Handbuch des Verwaltungsrechts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

IV. Neues Steuerungsmodell, Verwaltungsorganisations- und Dienstrechtsreformen

22

„Neues Steuerungsmodell“

Während sich die Reformleitbilder des „schlanken Staates“ bzw. des „aktivierenden Staates“[139] eher auf die Makroebene der Staatsaufgaben und damit auf das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft (und vor allem die Wirtschaft) bezogen, war das aus dem „New Public Management“ hervorgegangene, maßgeblich von der KGSt Anfang der 1990er Jahre entwickelte „Neue Steuerungsmodell“ letztlich auf die Mikroebene der internen Verwaltungsorganisation und Abläufe ausgerichtet, die nach betriebswirtschaftlichen Managementmodellen (re-)organisiert werden sollten.[140] Gunnar Folke Schuppert nennt als „Kernelemente“ des „Neuen Steuerungsmodells“:


- den Aufbau einer unternehmensähnlichen, dezentralen Führungs- und Organisationsstruktur;
- eine Outputsteuerung durch Schaffung von Instrumenten zur Steuerung der Verwaltung von der Leistungsseite her, insbesondere auch mittels eines Kontraktmanagements;
-

Dass das „Neue Steuerungsmodell“ in den 1990er Jahren einen so großen Einfluss auf die Verwaltungsreformpolitik gerade in den alten Bundesländern erringen konnte, dürfte vor allem mit den hiermit verbundenen Hoffnungen nach Einsparungen zum Ausgleich der durch die Wiedervereinigung bedingten erheblichen Transferleistungen von West nach Ost verbunden gewesen sein.[142] Rechtlich erforderte das „Neue Steuerungsmodell“ vor allem eine Flexibilisierung des Haushaltsrechts und des öffentlichen Dienstrechts. Gerade dies ermöglichte der Politik, Verwaltungsorganisations- und Dienstrechtsreformen als einzelne Schritte zur Umsetzung des (positiv besetzten) „Neuen Steuerungsmodells“ auszuflaggen.[143]

23

Umsetzungsdefizite

Mittlerweile hat das „Neue Steuerungsmodell“ an „Strahlkraft“ verloren:[144] Die grundlegende Finanznot von Staat und Kommunen lässt sich nicht durch reine Organisationsverbesserungen beheben.[145] Auch standen die Reformkosten nicht immer im rechten Verhältnis zum praktischen Nutzen der Maßnahmen.[146] Teilweise konnten die Reformen nach dem Konzept des „Neuen Steuerungsmodells“ nicht greifen, weil dieses aus einem Bündel aufeinander abgestimmter Maßnahmen bestehende Modell[147] auf Landes- und Kommunalebene nur teilweise verwirklicht und in unterschiedlichen Stadien (auch aus Kostengründen) „stecken“ geblieben ist. Die vom „Neuen Steuerungsmodell“ angestrebte „Outputsteuerung“ setzte aber vor allem die Messung der Outputs in Form von Kennzahlen voraus, ohne dass bisher für alle Verwaltungsleistungen uneingeschränkt brauchbare Messinstrumente gefunden sind.[148]

