rechtsquellen im engeren Sinne[49]/primären Rechtsquellen[50]) und Rechtsquellen im weiteren Sinne unterschieden. Rechtsquellen im formellen Sinne sind die klassischen Rechtsquellen, wie die Verfassung, die Richtlinie, das einfache Gesetz oder die Rechtsverordnung, die in förmlichen Rechtssetzungsverfahren erlassen werden. Sekundären Rechtsquellen soll eine geringe Verbindlichkeit zukommen. Beispiele hierfür sind Richterrecht, Verwaltungsvorschriften und die private Normsetzung.[51]

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Rechtserkenntnisquellen

Zu den Rechtsquellen im weiteren Sinne zählen Einflussfaktoren, die das objektive Recht prägen können.[52] Als derartige Einflussfaktoren werden die Gerichtspraxis, ausländische Urteile, Modellgesetze, aber auch die Volksanschauung genannt.[53] Anstatt von Rechtsquellen im weiteren Sinne ist hier auch oft von Rechtserkenntnisquellen die Rede,[54] was erkennbar quer zu dem deutlich weiteren Begriffsverständnis steht, das durch Peter Liver geprägt worden ist.[55] Die Normbegründung mittels Rechtserkenntnisquellen spielt im Völker- und Unionsrecht eine wichtige Rolle. Wenn hier auf nationales Recht Bezug genommen wird (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut, Art. 6 Abs. 3 EUV), bedeutet dies nicht, dass nationales Recht unmittelbar zur Rechtsquelle wird. Vielmehr wird im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung eine eigene Norm des Völker- bzw. Unionsrechts aus dem nationalen Rechtskreis abgeleitet.[56]

III. Regeln und Prinzipien

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Prinzipien

In Anlehnung an Ronald Dworkin,[57] dessen Gedanken in Deutschland vor allem von Robert Alexy aufgegriffen und fortentwickelt worden sind, unterscheidet die Rechtstheorie mit Regeln und Prinzipien zwischen zwei Kategorien von Rechtsnormen.[58] Die Unterscheidung ist auch für die Rechtsquellenlehre von Bedeutung. Regeln sowie Prinzipien sind beides Rechtsnormen, weisen aber eine unterschiedliche formale Struktur auf, die sich vor allem im Kollisionsfall zeigt.[59] Prinzipien sind Optimierungsgebote. Sie gebieten, dass „etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maß realisiert wird“.[60] Konflikte zwischen Prinzipien werden im Wege bedingter Vorrangrelationen durch Bildung einer Regel aufgelöst, die angibt, unter welchen Bedingungen das eine Prinzip dem anderen vorgeht.[61] Demgegenüber gliedern sich Regeln in einen Tatbestand und eine Rechtsfolge auf. Regeln können als strikt zu beachtende Festsetzungen entweder erfüllt oder nicht erfüllt sein. Mit Rücksicht auf diese binäre Struktur kann eine Regelkollision nur durch die Aufnahme einer Ausnahmeklausel oder dadurch aufgelöst werden, dass zumindest eine Regel für ungültig erklärt wird.[62] Traditioneller Schwerpunkt der Prinzipienlehre ist die Grundrechtstheorie.[63] Das Prinzipiendenken Alexys hat darüber hinaus aber auch Eingang in viele andere Rechtsgebiete gefunden.[64]

C. Funktionen der Rechtsquellenlehre

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Zentrale Aufgaben der Rechtsquellenlehre

Im Prozess der Rechtsgewinnung leistet die Rechtsquellenlehre drei wichtige Beiträge: Sie zieht eine Trennlinie zu Sollensgeboten außerrechtlicher Provenienz, beispielsweise zur Moral (I.).[65] Sie unterscheidet Rechtskreise und Normebenen, um die für die Geltungsentstehung, den Geltungsverlust sowie die für die Auslegung und Rechtsfortbildung einschlägigen Rechtsnormen zu identifizieren (II.). Zuletzt werden mit ihrer Hilfe Normkollisionen aufgelöst (III.).

