Handbuch des Verwaltungsrechts

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D. Deutsche Verwaltung in der Europäischen Integration

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Gemeinschaftsrecht, Wiedervereinigung, Einheitliche Europäische Akte

Es wurde bereits erwähnt, dass erst um 1990 der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft deutlich geworden ist, dass die Europäische Integration nicht nur Spezial- und Randmaterien des Wirtschaftsverwaltungs- und Ausländerrechts betrifft, sondern Auswirkungen auf die deutsche Verwaltung und Verwaltungsrechtsgesetzgebung insgesamt haben kann:[223] Zunächst hatte die Wiedervereinigung den Umfang des sich bis dahin entwickelten acquis communautaire für den deutschen Gesetzgeber und die deutsche Verwaltung sichtbar gemacht.[224] Zudem ermöglichte die Einheitliche Europäischen Akte von 1986 die Sekundärrechtssetzungstätigkeit der Gemeinschaften auf Bereiche zu erstrecken, die bisher allenfalls in Zusammenhang mit den Grundfreiheiten (und nur in den Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug) als vom Gemeinschaftsrecht umfasst angesehen worden waren. Schon aufgrund der RL 85/337/EWG[225] über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten war zudem für die sich in den 1970er und 1980er Jahren etablierte und einflussreiche deutsche „Umweltrechtszene“ erkennbar geworden, dass das neue „Umweltgemeinschaftsrecht“ durchaus quer zur deutschen Umweltgesetzgebung liegen konnte.[226]

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Sekundärrechtliche Umgestaltungen des Verwaltungsrechts seit 1990

Verstärkt wurde die Bewusstwerdung des Einflusses des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Verwaltungsrecht durch die Entwicklungen in der europäischen Wettbewerbspolitik, die Bereiche der klassischen Daseinsvorsorge auf der kommunalen Ebene erreichte. Viele Kommunalvertreter sahen hierin eine Überforderung, welche die kommunale Selbstverwaltung in Frage stellte.[227] Hinzu trat die RL 89/665/EWG[228] zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge mit dem Zwang, effektiven Bieterschutz im Vergaberecht einzuführen. Dies widersprach der deutschen Vergaberechtstradition und wurde vor allem als Überformalisierung des Vergaberechts verstanden[229] – die aufgrund des damals noch herrschenden Verständnisses der Art. 1 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG auch nicht als verfassungsrechtlich geboten angesehen wurde.[230] Mit Befremden ist auch der Regelungsgegenstand der Richtlinie 90/313/EWG[231] über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt zur Kenntnis genommen worden, die die (Bundes-)Politik (unabhängig von der Aufarbeitung des DDR-Unrechts)[232], zu einem Bruch mit der nationalen Tradition der geheimen Verwaltung zwang.[233] Mit der Vergemeinschaftung des Ausländer-, Asyl-, Flüchtlings- und Migrations(folge)rechts durch den Vertrag von Amsterdam (1997) als Bestandteil des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (heute Art. 67 ff. AEUV) wurde zudem und zunehmend etwas dem Regelungszugriff des deutschen Gesetzgebers und der deutschen Politik entzogen, was oft als Kernbereich nationaler Souveränität verstanden wird.[234] Schließlich sind die RL 2006/123/EG[235] über die Dienstleistungen im Binnenmarkt und die RL 2005/36/EG[236] über die Anerkennung von Berufsqualifikationen zu nennen, die erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Bereich des Gewerberechts und des Gewerbenebenrechts haben.[237]

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Zunehmende Bedeutung des Unionsrechts in der Verwaltungspraxis