24

Fernwirkungen des „Neuen Steuerungsmodells“

Wenn auch das „Neue Steuerungsmodell“ als Gesamtkonzept heute geringere Leitfunktionen für Verwaltungsreformen entfaltet, so ist doch seine „Rhetorik“ nach wie vor wirkmächtig: So scheint das Konzept der „Eingliederungsvereinbarung“ nach dem Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003[149] (Hartz IV Reform) durchaus von der Idee des „Kontraktmanagements“ geprägt.[150] Darüber hinaus wurden mit den Begriffen der „Effizienzsteigerung“ und „Kundenorientierung“ als Synonyme für „Bürgernähe“ positiv konnotierte Begriffe in den Verwaltungsreformdiskurs zur Bezeichnung von Maßnahmen eingeführt, die vor allem Einsparungen durch Einschränkungen von Verwaltungsleistungen und Personalabbau ermöglichen sollen. Dies betrifft etwa die bereits erwähnten Maßnahmen zum Abbau des Widerspruchsverfahrens,[151] aber auch die Tendenz in einigen Flächenstaaten, Fachbehörden aufzulösen und deren Aufgaben als „Gesamtpaket“ auf die „bürgernäheren“ Kommunen zu übertragen – was generell zu einer Reduktion der für die betroffene Aufgabe zur Verfügung gestellten Ressourcen, zur „Kommunalpolitisierung“ der Aufgabe und teilweise auch zu einem „kalten Aufgabenabbau“ führt.[152] Auch die durch die Föderalismusreform 2006[153] ermöglichten Dienstrechtsreformen sind sowohl vom „Wettbewerbsgedanken“ (nun auch zwischen den Ländern durch weitgehende Reföderalisierung) und Bemühungen zur Einführung leistungsorientierter Besoldungs- und Aufstiegssysteme geprägt.[154] Ähnlich wie beim „Neuen Steuerungsmodell“ hat sich aber noch nicht erwiesen, dass diese Reformen den öffentlichen Dienst sowohl effizienter wie attraktiver gemacht hätten. Die „Leistungsmessung“ ist (auch)[155] hier die „Achillesferse“ der Dienstrechtsreformen.[156] Zudem hat sich gezeigt, dass die Einführung leistungsorientierter Besoldungselemente zur Verdeckung einer Besoldungskürzung dienen kann, wenn die tatsächliche Nicht-Auskehrung der Leistungszulagen als Sparmaßnahme entdeckt wird.[157]

V. Fallmanagement statt Massenverwaltung? – Vom Fördern und Fordern

25

Eingliederungsvereinbarung als „Kontraktmanagement“?

Es ist schon darauf hingewiesen worden,[158] dass gewisse Elemente des „Neuen Steuerungsmodells“ in die großen Reformen der Arbeitsmarktregulierung der rot-grünen Koalition (14. und 15. Wahlperiode) eingeflossen sind (ohne dass gesagt werden kann, diese Reformen seien eine Umsetzung des „Neuen Steuerungsmodells“).[159] So übertrug das Gesetz zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 10.12.2001 (Job-AQTIV-Gesetz)[160] mit der Eingliederungsvereinbarung (§ 6 und § 35 Abs. 4 SGB III i. d. F. des Job-AQTIV-Gesetzes [heute § 37 SGB III]) das „Kontraktmanagement“ erstmals auf die Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Bürger. Als Handlungsform des „Förderns und Forderns“ ist die Eingliederungsvereinbarung jedoch vor allem durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003[161] (sog. Hartz IV Reform) in das Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende implementiert worden (§ 2 Abs. 1, § 15 SGB II). Kennzeichnend für die Eingliederungsvereinbarung ist, dass sowohl die Pflichten des Leistungsberechtigten als auch die ihm zustehenden Förderleistungen individuell – bezogen auf seinen konkreten Fall und sein „Potenzial“ zur Eingliederung/Vermittlung in den Arbeitsmarkt – auf Grundlage eines Verhandlungsprozesses vereinbart werden sollen.[162] Das „Potenzial“ des Leistungsberechtigten (die für die Eingliederung/Vermittlung erforderlichen persönlichen Merkmale, berufliche Fähigkeiten und die Eignung) ist dabei zunächst in einer „Potenzialanalyse“ zu ermitteln (vgl. heute § 15 Abs. 1 SGB II,[163] § 37 Abs. 1 SGB III), deren Ergebnisse dann Grundlage für die Eingliederungsvereinbarung sein sollen; kommt eine Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, kann sie durch Verwaltungsakt ersetzt werden (§ 15 Abs. 3 S. 3 SGB II, § 37 Abs. 3 S. 4 SGB III). Die Nichteinhaltung der sich aus der Eingliederungsvereinbarung ergebenden Pflichten des Leistungsberechtigten kann im Recht der Grundsicherung nach den §§ 31 ff. SGB II,[164] im Recht der Arbeitsförderung indirekt nach § 159 Abs. 1 Nr. 3 SGB III sanktioniert werden.[165] Das SGB II sieht zudem vor, dass für jeden Leistungsberechtigten und die mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft Lebenden ein „persönlicher Ansprechpartner“ in der Agentur für Arbeit zu benennen ist (§ 14 Abs. 3 SGB). Dieser Fallmanager[166] soll den Leistungsberechtigten individuell entsprechend seinem „Potenzial“ fördern – und fordern.