I. Identifikation des positiven Rechts und Grenzziehung zum „Nicht-Recht“

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Unterscheidung rechtlicher und außerrechtlicher Normen

Indem die Rechtsquellenlehre die Sollensgebote des geltenden, positiven Rechts identifiziert, zieht sie als Kehrseite eine Grenze zu außerrechtlichen Sollensgeboten.[66] Die Unterscheidung von rechtlichen und außerrechtlichen Normen dient der Rechtssicherheit und ist in rechtsstaatlich-demokratischen Systemen zugleich Garant der Freiheitssicherung sowie der demokratischen Legitimation des Gesetzes.[67] Der Bedeutung der Unterscheidung von rechtlichen und nicht-rechtlichen Sollensgeboten steht nicht entgegen, dass diese in der Rechtspraxis nicht explizit thematisiert wird. Die Trennung rechtlicher und außerrechtlicher Maßstäbe ist kein eigenständiger vorgelagerter Prüfstein in der Rechtsfindung, sondern das Ergebnis einer Negativabgrenzung. Sollensgebote, die nicht einer in der Rechtsordnung anerkannten Rechtsquelle zugeordnet werden können, sind Nicht-Recht. Sie haben bei der Rechtsfindung außer Betracht zu bleiben.

II. Qualifikation der Normen im Schichtenmodell

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Bedeutung der Normqualifikation

Sobald eine Rechtsordnung mehr als nur eine Rechtsquelle kennt, stellt sich die Frage nach der Qualifikation einer Norm. Diese kann aus einer Vielzahl von Gründen von Bedeutung sein. Hierzu gehören die formellen Geltungsbedingungen, beispielsweise die Anforderungen an das Verfahren der Normsetzung einschließlich der Verkündung, materielle Rechtmäßigkeitsanforderungen, die Bedingungen eines Geltungsverlustes, das Rechtsregime der Fehlerfolgen, die Bindungswirkungen einer Norm oder die Rechtsschutzmöglichkeiten. In welche Rechtsschichten sich ein Rechtskreis ausdifferenziert, ist eine Frage, die innerhalb des jeweiligen Rechtskreises zu beantworten ist. Innerhalb der Rechtskreise lassen sich die verschiedenen Rechtsebenen aber auf gemeinsame Grundtypen zurückführen.[68]

III. Auflösung von Normkollisionen

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Normkollisionen

Das Rechtssystem hat die Funktion, Erwartungen auch dann zu stabilisieren, wenn sie enttäuscht werden. Dies verbietet ein Nebeneinander von Normen, die bei der binären Differenzierung zwischen Recht und Unrecht zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen.[69] Auch insoweit leistet die Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien wertvolle Dienste. Auf Regelebene muss eine parallele Geltung sich widersprechender normativer Gebote kategorisch ausgeschlossen werden.[70] Dabei ist zwischen der Kollision von gleichrangigen Normen und Normen unterschiedlicher Normschichten zu unterscheiden.[71] Prinzipienkonflikte werden durch die Bildung bedingter Vorrangrelationen aufgelöst.[72]

 

D. Entwicklungslinien

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Entwicklungstendenzen der Rechtsquellenlehre

Die in den letzten Jahrzehnten zu konstatierenden Veränderungen in der Rechtsquellenlehre sind bedeutend.[73] Ob sie bereits zu einer „Neukonzeption“[74] nötigen oder sich nicht doch weitgehend mit dem herkömmlichen Instrumentarium bewältigen lassen, wird unterschiedlich beantwortet.[75] Zu beachten ist, dass Verschiebungen zwischen den Rechtsebenen immer auch eine institutionelle Bedeutung haben. Wenn eine Rechtsquelle durch eine andere Rechtsquelle ersetzt oder marginalisiert wird, sind damit Machtverschiebungen zwischen den jeweiligen Akteuren der Rechtssetzung verbunden.