Seit den 1990er Jahren wurde damit immer deutlicher, dass das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht nicht (nur) einige Fachverwaltungen wie die Kartellbehörden oder Spezialgebiete wie das Landwirtschaftsrecht oder das Ausländerrecht betrifft,[238] sondern letztlich alle wichtigen „Referenzgebiete“ des besonderen Verwaltungsrechts erfasst. Das Gemeinschafts- bzw. Unionssekundärrecht kommt aber mit zunehmender Funktionsfähigkeit der 1998 in Betrieb genommenen EUR-Lex-Datenbank[239] auch immer mehr tatsächlich in der Praxis an: EUR-Lex machte das Unionsrechtsekundärrecht für viele deutsche Rechtsanwender erstmals mit zumutbarem Aufwand in einer Weise recherchierbar, die seine tatsächliche gerichtliche und außergerichtliche Geltendmachung ermöglicht. Zugleich wird betont, dass deutsche Behörden schon aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG an Unionsrecht gebunden sind.[240] Dies alles hat zur Frage der Rolle der deutschen Verwaltung in der Europäischen Integration geführt.[241] Zugleich stellt sich zunehmend die Kernfrage, ob und in welchem Umfang der Anwendung und Auslegung von Unionsrecht durch den deutschen Rechtsanwender eigentlich dieselben Rechtsanwendungsroutinen zugrunde gelegt werden können wie der Anwendung von nationalem Recht.[242]

I. Diskussionen um die Rolle der deutschen Verwaltung in der Europäischen Integration

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Fremdbestimmtes Verwaltungsrecht und Abwehrhaltung

In den 1990er Jahren war die Europäisierungsdebatte im Verwaltungsrecht vor allem von einer weitgehend ablehnenden Haltung der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber dem „Übergriff“ der Europäischen Gemeinschaften in das nationale Verwaltungsrecht (und damit auf die deutsche Verwaltungstätigkeit) geprägt.[243] Dies wird durch das berühmt gewordene Diktum von Jürgen Salzwedel von einer „besatzungsrechtsähnlichen Intervention [der Luxemburger Richter] in gewachsene Normstrukturen des nationalen Rechts“[244] veranschaulicht. Dieses ist natürlich besonders überzeichnet, aber dennoch für die damalige Wahrnehmung der Europäisierung durchaus charakteristisch. Die damalige Verwaltungsrechtswissenschaft ging i. d. R. von einem Gegensatz zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht aus und verstand das deutsche Recht als „Opfer der Europäisierung“.[245] Dies gab der Frustration der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft über einen Verlust der Deutungshoheit über in Deutschland anwendbares Verwaltungsrecht Ausdruck.

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Eins-zu-Eins-Umsetzung und Spillover-Effekte

Auf der politischen Ebene spielt sich bis heute Ähnliches in den Bereichen ab, in denen das politische Ziel eines umzusetzenden Unionsrechtsakts die für die Umsetzung politisch Verantwortlichen sowie die primär hiervon betroffenen Behörden, Unternehmen und Verbände und nicht zuletzt auch die auf eine bestimmte Rechtsmaterie spezialisierten und besonders „ausgewiesenen“ Anwälte, Richter und Hochschullehrer (mehrheitlich) nicht überzeugt. In diesen Fällen wird dann oft eine „1:1-Umsetzung“ des Unionsrechts gewählt, um den „Schaden“ für das überkommene Rechtssystem durch „systemsprengende“ unionsrechtlich gebotene Rechtsänderungen möglichst gering zu halten und „Spillover-Effekte“ zu vermeiden.[246] Diese „1:1-Umsetzung“ soll dann ganz bewusst die deutschen Umsetzungsgesetze als nicht verallgemeinerungs- oder gar analogiefähige Fremdkörper im Rechtssystem erscheinen lassen. Es wird allenfalls eine nur gerade noch unionsrechtskonforme Lösung angestrebt. Dies birgt das Risiko erheblicher Umsetzungsdefizite und Umsetzungsschwierigkeiten.[247] Die Leidensgeschichte des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes[248] wirkt insoweit leider nach wie vor nicht hinreichend abschreckend.