26

Vom Sachbearbeiter zum Fallmanager?

Der „persönliche Ansprechpartner“ soll damit nicht mehr nur als schlichter „Sachbearbeiter“ das Vorliegen der gesetzlich fixierten Tatbestandsmerkmale von Leistungsansprüchen prüfen. Er hat – jedenfalls in „schweren“ Fällen – die Funktion eines Sozialarbeiters zu übernehmen, der mittels „Potenzialanalyse“ und Eingliederungsvereinbarungsentwurf einen „Hilfeplan“ erstellt.[167] Richtiges Fallmanagement stellt damit nicht nur höchste Anforderungen an die kommunikativen und psychologischen Fähigkeiten des Fallmanagers, sondern setzt auch eine hervorragende Kenntnis der Arbeitsmarktlage im Allgemeinen und den Branchen voraus, für die der einzugliedernde Hilfebedürftige Einstellungspotenzial aufweist.[168] Nur dieses durch individuelle Betreuung ermöglichte passgenaue Zuschneiden der zu erbringenden Sozialleistungen (das nicht mit Paternalismus zu verwechseln ist)[169] vermag auch die Abkehr von dem in der grundlegenden Entscheidung des BVerwG vom 24.6.1954[170] zu dem aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip hergeleiteten Grundsatz zu rechtfertigen, dass dort, wo das Gesetz dem Sozialleistungsträger Pflichten auferlegt, der Bedürftige entsprechend durchsetzbare Rechte hat,[171] in diesen Fällen also gebundene Verwaltung die Regel, Leistungen nach Ermessen die Ausnahme sein sollten.[172]

27

Eingliederungsvereinbarung als Farce?

Im Grundsicherungsrecht zeigten sich jedoch erhebliche Mängel bei der Umsetzung des Fallmanagements durch die Jobcenter: Diese beschränkten sich teilweise darauf, Personen als Fallmanager einzusetzen, die vorher als Sachbearbeiter bei der Leistungsberechnung tätig waren. Zudem war die Falllast für die einzelnen Fallmanager zu hoch, um tatsächlich von einem „Ansprechpartner“ sprechen zu können.[173] Tatsächlich legt das SGB II weder eine Höchst-Falllast noch ein Anforderungsprofil für persönliche Ansprechpartner verbindlich fest.[174] Dementsprechend wurde das Verhandlungsmodell der Eingliederungsvereinbarung als Farce wahrgenommen, wenn den Leistungsberechtigten eine Standard-Eingliederungsvereinbarung ohne Rücksicht auf ihren individuellen Fall – unter Androhung der in § 31 Abs. 1 Nr. 1 lit. a SGB II ursprünglich vorgesehenen (seit 2011 abgeschafften) Sanktion für den Nichtabschluss einer Eingliederungsvereinbarung[175] – zur Unterzeichnung vorgelegt wurde, was offenbar häufiger vorkam.[176] Dies prägte das Bild von der Eingliederungsvereinbarung als „Popanz der Vertragstheoretiker“.[177] Das BSG hat jedoch schließlich zutreffend auf diese Missstände in der Form reagiert, dass es die Eingliederungsvereinbarung als verbindlichen öffentlich-rechtlichen Vertrag i. S. d. §§ 53 ff. SGB X qualifiziert[178] und Vereinbarungen, die nicht individuell auf die Bedürfnisse des Leistungsberechtigten zugeschnitten waren, wegen „Formenmissbrauchs“ nach § 58 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 134 BGB für nichtig (und damit ihre Missachtung durch den Leistungspflichtigen für nicht sanktionierbar) erachtete.[179] Insgesamt dürfte es der Rechtsprechung damit (mittlerweile) gelungen sein, durch „Ernstnehmen“ des Regelungsmodells der Eingliederungsvereinbarung angemessen auf Fehlentwicklungen bei der Umsetzung des SGB II zu reagieren.[180] Ob und in welchem Umfang dieses hoch anspruchsvolle System tatsächlich und nachhaltig in der täglichen Verwaltungspraxis der Jobcenter mit Leben gefüllt wird, müsste jedoch genauer untersucht werden.