I. Entparlamentarisierung der Normsetzung

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Reduzierte Normsetzungsspielräume

Klarer Verlierer ist die tradierte parlamentarische Rechtssetzung auf Ebene des Nationalstaates. Zwar wird weiterhin ein Großteil der Normen des geltenden Rechts im Wege einfachgesetzlicher Normen erlassen. Dieser Befund darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Spielräume der Parlamente zur eigenständigen Politikgestaltung abgenommen haben. Der früher zutreffende Befund, das Gesetz sei ein zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaates,[76] ist deshalb nur formal betrachtet weiterhin richtig. Richtlinien des Unionsrechts müssen in nationales Recht umgesetzt, völkerrechtliche Verträge ratifiziert und die Vorgaben des BVerfG in das einfache Gesetzesrecht übernommen werden. Mit der parlamentarischen Normsetzung sind in vielen Politikbereichen keine substanziellen Entscheidungsbefugnisse mehr verbunden. Die parlamentarische Rechtssetzung droht zwischen den Mühlsteinen der Europäisierung, Internationalisierung und der Konstitutionalisierung zerrieben zu werden.[77] Hinzu treten die wachsenden Einwirkungen privater Akteure auf die parlamentarische Normsetzung. Deren Formen und Verschränkungen können von der privaten Teilhabe an der parlamentarischen Gesetzgebung (z. B. Anhörung von Sachverständigen und Interessenvertretern nach § 70 GOBT), ausgehandelten Gesetzen (z. B. dem sog. Atomkompromiss)[78] bis hin zu dem problematischen Outsourcing der Normtexte reichen, wenn Anwaltskanzleien mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs beauftragt werden.[79]

II. Internationalisierung, Europäisierung, nichtstaatliche Rechtssetzung

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Internationalisierung und Europäisierung der Rechtsquellenlehre

Der Bedeutungsverlust des einfachen Gesetzes ist in weiten Teilen Folge der Globalisierung, die durch die Liberalisierung der Märkte und vielfältige technische Innovationen ausgelöst worden ist. In einer hochgradig vernetzten Weltgesellschaft mutet es anachronistisch an, auf globale Herausforderungen allein nationalstaatliche Antworten geben zu wollen. Die Gubernative hat hierauf mit einer Vertiefung der internationalen Zusammenarbeit reagiert.[80] Das Spektrum der Kooperationsformen ist unüberschaubar. Es reicht von informellen Absichtserklärungen bis hin zur dauerhaften Übertragung der Hoheitsgewalt auf supranationale Einrichtungen (Art. 24 GG), wie dies für die Europäische Union prägend ist (Art. 23 GG). Neben die aus dem Nationalstaat vertrauten Rechtskreise ist damit eine Vielzahl weiterer Rechtsebenen und Rechtsquellen getreten, die für das Verwaltungsrecht von Bedeutung sind. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die nichtstaatliche Rechtssetzung zu richten. Wenn sich der Staat aus der Regulierung des Technikrechts oder auch der Cybersecurity zurückgezogen hat, können damit privater Sachverstand aktiviert sowie Blockaden vergleichsweise unflexibler staatlicher, zwischenstaatlicher und supranationaler Normsetzungsverfahren überwunden werden.[81]

1. Aufwertung des Völkerrechts

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Ausweitung und Verdichtung des Völkerrechts

Aus gutem Grund wird dem Völkerrecht in jüngeren Darstellungen der verwaltungsrechtlichen Rechtsquellenlehre mehr Raum gegeben.[82] In Politikbereichen, in denen die Staaten bislang ohne Rücksicht auf internationale Verpflichtungen agieren konnten, sind nunmehr völkerrechtliche Bindungen zu beachten (u. a. Menschenrechtsschutz, Umweltvölkerrecht, Welthandelsrecht, Investitionsschutzrecht, Flüchtlingsrecht, Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche[83]). Neu ist auch, dass die frühere Mediatisierung des Individuums durch die Staaten relativiert worden ist. Dies gilt insbesondere für die EMRK, deren menschenrechtliche Gewährleistungen zwar deutungsoffen formuliert, aber durch den EGMR richterrechtlich ausbuchstabiert worden sind.[84] Zu den Gewinnern dieser Entwicklung gehört die Gubernative. Die Außenpolitik und damit auch das Aushandeln völkerrechtlicher Verträge bleibt ein Reservat der Bundesregierung.[85] Die parlamentarische Einflussnahme auf die Aushandlung völkerrechtlicher Verträge steht dahinter zurück.[86] Art. 59 Abs. 2 GG stellt den Bundestag und den Bundesrat letztlich vor die Wahl, das von der Bundesregierung ausgehandelte Gesamtpaket anzunehmen oder insgesamt zu verwerfen (§ 82 Abs. 2 GOBT).[87] Ein neuer Normtyp sind gemischte Abkommen, die die EU nur unter Mitwirkung der Parlamente abschließen kann.[88]

