Handbuch des Verwaltungsrechts

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C. Verwaltungsrecht der frühen Bundesrepublik (1949–1969)

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Von 1949 zur VwGO

Die Entwicklung des Verwaltungsrechts der frühen Bundesrepublik als Ergebnis einer überaus fruchtbaren „Kooperation“ zwischen Rechtsprechung und Verwaltungsrechtswissenschaft ist oft nachgezeichnet und analysiert worden. Hierauf kann verwiesen werden.[194] Bereits erwähnt wurde die zunehmende Rechtsschutzzentrierung[195] aber auch die zunehmende „Subjektivierung“ des Verwaltungsrechts,[196] die bis heute das deutsche Verwaltungsrecht prägt. Erwähnt wurde ebenfalls die Errichtung des BVerwG 1953 als prägender Faktor für eine „Unitarisierung“ des Verwaltungsrechts.[197] Insgesamt hatte die Verwaltungsrechtswissenschaft der 1950er und 1960er einen außerordentlich praxisnahen und zugleich „rechtsschöpferischen“ Charakter,[198] weshalb die Rechtsprechung die von ihr entwickelten Lösungen dankbar annahm[199] oder sie sich zumindest hiermit umfassend auseinandersetzte, um den eigenen Ansatz zu schärfen. Das umgekehrte Interesse der Verwaltungsrechtswissenschaft an der Rechtsprechung und an ihrer kritischen Begleitung wird an den noch heute wichtigen Rechtsprechungsberichten von Otto Bachof in der JZ[200] und von Christian-Friedrich Menger im Verwaltungsarchiv[201] deutlich. Das Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsordnung 1960 verstärkte diese Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Praxis. Die VwGO war das erste „kommentierbare“ Bundesgesetz mit erheblichen Rückwirkungen für das Allgemeine Verwaltungsrecht, was insbesondere die Untersuchungen zu ihren Kernbestimmungen (§ 40, § 42, §§ 68 bis 80, § 113, § 114 VwGO) zeigten. Hiermit wurde aber auch erstmals der Schritt von der die frühe Bundesrepublik prägenden „rechtsschöpferischen“ dogmatisch-wissenschaftlichen Befassung mit dem Verwaltungsrecht hin zu einer eher die Rechtsprechung nachvollziehenden und systematisierenden Verwaltungswissenschaft getan. Diese wurde insbesondere seit dem Inkrafttreten des VwVfG typisch.[202]

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Kriegsopferversorgungs- und Lastenausgleichsrecht

Heute kaum noch im Bewusstsein ist dagegen die prägende Wirkung des Kriegsopferversorgungs-[203] und Lastenausgleichsrechts[204] für das Verwaltungsrecht der frühen Bundesrepublik: Es ging um die massenhafte Überprüfung individueller Einzelschicksale anhand komplexer, sich ständig ändernder Regelungen, die schon sehr früh die Notwendigkeit klarer verwaltungsverfahrensrechtlicher Standards verlangten. Das Gesetz über die Feststellung von Vertreibungsschäden und Kriegssachschäden vom 21.4.1952[205] und das Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2.5.1955[206] enthielten insoweit umfassende Regelungen, die auch für das VwVfG prägend waren.[207] Von Bedeutung war das Kriegsfolgenrecht aber auch aufgrund des insoweit vorgesehenen Zusammenspiels zwischen Bundesfinanzierung und Landesverwaltung: Zahlreiche Probleme der Vollzugsverflechtung zwischen Bund und Ländern, die bis heute eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, wurden hier erstmals sichtbar (vgl. Art. 120a GG) und diskutiert.[208]

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Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes

Prägend für die weitere Verwaltungsrechtsentwicklung war aber vor allem auch das Inkrafttreten des Bundesbaugesetzes (BBauG) vom 23.6.1960.[209] Das BBauG schob gegenüber dem Landes-Baupolizeirecht nunmehr die Bauleitplanung in den Vordergrund, erzwang mit §§ 14 ff. und §§ 29 ff. BBauG aber auch eine gewisse Vereinheitlichung und Strukturierung der nach wie vor landesrechtlich geregelten Baugenehmigungsverfahren. Damit trat in den 1960er Jahren mit dem (1986 zum BauGB umgewandelten[210]) BBauG auch das letzte „große Referenzgebiet“[211] des besonderen Verwaltungsrechts (neben den „klassischen“ Referenzgebieten Polizei- und Ordnungsrecht, Kommunalrecht und [damals noch] Beamtenrecht und Straßenrecht) auf den Plan.[212] In dem vielfach nur als „BVerwGE 34, 301“ zitierten Urteil des BVerwG vom 12.12.1969[213] erfolgte dann die Aufwertung des unscheinbaren Satzes im § 1 Abs. 4 S. 2 BBauG, dass bei der Bauleitplanung „die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen“ sind, zum Angelpunkt der Abwägungsdogmatik. In dieser Entscheidung findet die gesamte spätere Entwicklung zum Planungsermessen, Abwägungsgebot und zur Abwägungsfehlerlehre und damit letztlich auch die Entwicklung des Bau- und Fachplanungsrechts als eigenes Rechtsgebiet seinen Ursprung.[214] Im Lichte dieser Entscheidung kann das Inkrafttreten des BBauG damit auch als Ausgangspunkt der Entwicklung des „Plans“ zu einer eigenständigen Handlungsform verstanden werden.[215] Damit stehen „BVerwGE 34, 301“ und die Ergänzung des BBauG durch das Städtebauförderungsgesetz vom 27.7.1971[216] für den Übergang zur nächsten Epoche der Entwicklung des Verwaltungsrechts in der Bundesrepublik.[217]

D. Verwaltungsrechtszäsuren der 1970er und 1980er

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Gesetzgebung als Motor der Verwaltungsrechtsentwicklung

Die Verwaltungsrechtsentwicklung der 1970er und 1980er Jahre ist im Wesentlichen von gesetzgeberischen Aktivitäten und ihrer Verarbeitung durch Rechtsprechung und Wissenschaft geprägt. Einerseits wurde so mit Erlass der Verwaltungsverfahrensgesetze und des (dann gescheiterten) Staatshaftungsgesetzes das zuvor in Zusammenarbeit von Rechtsprechung und Schrifttum Geschaffene kodifiziert und damit aber wohl auch ungewollt versteinert.[218] Andererseits wurde insbesondere mit Erlass des BImSchG von 1974 das Umweltrecht als eigenes „Rechtsgebiet“ etabliert, das als „Umwelt- und Planungsrecht“ prägend für die öffentliche Wahrnehmung sowohl für die Leistungsfähigkeit des deutschen Verwaltungsrechts als auch für die Problematik von Vollzugsdefiziten werden sollte.[219] Jedoch bahnte sich im Kriegsdienstverweigerungs- und Asylverfahrensrecht eine Diskussion über die Frage an, ob gerichtlicher Individualrechtsschutz in dem bisher gewährten Umfang nicht sowohl zu einer Überlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit führt als auch die Durchsetzung für vorrangig erachteter Politikziele unangemessen behindert.[220] Damit wurde erstmals die Berechtigung der auf die Schaffung und den Ausbau des Individualrechtsschutzes ausgerichteten „Neugründung“ des deutschen Verwaltungsrechts nach 1949 in Frage gestellt.