 

VI. Von abgegrenzten sachlichen Zuständigkeiten zum behördlichen „Multitasking“

28

Querschnittsaufgaben und Vorbildfunktionen

Seit den 1990er Jahren werden immer mehr allgemeine Förderaufgaben, Diskriminierungsverbote und Staatsziele in das Grundgesetz[181] und die Landesverfassungen[182] aufgenommen. Hiermit geht einher, dass auch die Gesetzgebung die Zuständigkeit zur Erfüllung bestimmter Verwaltungsaufgaben vermehrt in der Form ausgestaltet, dass sie als von allen Behörden (neben und „bei Gelegenheit“ der Erfüllung ihrer „eigentlichen“ Aufgaben) als Querschnittsaufgaben wahrzunehmen sind. Dies betrifft etwa die besonderen Pflichten der öffentlichen Hand


-
- bei der der Förderung der Teilhabe behinderter Menschen (vgl. § 165 S. 3 SGB IX und die besonderen Barrierefreiheitsverpflichtungen der Behindertengleichstellungsgesetze des Bundes und der Länder);
- nach den besonderen Regelungen für „öffentliche Stellen“ beim Datenschutz;
-
-
- zur Berücksichtigung „vergabefremder Zwecke“ bei der Auftragsvergabe, wie etwa die Pflicht zur Berücksichtigung mittelständischer Interessen nach § 97 Abs. 4 GWB oder Pflichten zur Beachtung bestimmter sozialer und ökologischer Standards nach einigen Landesvergabegesetzen oder nach den klassischen „Kunst am Bau“ Verpflichtungen;
- in Zusammenhang mit den zunehmend komplizierter werdenden Regelungen zur Steuerpflicht der öffentlichen Hand und den hiermit verbundenen besonderen Rechnungslegungspflichten;
-

Die Aufzählung zeigt, dass der Unterschied zwischen diesen hier als Querschnittsaufgaben bezeichneten Aufgaben und der allen Behörden obliegenden Zuständigkeit zur internen Organisation und zur Personal-, Beschaffungs- und Sachmittelverwaltung darin liegt, dass die Erfüllung der Querschnittsaufgaben nicht Voraussetzung für die sachgemäße Erfüllung der der jeweiligen Behörde „eigentlich“ zugewiesenen Aufgaben ist. Mit den Querschnittsaufgaben werden andere Politikziele (Gleichstellung, Klimaschutz, Transparenz, Datenschutz etc.) verfolgt. Diese Politikziele sollen dadurch erreicht werden, dass alle Behörden sie unabhängig von den ihnen konkret zugewiesenen „eigentlichen“ Aufgaben aktiv (unter Einsatz ihrer Ressourcen) verwirklichen sollen.