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„Vollzug des Unionsrechts“ als irreführender Schlüsselbegriff

Zu Missverständnissen trägt zudem bei, dass vom „indirekten Vollzug“ des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen gesprochen wird. Dies weckt falsche Assoziationen mit dem deutschen Exekutivföderalismusmodell der Art. 83 ff. GG. Tatsächlich sind mit der Situation der Art. 83 ff. GG vergleichbare Fälle, in denen das Unionsrecht nationalen Behörden konkrete Aufgaben zuweist, die sie auf Grundlage unionsrechtlicher Vorschriften (oder nationaler Umsetzungsgesetze) auch im Verhältnis zum Bürger zu erfüllen haben („echter Vollzug“), eher selten.[249] Im Regelfall haben nationale Behörden beim Vollzug nationalen Rechts unionsrechtliche Vorgaben (nur) zu beachten (sog. respektierender Vollzug).[250] Das Unionsrecht setzt hier den mitgliedstaatlichen Behörden Grenzen. Es regelt nicht, „ob“ bestimmte Verwaltungsaufgaben wahrgenommen werden, sondern „nur“ (mehr oder weniger weitgehend), wie sie zu erfüllen sind, wenn sie von den Mitgliedstaaten wahrgenommen werden. Diese Konstellation liegt selbst im Vergaberecht,[251] im Datenschutzrecht[252] oder im Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung[253] vor. Bei geteilter Mittelverwaltung (vgl. Art. 62 ff. VO [EU/EURATOM] 2018/1048 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union[254]) oder auch beim EU-Beihilferecht (Art. 107 ff. AEUV) liegen zudem Formen des indirekten Vollzugs des Unionsrechts vor, die auf der Grenze zwischen „echtem“ und „respektierendem“ Vollzug liegen.[255]

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Unionsrecht als „Kodifikationsbrecher“

Machte das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht somit bereits schon dadurch auf sich aufmerksam, dass seine querschnittsartigen Regelungen von immer mehr Behörden in immer mehr Zusammenhängen zu beachten (bzw. „respektierend zu vollziehen“) waren, so wurde ein weiterer „Europäisierungsdiskussionsschub“ im Verwaltungsrecht durch einzelne Entscheidungen des EuGH eingeleitet, die Auswirkungen im Anwendungsbereich der VwGO und des VwVfG hatten: Konkret ging es etwa um die Frage, inwieweit deutsche Behörden nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO verpflichtet sein können, die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegenüber Maßnahmen anzuordnen, die der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht dienten.[256] Vor allem aber ging es natürlich um die – durch die „Alcan-Saga“[257] zu „dem“ Europäisierungsthema[258] gewordene – Frage der „Verdrängung“ der Vertrauensschutztatbestände der § 48 Abs. 2 und 4 VwVfG im Fall beihilferechtswidrig gewährter Subventionen. In beiden Fällen wurde letztlich aus dem Umstand, dass hier ungeschriebenes (Rechtsprechungs-)Recht des EuGH den nationalen Kodifikationen vorgehen sollte, geschlossen, dass sich das Unionsrecht als „Kodifikationsbrecher“ erweise.[259] Dies ist nicht falsch, misst aber dem Umstand zu wenig Gewicht bei, dass es sich in den meisten Fällen dieser Art um eine Reaktion des EuGH auf unzureichende deutsche „Ausführungsgesetzgebung“ zu unionsrechtlichem Fachrecht handelte[260]: Es ging nicht um eine flächendeckende Umgestaltung des deutschen Rechts und darum, deutsche rechtsstaatliche Grundsätze auf dem Altar eines unionsrechtlichen effet utile zu opfern (z. B. durch Abschaffung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO[261] oder Nichtanwendung der deutschen Vertrauensschutzbestimmungen des § 48 VwVfG bei Fällen mit Unionsrechtsbezug[262]). Es ging vielmehr um Situationen, in denen der deutsche Gesetzgeber seiner aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgenden Pflicht nicht nachgekommen ist, zum Zwecke der Durchsetzung fachrechtlicher unionsrechtlicher Vorgaben in bestimmten Bereichen Abweichungen von allgemeinen Grundsätzen durch fachrechtliche Sondervorschriften einzuführen (die der deutsche Gesetzgeber ganz selbstverständlich eingeführt hätte und verfassungskonform hätte einführen können, wenn dies zur effektiven Umsetzung deutschen Fachrechts notwendig gewesen wäre).[263]