2. Unionsrecht als zentrale Rechtsquelle des Verwaltungsrechts

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Unionsrecht als Rechtsquelle des Verwaltungsrechts

Kaum einer Erwähnung bedarf der Bedeutungsgewinn des Unionsrechts.[89] Dieses hat sich in vielen Bereichen zur bestimmenden Rechtsquelle des Verwaltungsrechts entwickelt. Seine ursprünglich völkerrechtlichen Wurzeln hat es schon frühzeitig abgelegt[90] und bindet nicht allein die Mitgliedstaaten der Union, sondern entfaltet unmittelbare Rechtswirkungen in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen.[91] Im Zuge des Europäischen Integrationsprozesses sind die unional geprägten Politikbereiche beständig ausgeweitet worden. Im Vertrag von Maastricht ist neben die wirtschaftliche Integration die zweite (GASP) und dritte Säule (PJZS) getreten. Deren völkerrechtsähnliche Struktur hat der Vertrag von Lissabon weitgehend überwunden.[92] Die in Art. 23 GG n. F. vorgesehenen Maßnahmen, wonach die Bundesregierung in ihren Verhandlungen die nationalen Gesetzgebungsorgane einzubinden und deren Stellungnahmen zu berücksichtigen hat, sind nur von begrenzter Effektivität.[93] Ähnlich wie der Bedeutungsgewinn des Völkerrechts ist die Europäisierung damit zu Lasten der parlamentarisch-gubernativen Rechtssetzung gegangen.

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Überwindung einer lediglich wirtschaftlichen Integration

Auch in den Politikbereichen, in denen die Union über keine eigenen Gesetzgebungskompetenzen verfügt, ist Unionsrecht zu beachten. Schlüsselnormen der sog. negativen Integration sind die Grundfreiheiten und das Beihilfeverbot.[94] Beide Normkomplexe sind – aus rechtstheoretischer Sicht – nicht unmittelbar subsumtionsfähig, sondern tragen Prinzipiencharakter und sind auf eine Konkretisierung angelegt.[95] Dies hat es dem EuGH ermöglicht, in erheblichem Umfang in die Verwaltungsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu intervenieren, was zur Konstitutionalisierung der europäischen Verwaltungsrechtsordnung überleitet.

III. Konstitutionalisierung und Aufwertung Richterrechts

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Einfaches Gesetzesrecht

Ein weiterer Megatrend der Rechtsordnung ist die Konstitutionalisierung.[96] Im innerstaatlichen Kontext beschreibt sie die Überformung des einfachen Gesetzesrechts durch das Verfassungsrecht. Dies hat den Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 1 Abs. 3 GG), die starke Stellung des BVerfG (Art. 93, 100 GG) sowie die Aufladung der Grundrechte durch immer weiter ausgreifende materielle Gehalte zur Voraussetzung. Seit der Lüth-Entscheidung versteht das BVerfG die Grundrechte nicht allein als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte, sondern als Ausprägung einer objektiven Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Teilbereiche der Rechtsordnung gelten soll.[97] Die weiteren neben die klassische Abwehrfunktion getretenen Grundrechtsdimensionen[98] ermöglichen es, eine Vielzahl von ehemals allein politisch zu verantwortenden Entscheidungen als Verfassungsfragen zu reformulieren.[99] In der Rechtsprechung des BVerfG hat die Gegenbewegung, die politische Gestaltungsspielräume gegenüber sich verdichtenden Vorgaben der Karlsruher Judikatur zu verteidigen sucht,[100] bislang kaum Widerhall gefunden. Die Verlustliste der verfassungsrechtlichen Überformung des einfachen Gesetzesrechts ist lang. Auf ihr sind der Gestaltungsspielraum der parlamentarischen Rechtssetzungsorgane,[101] ebenso aber auch der Eigenstand der Fachgerichtsbarkeit,[102] der Föderalismus sowie insgesamt die Lern- und Anpassungsfähigkeit des Rechtssystems[103] zu verzeichnen.