29

Querschnittsaufgaben und Behördenausstattung

Mit derartigen Regelungen wird von dem Grundsatz abgewichen, dass der Gesetzgeber Verwaltungsaufgaben den Behörden zuweisen soll, die nach ihrer personellen, sachlichen und finanziellen Ausstattung zur Erledigung dieser Aufgabe am besten in der Lage sind.[190] Die unbestritten bestehende Pflicht zur Wahrnehmung der Querschnittsaufgabe besteht damit unabhängig davon, ob der Behörde die zu ihrer Erfüllung benötigten sachlichen, finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Dies ist nicht selbstverständlich, da die Behördenausstattung i. d. R. allein an den „eigentlichen“ Verwaltungsaufgaben der jeweiligen Behörden ausgerichtet wird.[191] Der (in Zusammenhang mit dem Informationsfreiheitsrecht) gegebene Hinweis des BVerwG, in derartigen Fällen gehöre (auch) die Querschnittsaufgabe „zum originären Aufgabengebiet der Behörde“, diese müsse Vorsorge dafür treffen, dass mit ihrer Bearbeitung „die ordnungsgemäße Wahrnehmung ihrer sonstigen Aufgaben nicht erheblich beeinträchtigt wird“ und sie habe sich auf die mit den Querschnittsaufgaben verbundenen (Zusatz-)Aufgaben einzustellen,[192] mag bei „großzügig“ ausgestatteten (Bundes-)Behörden zutreffend sein, dürfte aber bei den meisten Landesbehörden, Kommunen oder auch Hochschulen am Problem vorbeigehen. Unabhängig davon verlangt die ordnungsgemäße Erfüllung dieser Querschnittsaufgaben entsprechend befähigtes Personal, das zugleich im Hinblick auf die „eigentlichen“ Zuständigkeiten der Behörde sachkundig sein muss, damit die Erfüllung der Querschnittsaufgabe in die „eigentliche“ Aufgabenwahrnehmung der Behörde implementiert werden kann. Dies kann einen unter Umständen erheblichen Weiterbildungs- und Umschulungsaufwand auch für solches Personal generieren, das für die „eigentlichen“ Aufgaben gut qualifiziert ist. Gerade deshalb kann die Querschnittsaufgabe von den Behördenmitarbeitern als bloße „Zusatzaufgabe“ wahrgenommen werden, die sie bei der Erfüllung ihrer „eigentlichen“ Aufgaben behindert, indem sie für diese „eigentlichen“ Aufgaben benötigte Sach- und Personalmittel bindet und zusätzlichen Aufwand generiert, dessen Sinn sich aus der Perspektive des „eigentlichen“ Auftrags der Behörde nicht zwingend erschließen muss. Dieses Problem verschärft sich, wenn die Pflicht zur Erfüllung der Querschnittsaufgabe nicht als sachlich begründet, sondern eher als Aufgabe mit „Umerziehungscharakter“, als Ausdruck von „Symbolpolitik“ oder als impliziter Vorwurf verstanden wird, sich in der Vergangenheit nicht an Verfassungsgebote gehalten zu haben. Die zunehmende „Empörungskultur“, die mit ihrer eigenen Art auf tatsächliche oder angebliche Umsetzungsdefizite bei bestimmten Querschnittsaufgaben reagiert, kann die Pflicht zur Wahrnehmung von Querschnittsaufgaben zudem als „gefahrgeneigt“ für die persönliche Karriere erscheinen lassen.

30

Verantwortungsklarheit bei Querschnittsaufgaben

Darüber hinaus sind die bestehenden „regulären“ Rechts-, Fach- und Dienstaufsichtsstrukturen oft ebenfalls nicht auf Querschnittsaufgaben zugeschnitten. Auch sie orientieren sich an den „eigentlichen“ Aufgaben der jeweiligen Behörden und sind daher ressortgebunden. Der Gesetzgeber reagiert hierauf etwa mit großzügiger Einräumung gerichtlich durchsetzbarer Ansprüche (etwa im Informationsfreiheits- und Antidiskriminierungsrecht), mit Verbandsklagerechten (z. B. nach § 15 Behindertengleichstellungsgesetz[193]), sowie oft sehr weitgehenden Dokumentations- und Konzeptpflichten (etwa in Form der Gleichstellungspläne). Vielfach wird aber auch die Bestellung von (mehr oder weniger) unabhängigen behördeninternen oder behördenübergreifend zuständigen „Beauftragten“ vorgeschrieben (z. B. im Datenschutz-, Informationsfreiheits- und Gleichstellungsrecht),[194] denen teilweise auch im verwaltungsgerichtlichen Organstreit durchsetzbare Klagerechte[195] oder bereichsspezifische Aufsichtsbefugnisse (Beanstandungsrechte) eingeräumt werden.[196] Diese Beauftragten vernetzen sich oft untereinander, was ihre „Herauslösung“ aus der „regulären“ Behördenorganisation verstärkt und sie damit jedenfalls faktisch zu „Kontrastorganen“ innerhalb der Dienststelle machen kann. Dies kann positiv als „Binnenpluralismus“ und negativ als „organisierte Unverantwortlichkeit“ bezeichnet werden: Jedenfalls wirft dies die Frage auf, wer letztlich für Art und Umfang der zur Erfüllung der Querschnittsaufgabe eingesetzten Ressourcen (oft zu Lasten der für die „eigentliche“ Aufgabenerfüllung einsetzbaren Ressourcen) Verantwortung übernehmen muss und wie trotz Querschnittsaufgaben eine wirtschaftliche Mittelverwendung und die ordnungsgemäße Erfüllung der „eigentlichen“ Aufgaben sichergestellt werden kann.[197]