 

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„Gemeinschafts- und Unionsverwaltungsrecht“ als irreführendes Konzept

Dies ist zunächst nicht gesehen worden, sondern es wurden derartige Einwirkungen des Gemeinschafts- und Unionsrechts unter den Oberbegriff des „Gemeinschaftsverwaltungsrechts“[264] bzw. „Unionsverwaltungsrechts“[265] zusammengefasst.[266] Hierdurch entstand der Eindruck eines kodifizierbaren in sich abgeschlossenen „Regelungskomplexes“, dessen Regelungen aufeinander abgestimmt sind und einheitliche Grundsätze für das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht beim Vollzug des Unionsrechts aufstellen.[267] Tatsächlich ging es bei der hier in Bezug genommenen EuGH-Rechtsprechung jedoch um die Frage, wie die mitgliedstaatlichen Behörden dazu angehalten werden können, Unionsrecht auch dann entsprechend Art. 4 Abs. 3 EUV durchzusetzen, wenn das nationale Verwaltungsorganisations-, Verwaltungsverfahrens- oder Verwaltungsprozessrecht eine solche Durchsetzung nicht zu erlauben scheint. Zu Recht wird sie daher auch als Ausdruck eines „Durchsetzungsrechts“ bezeichnet, das letztlich nur aus Anlass von Einzelfällen entsteht und bei dem sich Verallgemeinerungen i. d. R. verbieten.[268] Es gibt daher keinen abgeschlossenen Kanon dieses Durchsetzungsrechts, so wie es auch keinen allgemeinen selbstzweckhaften „effet utile“ des Unionsrechts gibt. Es gibt nur Vorgaben, wie einzelne Unionspolitiken auch von den nationalen Behörden auf Grundlage des nationalen Rechts effektiv durchzusetzen sind. Inhalt und Reichweite dieses Durchsetzungsrechts hängen deshalb sowohl von der nationalen Rechtsordnung ab, die „europäisiert“ wird,[269] als auch vom fachrechtlichen Kontext, in dem eine „europäisierte“ Verwaltungsentscheidung angesiedelt ist. Die Auswirkungen des Durchsetzungsrechts lassen sich deshalb nicht immer vorhersehen,[270] allenfalls beispielhaft aufzählen,[271] und können auf Durchsetzungshindernisse reagieren, die sich aus der nationalen Verwaltungsorganisation, dem nationalen Verwaltungsverfahrensrecht, dem Fehlerfolgenrecht der nationalen Handlungsformenlehre sowie dem Verwaltungsprozess- und Staatshaftungsrecht ergeben. Das Durchsetzungsrecht findet seine Grenze in den bei der Durchsetzung des Unionsrechts von der Union und den Mitgliedstaaten zu beachtenden Unionsgrundrechten (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh). Diese stellen (heute) rechtsverbindlich sicher, dass sowohl das Recht der EU-Eigenverwaltung wie das EU-Durchsetzungsrecht denselben Wertentscheidungen Rechnung trägt.[272]

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Verwirklichung von Unionspolitiken durch deutsche Behörden