I. Kodifizierung, Konsolidierung und Petrifizierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts

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Verwaltungsverfahrensgesetze

Die bis Ende der 1950er Jahre zurückreichende Entstehungsgeschichte des umfassend vorbereiteten VwVfG, seine Regelungsanliegen und seine Verknüpfung mit dem Erlass der AO 1977 und dem SGB I und X sind oft nachgezeichnet worden, sodass hierauf verwiesen werden kann.[221] Rückblickend mag maßgeblich für das weitgehende Gelingen dieses Kodifikationsprojekts gewesen sein, dass sich nach den Vorstellungen der Gesetzesverfasser das VwVfG nicht auf eine Aufzählung von Rechten des Bürgers in Verwaltungsverfahren gegenüber der Verwaltung beschränkt, sondern ein „handfestes Verfahrensrecht“[222] gerade auch für die Fachverwaltung und damit eine Grundlage für die tägliche Verwaltungsarbeit geschaffen werden sollte. Das VwVfG bietet damit (mit Ausnahme der §§ 54 ff. VwVfG[223]) vor allem für die Behörde ein strukturiertes und rechtsverbindliches Arbeitsprogramm (in vergleichsweise präziser Sprache unter Vermeidung von Generalklauseln), das insgesamt auf eine Reduzierung von Komplexität durch schrittweises und planvolles Vorgehen gerichtet[224] und – wie § 24 Abs. 2 VwVfG deutlich zeigt – nicht von einer „Gegnerschaft“ von Behörde und Bürger geprägt ist: Die Behörde hat die Rechte des Betroffenen bei der Entscheidung von sich aus zu beachten.[225] Als Arbeitsgrundlage für die Verwaltung verstanden setzte das VwVfG damit einen deutlichen Kontrapunkt gegenüber der sich auf die Rechtsschutzperspektive fokussierten Verwaltungsrechtswissenschaft.

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Auswirkungen des VwVfG auf die Verwaltungsrechtswissenschaft

Die wissenschaftliche Befassung mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht fokussierte sich mit seinem Inkrafttreten jedoch immer mehr auf das VwVfG und die nunmehr in seinem Kontext zu lesende VwGO. Zum einen bewirkte dies, dass auch das Verwaltungsverfahren letztlich primär aus der Gerichtsperspektive – nämlich im Hinblick auf die Frage der Folgen von Verfahrensfehlern (§ 45, § 46 VwVfG und § 44a VwGO) – betrachtet wurde.[226] Dadurch geriet das eigentlich Neue am VwVfG – die Durchstrukturierung des behördlichen Entscheidungsprozesses und die Schaffung von Einwirkungsmöglichkeiten des Bürgers auf diesen Entscheidungsprozess[227] – vielfach aus dem Blick. Zudem gab es mit dem VwVfG zum ersten Mal nun auch ein – mit bundesweiter Wirkung – „kommentierbares“ Gesetz im allgemeinen Verwaltungsrecht. Dies bewegte die Verwaltungsrechtswissenschaft dazu, sich vermehrt mit der Frage zu beschäftigen, wie dieses Gesetz im Einzelnen auszulegen ist, was sich gegenüber dem früheren Rechtszustand geändert hat und wie die hierzu ergangene Rechtsprechung zu verstehen ist. Das VwVfG wurde zum „Grundgesetz der Verwaltung“.[228] Nahezu zwangsläufig konnten daher die führenden Lehrbücher aus der frühen Phase der Bundesrepublik seit dem Inkrafttreten des VwVfG keine (wirkliche) Neuauflage mehr erleben.[229] Sie wurden durch neue Lehrbücher „ersetzt“, die von Anfang an das VwVfG in den Mittelpunkt stellten.[230] Aufgrund dieser Fokussierung auf das VwVfG geriet teilweise aus dem Blick, dass die Rechtsentwicklung außerhalb seines Anwendungsbereichs weiterging[231] und es gerade oft die einzelnen Zweige des besonderen Verwaltungsrechts sind, in denen sich Innovationen zeigen und bewähren (oder scheitern) können.[232] So hat das VwVfG teilweise den Blick auf neue Entwicklungen verstellt. Anders als dies Absicht der Gesetzesverfasser war,[233] wurde es vielfach nicht nur als „Zwischenschritt“ bei der Weiterentwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts gesehen, sondern als letztlich abschließende Regelung des Verwaltungsverfahrensrechts, die als gegenteilige gesetzgeberische Entscheidung der Anerkennung weitergehender Verfahrensrechte und damit der Fortentwicklung des Verfahrensrechts entgegengehalten wurde.[234] Die „rechtsschöpferische Kreativität“ der 1950er und 1960er Jahre[235] schien der Verwaltungsrechtswissenschaft daher mit Inkrafttreten des VwVfG teilweise verloren gegangen zu sein. Sie wurde mehr und mehr gesetzes- und rechtsprechungs-positivistisch geprägt. Dies hat zu einer gewissen Versteinerung sowohl des „Themenkatalogs“ verwaltungsrechtlicher Forschung als auch der vorgeschlagenen Lösungen geführt.[236]