VII. Verwaltungsdigitalisierung und Informationsverwaltungsrecht

31

E-Government-Gesetzgebung

Spätestens um die Jahrtausendwende hat sich die Frage der Auswirkungen der digitalen Revolution auch für die (deutsche) öffentliche Verwaltung gestellt.[198] Die Entwicklung der deutschen E-Government-Gesetzgebung vom Dritten Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 21.8.2002[199] über die E-Government Gesetze des Bundes und der Länder,[200] die Ermöglichung vollautomatisierter Verwaltungsverfahren in den Verwaltungsverfahrensgesetzen durch das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.7.2016[201] bis hin zum Onlinezugangsgesetz vom 14.8.2017[202] ist dabei schon oft nachgezeichnet worden, sodass hierauf verwiesen werden kann.[203] Trotz der erheblichen gesetzgeberischen Aktivitäten – auch in der mit der E-Government-Gesetzgebung nicht wirklich abgestimmten E-Justice-Gesetzgebung[204] – ist der deutsche Umsetzungsstand im europäischen Vergleich enttäuschend.[205] Selbst wenn der Gesetzgeber elektronisches Verwalten nicht nur ermöglicht, sondern die Verwaltung – etwa durch Setzen von Umsetzungsfristen – zur Einführung elektronischer Verwaltung verpflichtet,[206] geschieht i. d. R. (fristgerecht) nicht viel.

32

Kann E-Government gesetzlich erzwungen werden?

Die E-Government-Gesetzgebung hat damit neue Formen von Vollzugsdefiziten bewirkt und wirft die Frage nach der Rolle des Gesetzgebers bei der Implementation von Verwaltungsmodernisierungspolitiken auf. Natürlich muss auch E-Government rechtlich eingehegt und an gesetzliche Vorgaben gebunden werden, ebenso wie seine Produkte an rechtlichen Maßstäben zu messen sind und im Grundsatz „normalen“ Rechtsschutz- und Staatshaftungsanforderungen unterliegen.[207] Schon die Umschreibung technischer Anforderungen in der Gesetzessprache führt aber i. d. R. zu kaum verständlichen Texten, weil sie sich in extremer Abstraktionshöhe auf Gegenstände beziehen, die nur virtuell vorhanden sind und die daher dem Anwender „gezeigt“ werden müssen, damit er versteht, was von ihm verlangt wird. Eine Kommentierung von Vorschriften nach Art des § 37 Abs. 3 S. 2 VwVfG, die auch von denen verstanden wird, die nicht ohnehin wissen, was gemeint ist, ist etwa kaum möglich. Im Übrigen können Gesetze die Verwaltung kaum wirksam verpflichten, eine bestimmte Reformagenda zum Erfolg zu führen. Dies gilt insbesondere, wenn sie sich – wie z. B. das Onlinezugangsgesetz – darauf beschränken, zeitliche und inhaltliche Zielvorgaben aufzustellen, ohne gewährleisten zu können, dass entsprechende funktionstüchtige Software auf dem Markt erhältlich ist bzw. in Zusammenarbeit zwischen Markt und Staat entwickelt und vom Behördenpersonal mit der vorhandenen Ausstattung auch tatsächlich genutzt werden kann.

 

33

Informationsverwaltungsrecht

Eng mit der digitalen Revolution und mit der E-Government Diskussion verbunden ist auch das, was teilweise als „Informationsverwaltungsrecht“ bezeichnet wird.[208] Es geht hier nicht nur um den in den Informationsfreiheits- und Transparenzgesetzen geregelten Zugang des Einzelnen zu staatlichen Informationen, sondern auch um das Informationsweiterverwendungsrecht,[209] Fragen der Publikumsinformation und Öffentlichkeitsarbeit, die Errichtung von Datenbanken und Plattformen (z. B. über Geodaten[210]), das Recht des Informationsaustauschs zwischen Behörden und letztlich alle mit der Open Data und Open Government Diskussion zusammenhängenden Fragen.[211] Damit regelt das Informationsverwaltungsrecht vornehmlich (als Querschnittsaufgabe)[212], die Organisation und die Verwendung des Wissens, das die Verwaltung in verschiedenen Zusammenhängen gesammelt und aufbereitet hat. Wie kann unter Beachtung des Datenschutzes dem Anliegen Rechnung getragen werden, dasselbe Wissen nicht immer wieder neu generieren zu müssen und es auch unabhängig von konkreten Verfahren zur Politikvorbereitung oder auch in der Privatwirtschaft (gegen Entgelt) zu nutzen?