All dies lässt sich kaum sinnvoll verarbeiten, wenn eine „mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie“ als „Gegenpol einer voranschreitenden Europäisierung der nationalen Rechtssysteme“ begriffen wird.[273] In derartigen Beschreibungen setzt sich die Abwehrhaltung der 1990er Jahre[274] fort. Die Rolle der nationalen – und damit auch der deutschen – Behörden im europäischen Integrationsprozess ist vielmehr ähnlich wie die des nationalen Gesetzgebers und der nationalen Gerichte zu definieren: Sie sind nach Art. 4 Abs. 3 EUV zur Verwirklichung der im Unionsrecht konkretisierten Unionspolitiken (unter Beachtung der sich aus der GRCh ergebenden Grenzen) verpflichtet. Für die Rolle der deutschen Verwaltung in der Europäischen Integration und das Thema „Europäisierung des Verwaltungsrechts“ sind daher weniger die Veränderung des deutschen Verwaltungsrechts aufgrund unionsrechtlicher Impulse und das Hinzutreten neuer Rechtsquellen europäischen Ursprungs bedeutsam als vielmehr die Auswirkungen, die sich daraus ergeben, dass in immer mehr Bereichen immer sichtbarer die von bestimmten Behörden wahrzunehmenden Aufgaben und die Art und Weise ihrer Erfüllung unionsrechtlich (insbesondere durch unionsrechtliches Fachrecht) determiniert werden.[275] Dies bedeutet eine Indienstnahme der nationalen Verwaltung (aber auch des nationalen Verwaltungsrechts) durch die Union zu Erfüllung ihrer Zwecke. Dadurch schwinden die Möglichkeiten der nationalen Politik und Gesetzgebung, für „ihre“ Verwaltung selbst Verwaltungsagenden zu definieren und über die von den nationalen Verwaltungen einzusetzenden Zeit- und Personalressourcen zu bestimmen. Gerade dies erklärt die teilweise heftigen Abwehrreaktionen. Eine solche Abwehrhaltung nutzt aber zu wenig die Chancen der Mitgestaltung der Europäischen Integration durch die deutsche Politik und Verwaltung und die Chancen der Weiterentwicklung des deutschen Verwaltungsrechts zu einem wichtigen Bestandteil des „Europäischen Verwaltungsrechtsverbunds“.[276]

II. Anwendung des Unionsrechts und deutsches Verwaltungsrechtsverständnis

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Unionsrecht und nationale Rechtsanwendungsroutinen

Immer deutlicher wird auch, dass zahlreiche Probleme bei der Auslegung, Anwendung und Umsetzung des Unionsrechts darauf beruhen, dass die Reichweite und Bindungswirkungen der unionsrechtlichen Vorgaben vom nationalen Rechtsanwender über- oder unterschätzt werden und deshalb entweder unionsrechtliche Sanktionen drohen[277] oder Möglichkeiten nationaler Politikgestaltung wegen Unterschätzung der Reichweite der den Mitgliedstaaten vom Unionsrecht belassenen Spielräume vergeben werden.[278] So entscheidet der EuGH (anders als die deutschen Gerichte) i. d. R. ausschließlich über die in dem konkreten Verfahren aufgeworfenen Fragen, sodass die Begründungselemente seiner Entscheidungen i. d. R. keinen fallübergreifenden Informationsanspruch haben.[279] Ihnen sollten daher nicht vorschnell verallgemeinerungsfähige Grundsätze entnommen werden, wie dies gerade in Deutschland oft geschieht.[280] Problematisch ist jedoch vor allem, wenn der nationale Rechtsanwender die ihm vertrauten nationalen Rechtsanwendungsroutinen (also das in seiner Ausbildung und Berufspraxis erworbene, oft nur implizite Wissen, wie in seinem Mitgliedstaat Gesetzestexte, Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftliche Texte zu lesen, zu verstehen und zu schreiben sind), unbesehen auch der Auslegung und Anwendung von Unionsrechtsakten (Verordnungen, Richtlinien) zugrunde legt. Deutsche Rechtsanwender neigen etwa typischerweise dazu, auch unionsrechtliche Vorschriften in Tatbestand und Rechtsfolge zu zerlegen und davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber jedes Wort eines Unionsrechtsakts bewusst und gezielt gewählt habe, um „punktgenau“ festzulegen, welche Sachverhalte von der jeweiligen Vorschrift erfasst werden sollen und welche nicht.[281] Hiervon ausgehend wird dann unter die einzelnen Tatbestandselemente des Unionsrechtsakts „subsumiert“, was auf der Grundidee beruht, dass Tatsachen und Rechtsfragen deutlich voneinander getrennt werden können. Dies alles erfolgt vor dem Hintergrund des „Ideals der einzig richtigen Entscheidung“ (genauer: Ideal der Existenz einer einzig richtigen Antwort auf eine konkrete Rechtsfrage), das in Deutschland der täglichen „Rechtsarbeit“ zumeist selbstverständlich – ungeachtet der hierzu existierenden rechtstheoretischen Diskussion – zugrunde gelegt wird.[282] Werden diese deutschen Rechtsanwendungsroutinen auf die Auslegung und Anwendung von Unionsrechtsakten angewandt, kann diese zu sehr kleinteiligen, am Wortlaut des jeweiligen Rechtsakts verhafteten Argumentationsweisen führen. Diese können nicht immer von Rechtsanwendern aus anderen Mitgliedstaaten nachvollzogen werden, weil dort ein ganz anderes Verständnis von den Funktionen und Steuerungswirkungen des Rechts insbesondere gegenüber der Verwaltung herrscht.