 

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Staatshaftungsgesetz

Interessanterweise zog das am 1.1.1982 in Kraft getretene und vom BVerfG bereits am 19.10.1982 für verfassungswidrig erklärte[237] Staatshaftungsgesetz (StHG) vom 26.6.1981[238] trotz seiner nur 10-monatigen Anwendung einen ganz ähnlichen Versteinerungseffekt nach sich. Die bis in die 1970er Jahre bestehende Offenheit gegenüber der Ausweitung bestehender und Schaffung neuer Staatshaftungsinstitute in der Rechtsprechung[239] (und hiermit korrespondierend im Schrifttum) ging mit zunehmender Verdichtung der Vorarbeiten zum StHG[240] immer mehr zurück. Dies mag daran liegen, dass diese Vorarbeiten wie auch der Bericht der Gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundes und der Länder von 1987[241] und seine spätere Behandlung[242] deutlich machten, dass die Länder durch den Bundesrat jegliche Ausweitung der Staatshaftung aber auch jegliche Vereinfachung des Staatshaftungsrechts (vor allem aus haushaltspolitischen Gründen) als ausschließliche Aufgabe des Gesetzgebers ansahen und eine Neuordnung der Staatshaftung durch Rechtsfortbildung für ausgeschlossen hielten. Dieses Argument wurde von der Rechtsprechung[243] zunehmend in der Form übernommen, dass sie sich an einer (weiteren) Fortentwicklung und Abrundung überkommener Staatshaftungsansprüche wegen eines unterstellten „Vorbehalts des Gesetzes“ (zum Schutz der Budgethoheit des Parlaments) gehindert sah. Die Literatur folgt dem vielfach: Bereits eine Fortentwicklung des Staatshaftungsrechts durch Entwicklung einer rechtswegübergreifenden kohärenten Staatshaftungsdogmatik in klarer Abgrenzung zum zivilrechtlichen Vertrags- und Deliktsrecht entlang der existierenden Anspruchsgrundlagen und ergänzt durch allgemeine Rechtsgrundsätze wird offenbar teilweise als Überschreiten einer Rechtsfortbildungsgrenze gesehen.[244] Dies ist umso erstaunlicher, als ein vergleichbarer Vorbehalt des Gesetzes z. B. gegenüber einer ebenfalls (nicht unerhebliche) Kosten verursachenden Ausweitung der aus den Grundrechten und insbesondere aus Art. 19 Abs. 4 GG hergeleiteten Garantien nie erwogen worden war. Die Annahme eines Vorbehalts des Gesetzes für eine Staatshaftungsreform mag auch der Grund für die zunächst sehr heftigen Reaktionen in der deutschen Literatur[245] gegenüber der Kreation des „gemeinschaftsrechtlichen“ Staatshaftungsanspruchs durch den EuGH in der Rechtssache Francovich[246] gewesen sein:[247] Der EuGH nahm sich eine Rechtsfortbildungskompetenz zum Schutz der durch Gemeinschaftsrechtsverletzungen Geschädigten heraus, auf die die deutsche Rechtsprechung (und Verwaltungsrechtswissenschaft) selbst in rein nationalen Fällen weitgehend verzichtet hatte.