34

Verwaltungsorganisation von Verwaltungsverfahren

Informationsverwaltungsrecht und E-Government-Gesetzgebung führen zu einer verwaltungsorganisationsrechtlichen (holistischen) Perspektive auf das Verwaltungs(verfahrens)recht: Das VwVfG hat eine „vereinzelnde“ Sicht auf die Entscheidungsabläufe in der Verwaltung: Es teilt die „flutende Masse der Verwaltungstätigkeit“ letztlich in unabhängig voneinander bestehende Kommunikationsbeziehungen zwischen der Behörde und den jeweiligen Verfahrensbeteiligten auf und vereinzelt diese in nebeneinander herlaufende Verwaltungsrechtsverhältnisse. Die E-Government-Gesetzgebung wie das Informationsverwaltungsrecht nehmen dagegen die Organisation von Arbeitsabläufen der Verwaltung insgesamt in den Blick, sodass Verwaltungsorganisationsrecht und Verwaltungsverfahrensrecht zu einem Recht der Wissensorganisation und der Workfloworganisation verschwimmen.[213] Bei dieser Sichtweise steht nicht so sehr die Frage nach den Fehlerfolgen rechtswidrigen Verwaltungshandelns im Vordergrund als die Frage der Möglichkeiten präventiver „Programmierung“ der Verwaltung dergestalt, dass rechtmäßige und darüber hinaus hoffentlich auch sonst gute Entscheidungen getroffen werden.

35

(Voll-)Automatisierte Verwaltung

Das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.7.2016[214] hat schließlich das VwVfG auch für vollautomatische Verwaltungsentscheidungen – im Vergleich zum Abgabenrecht behutsam – geöffnet.[215] Wie insbesondere § 88 Abs. 5 und § 155 Abs. 4 AO verdeutlichen, besteht die Besonderheit vollständig automationsgestützter Verwaltungsverfahren vor allem darin, dass sich die Automatisierung auch auf die Sammlung, Auswertung und Verifizierung der bei der Entscheidung zu berücksichtigenden Sachverhaltselemente erstreckt und nicht nur auf die Rechtsanwendungs- bzw. Subsumtionsstufe und die Bescheidformulierung begrenzt ist.[216] Dies hat etwa zur Folge, dass der Wahrheitsgehalt der Angaben der Beteiligten i. d. R. nicht geprüft wird, die Einzelkontrolle der Richtigkeit und Vollständigkeit dieser Angaben also letztlich durch eine standardisierte Plausibilitätskontrolle ersetzt wird.[217] Im Anwendungsbereich des VwVfG wirft dies vor allem die Frage auf, welche Verwaltungsverfahren technisch und rechtlich für eine Vollautomation geeignet sind.[218] Insoweit können sich etwa rechtliche Grenzen aus dem Profiling-Verbot des Art. 22 der DSGVO oder praktische Grenzen aus Gründen fehlender Standardisierbarkeit bei zu komplexen Verfahren ergeben.[219] Anders als dies die systematische Stellung und der Wortlaut des § 35a VwVfG nahelegen, ist auch die Frage der (möglichen) Vollautomatisation von Verwaltungsverfahren eine allgemeine Frage der Organisation des Arbeitsablaufs in einer Behörde[220] und ist nicht für jedes einzelne Verwaltungsverfahren i. S. d. § 9 VwVfG neu zu entscheiden.[221] All diese Fragen sollten nicht mit der Frage vermengt werden, ob die Verwaltung auch selbstlernende Algorithmen (Künstliche Intelligenz) bei der Erfüllung ihrer Aufgaben einsetzen darf.[222] Hierfür dürfte schon nach dem institutionellen Gesetzesvorbehalt mindestens eine auf den konkreten Einsatz eines konkreten Algorithmus bezogene Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers erforderlich sein, sodass selbstlernende Algorithmen jedenfalls nicht experimentell und unter der Hand eingeführt werden dürfen.