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Unionsrecht

Vergleichsweise weniger geläufig ist der Begriff der Konstitutionalisierung im Kontext des Unionsrechts,[104] vertrauter dagegen der Streit, ob die Verträge der Europäischen Union adäquat als Verfassungsrecht der EU bezeichnet werden können.[105] Gerade die jüngeren Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH zur Grundrechtecharta geben Anlass, den Verfassungsbegriff auf das primäre Unionsrecht auszudehnen.[106] Die Vorrangigkeit des Unionsrechts[107] ebenso wie die Rolle des EuGH als sein Garant[108] sind schon lange selbstverständlich geworden. Neu ist aber die Aufladung des Primärrechts mit materiellen Gehalten, die nicht mehr allein der Integration dienen, sondern dieser sogar im Wege stehen können.[109] Diese Entscheidungen entziehen sich dem Deutungsmuster des EuGH als „Motor der Integration“,[110] das aus seiner früheren Rechtsprechung etabliert ist. Wenn das Primärrecht gegen den Unionsgesetzgeber selbst in Stellung gebracht wird, versteht sich der EuGH als Grundrechtsgericht, das den Wert und den Eigenstand der Grundrechte betont und die hiervon betroffenen Politikbereiche dem politischen Diskurs entzieht.[111] Damit stellen sich im Verhältnis des EuGH zu den rechtssetzenden Organen der Union Fragen, die aus der nationalen Konstitutionalisierungsdebatte vertraut sind. Die stärkere Akzentuierung der Grundrechtecharta hat das Potenzial, die ohnehin prekäre Stellung des Europäischen Parlaments nachhaltig zu schwächen. Dass das BVerfG in seiner jüngeren Rechtsprechung die Grundrechtecharta im Rahmen der Verfassungsbeschwerde als Prüfungsmaßstab heranzieht,[112] macht die Dinge nicht einfacher.[113]

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Völkerrecht

Kontrovers beurteilt wird, inwieweit sich das Paradigma der Konstitutionalisierung auch als Beschreibungs- und Deutungsmuster für die jüngere Völkerrechtsentwicklung anbietet.[114] Die Frage kann nur bejaht werden, wenn der Begriff der Bedeutungselemente entkleidet wird, die im europäischen und innerstaatlichen Kontext seinen besonderen Erklärungswert ausmachen. So fehlt es gegenwärtig ungeachtet der Existenz von ius cogens und erga omnes Normen an einer klaren Hierarchie der völkerrechtlichen Rechtsquellen,[115] ebenso wie an einem umfassenden gerichtsförmigen Modus der Streitbeilegung und institutionalisierten Durchsetzungsmechanismen.[116] Unverkennbar ist gleichwohl, dass sich in einzelnen Teilbereichen des Völkerrechts Entwicklungen vollzogen haben, die zumindest als Vorboten einer sich erst in weiter Zukunft abzeichnenden Konstitutionalisierung gedeutet werden können. Ein besonderes Augenmerk ist hier auf die WTO als zentraler Eckpfeiler der Weltwirtschaftsordnung zu richten.[117]

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Aufwertung des Richterrechts

Ungeachtet der Machtverschiebungen, die innerhalb der Judikative mit der Konstitutionalisierung verbunden sind,[118] hat das durch die Fachgerichtsbarkeit gesetzte Richterrecht im Verhältnis zum einfachen Gesetzesrecht an Boden gewonnen. In einer sich dynamisch entwickelnden, hochgradig ökonomisierten und digitalisierten Lebenswelt muss es dem Gesetzgeber schwerfallen, mit den immer kürzer werdenden Innovationszyklen Schritt zu halten. Das hat eine Aufwertung des Richterrechts zur Folge, das die Rechtsfragen beantworten muss, die der einfache Gesetzgeber nicht vorhersehen konnte oder auch nicht regeln wollte.