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Multiple Rechtsanwendungsroutinen in der Union?

Damit ist angesprochen, wie problematisch es sein kann, an das Unionsrecht mit denselben methodischen Instrumenten, Anwendungsroutinen und Prämissen heranzugehen, wie sie aus dem jeweiligen nationalen Recht bekannt sind.[283] Diese sind nicht allgemeingültig. Tatsächlich bestehen in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche „Methodenkulturen“[284] als implizites Wissen, das Grundlage der täglichen Rechtsarbeit ist. Dies ist auch durch unterschiedliche Ausbildungsziele der Juristenausbildung[285] und den unterschiedlichen Stellenwert der „Rechtsausbildung“ bei Führungskräften der Verwaltung bedingt. Dies wiederum ist Ausdruck unterschiedlicher Verständnisse von den Aufgaben und Funktionen des Rechts im Allgemeinen und des Verwaltungsrechts im Besonderen, des Verhältnisses und der Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit insbesondere in Bezug auf die Definition von Staats- und Verwaltungsaufgaben und die bei ihrer Erfüllung zu beachtenden Bindungen. Die sich hieraus ergebenden Unterschiede im (Verwaltungs-)Rechtsdenken zwischen den Mitgliedstaaten der Union sind erheblich.[286] Dies wirkt sich auch auf das Verständnis der Intensität der Bindungs- und Steuerungswirkung des Gesetzes gegenüber dem Verwaltungshandeln aus und schlägt gerade deshalb auf die täglichen Rechtsanwendungsroutinen durch.[287] Daraus folgt das bekannte Phänomen, dass derselbe Text von Rechtsanwendern unterschiedlicher Herkunft aufgrund unterschiedlicher Rechtsanwendungsroutinen unterschiedlich ausgelegt und auch seine Bindungswirkung für den Bürger, die Verwaltung und die Gerichte unterschiedlich bestimmt werden wird.

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Fehlen unionsweit einheitlicher Rechtsanwendungsroutinen?

Zur Gewährleistung eines unionsweit einheitlichen Verständnisses des Unionsrechts müssten deshalb die nationalen Gerichte und Behörden „an sich“ der Arbeit mit dem Unionsrecht unionsweit einheitliche Anwendungs- und Auslegungsroutinen zugrunde legen, die sich von denjenigen, die die Mitgliedstaaten jeweils für den Umgang mit ihrem eigenen Recht entwickelt haben, unterscheiden würden. Solche unionsweit einheitlichen Anwendungs- und Auslegungsroutinen haben sich jedoch bisher nicht herausgebildet. Die Vermittlung unionsrechtlicher Kenntnisse findet im Rahmen der nationalen Juristenaus- und -weiterbildungsprogramme statt, sodass auch insoweit das Unionsrecht in den nationalen Verständniskontext eingebunden ist. Demensprechend ist selbst die Europarechtswissenschaft bisher eher „national“ organisiert und es baut sich ein unionsweiter wissenschaftlicher Diskurs über Fragen des Unionsrechts (insbesondere auch darüber, wie einzelne konkrete Sekundärrechtsakte zu verstehen sind) erst langsam auf.[288] Angesichts dessen kann die rechtsprechende Tätigkeit des EuGH für sich allein die nationalen Routinen im Umgang mit dem Unionsrecht nicht durchdringen. Umgekehrt bedeutet das Fehlen unionsweit einheitlicher Anwendungs- und Auslegungsroutinen für Unionsrechtsakte aber auch, dass die an dem Rechtssetzungsverfahren auf Unionsebene beteiligten Akteure sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben werden, welchen Anwendungsbereich und welche Bindungswirkung die neu geschaffenen Regelungen haben werden. Dies impliziert eine wesentlich größere Bandbreite „vertretbarer“ Auslegungsmöglichkeiten von Unionsrechtsakten als dies vor dem Hintergrund deutscher Rechtsanwendungsroutinen von einem deutschen Rechtsanwender erwartet wird. Entscheidend für den Umgang mit dem Unionsrecht ist daher für die primär im Umgang mit dem nationalen Recht ausgebildeten Juristen „die Phantasie anzunehmen, daß alles anders sein kann“.[289] Dazu gehört für deutsche Juristen auch die Erkenntnis, dass die letztlich auf dem „Ideal der einzig richtigen Entscheidung“ und der Trennung von Tatbestand und Rechtsfolge beruhenden deutschen Rechtsanwendungsroutinen in den wohl meisten Mitgliedstaaten der Rechtsarbeit nicht (oder jedenfalls nicht in dieser Rigidität) zugrunde gelegt werden.

 

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Gebundene Verwaltung im Unionsrecht?

Wichtige Auswirkungen hat dies etwa für die Frage, ob und inwieweit das Unionsrecht etwas kennt, das dem deutschen Konzept der gebundenen Verwaltung entspricht. Dieses deutsche Konzept der gebundenen Verwaltung beruht eben auf der Annahme, der Gesetzgeber könne der Verwaltung „punktgenau“ vorschreiben, wie sie in einem konkreten Sachverhalt zu entscheiden habe, da das Gesetz – soweit die Bindung reicht – für jeden denkbaren Sachverhalt nur eine einzig rechtlich „richtige“ Entscheidung vorgebe.[290] Eine solche Intensität der Gesetzesbindung der Verwaltung ist nur vorstellbar, wenn und soweit sich die verwaltungsgerichtliche Kontrolle nicht darauf beschränkt, die „Vertretbarkeit“ einer behördlichen Entscheidung zu überprüfen, sondern geprüft wird, ob die Behörde so entschieden hat, wie das Gericht – die behördliche Entscheidung nachvollziehend[291] – entschieden hätte, das Gericht also seine Auffassung von der richtigen Sachentscheidung an die Stelle der Auffassung der Behörde setzen kann. Erst eine solche Kontrolle ermöglicht die Vermutung, dass die gesetzlichen Vorgaben die Verwaltung tatsächlich entsprechend intensiv binden, weil sie eine Kongruenz zwischen behördlicher Rechtsbindung und gerichtlicher Kontrolle herstellt.[292] Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft Verwaltung vor allem als Gesetzesvollzug versteht. Dem Verwaltungsrechtsdenken der meisten Mitgliedstaaten entspricht demgegenüber die Annahme, dass sich der Gesetzgeber darauf beschränken sollte, im Gesetz Politikziele zu formulieren, deren Umsetzung durch die Verwaltung vor allem als Managementaufgabe verstanden wird. Dann werden – durchaus weite – Entscheidungsspielräume der Verwaltung die Regel sein.[293] Dies erlaubt die Vermutung, dass der Unionsgesetzgeber bei der Formulierung einer Verpflichtung der Verwaltung oft einen (gerichtlich nicht überprüfbaren) Entscheidungsspielraum der Verwaltung „mitdenkt“, auch wenn dies im Wortlaut des anzuwendenden Unionsrechtsakts bei „deutscher Lesart“ nicht zum Ausdruck kommt.[294] Umgekehrt kann ein Unionsrechtsakt (indirekt) nicht-gebundene Verwaltung voraussetzen, auch wenn er nach deutscher Lesart nur Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthält, ohne materiell-rechtliche Anforderungen an das Entscheidungsergebnis aufzustellen.[295]

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Notwendigkeit eines Generalumbaus des deutschen Verwaltungsrechts?

Dies wirft die Frage auf, ob und in welchem Umfang die in den 1950er und 1960er Jahren aus dem Grundgesetz hergeleiteten Vorgaben für eine umfassende Vergesetzlichung der Verwaltungstätigkeit unter strenger Gerichtskontrolle[296] eine tragfähige Grundlage für die Mitwirkung der deutschen Verwaltung in der Europäischen Union bilden können. Allgemeine Forderungen nach genereller Rücknahme der Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte oder nach noch weitergehenden Totalumbauten des deutschen Verwaltungsrechtssystems sind hier jedoch nicht indiziert. Zutreffend ist, dass hochspezialisierte (Bundes-)Fachbehörden (z. B. Bundesnetzagentur, Bundeskartellamt, Bundesanstalt für Finanzdienstleitungen, Umweltbundesamt als zuständige Behörde für den Emmissionshandel, Zollverwaltung) aufgrund unionsrechtlicher Vorschriften in europäische Behördennetzwerke eingebunden und insoweit aus der nationalen „Verwaltungshierarchie“ herausgelöst werden, insbesondere, wenn Unionsrecht den Mitgliedstaaten zusätzlich vorschreibt, dass sie diesen Behörden weitgehende Unabhängigkeit gewähren sollen.[297] Dies führt dazu, dass diese Behörden vielfach als Europäische Verbundverwaltung agieren (sich insoweit auch von den nationalen Rechtsanwendungsroutinen und Vorverständnissen lösen) und daher tatsächlich vom deutschen Verwaltungsrecht und dem ihm zugrunde liegenden Rechtsverständnis nur noch eingeschränkt erreicht werden.[298] Die Masse der deutschen Behörden (insbesondere auf Landes- und Kommunalebene) ist jedoch mit dem Unionsrecht vornehmlich in Form des „respektierenden Vollzugs“ befasst.[299] Hiermit korrespondiert, dass – mit Ausnahme des Umweltrechts – auch die „klassischen“ Referenzgebiete des besonderen Verwaltungsrechts[300] sowie das Schul- und Hochschulrecht, das sonstige Kulturverwaltungsrecht oder auch das Sozial- und Einkommenssteuerrecht nach wie vor nur in abgrenzbaren Bereichen (insbesondere wenn es um grenzüberschreitende Bezüge und Wettbewerbsneutralität geht) unionsrechtlich beeinflusst sind. Das Unionsrecht zwingt daher nicht dazu, die von Rechtsprechung, Literatur und Gesetzgebung gemeinsam erarbeiteten Grundlagen des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtsdogmatik der Bundesrepublik Deutschland flächendeckend in Frage zu stellen und umzubauen. Tatsächlich sind und konnten etwa die oben dargestellten Verwaltungs(rechts)reformen der 1990er, 2000er und 2010er Jahre (mit Ausnahme der Genehmigungsverfahrensbeschleunigungsmaßnahmen[301] und des Ausbaus des Regulierungsrechts[302]) weitgehend unabhängig von unionsrechtlichen Impulsen durchgeführt werden. Dies belegt, dass der Raum für nationale Politik- und Rechtsgestaltung im Verwaltungsrecht wesentlich größer ist als viele Untersuchungen zur Europäisierung des Verwaltungsrechts suggerieren.