II. Umweltrecht

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BImSchG als „Grundmodell“ des deutschen Umweltschutzrechts

Der Beginn der Entwicklung des Umweltrechts zu einem eigenständigen Rechtsgebiet fällt mit dem Erlass der Gesetze über die Beseitigung von Abfällen (Abfallbeseitigungsgesetz – AbfG) vom 7.7.1972[248] und – mehr noch – des BImSchG vom 15.3.1974 zusammen, die durch die Ausweitung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 74 Nr. 24 GG durch das 30. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12.4.1972[249] möglich wurden.[250] Bereits dieser Grundgesetzänderung lag die Vorstellung zugrunde, dass es sich beim Umweltschutz um eine eigenständige Aufgabe handelt.[251] Deutlich wird gerade dies durch die Ersetzung der §§ 16 ff. GewO a. F. durch die §§ 4 ff. BImSchG: Während ursprüngliches Regelungsziel der §§ 16 ff. GewO gewesen war, zu verhindern, dass die bundes- bzw. reichsweit eingeführte Gewerbefreiheit durch uneinheitliche und überzogene Anforderungen der Bundesstaaten/Länder für die Zulassung von Industrieanlagen unterlaufen werden konnte,[252] ist Regelungszweck des BImSchG der Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen. Im Gegensatz zu den §§ 16 ff. GewO a. F. ist der Schutz der wirtschaftlichen Interessen damit nicht eigentlicher Regelungszweck des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens, sondern wird insoweit „nur“ durch die Grundrechte des Anlagenbetreibers aus Art. 12 und 14 GG garantiert.[253] Damit exemplifizierte das BImSchG aber bereits die Regelungskonzeption des „klassischen“ deutschen Umweltrechts: Es ging (und geht) weniger um die (ggf. medienübergreifende) Verbesserung der Umweltsituation durch (ggf. gebietsbezogene) Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen, als um die Reduzierung der durch neue Vorhaben verursachten neuen Umweltbeeinträchtigungen auf ein erträgliches Maß: Neue Vorhaben sollen in einer Weise ausgestaltet werden, dass auf einzelne Umweltmedien bezogene Grenzwerte bei ihrer Errichtung und ihrem Betrieb nicht überschritten und natur- und artenschutzrechtliche Anforderungen nicht unterschritten werden. Die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens durch § 10 BImSchG i. V. m. der 9. BImSchV vom 18.2.1977[254] zeigte dies sehr deutlich.

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Umweltschutz in Planungs- und Genehmigungsverfahren

Damit wurden umweltschutzrechtliche Anforderungen sehr schnell vor allem als Begrenzung wirtschaftlicher Freiheiten und Kostentreiber bei privaten und öffentlichen Investitionen und damit als Investitionshemmnis und gegen Wirtschaft und Fortschritt gerichtet wahrgenommen. Das Umweltschutzrecht war aber auch ganz allgemein gegenläufig zum Konzept der Raum-, Bebauungs- und Vorhabenplanung, wie sie in Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des BBauG und des Städtebauförderungsgesetzes[255] im Zuge der sog. „Planungseuphorie“ der 1960er Jahre[256] entstanden war. Wenn räumliche Gesamt- und Fachplanung vor allem auf menschengemachte (Um-)Gestaltung des Raums gerichtet ist,[257] mussten umweltrechtliche Anforderungen für die zuständigen Planungsbehörden (und die Vorhabenträger) vor allem als Begrenzung dieses Gestaltungsspielraums, das Planungsverfahren als Verfahren zur Überwindung dieser Grenzen verstanden werden.[258] Genehmigungs- und Planungsbehörden einerseits und Umweltschutzbehörden andererseits verfolgen bei diesem Verständnis gegenläufige Ziele; Genehmigungs- und Planungsverfahren werden vor allem als Plattform für Vorhabenverhinderer und nicht als Instrument zum Ausgleich von Investitions- und Umweltbelangen, zur Konsensbildung und Legitimation der Entscheidung wahrgenommen.[259] Symptomatisch waren insoweit die atomrechtlichen Genehmigungsverfahren als reine Konfliktverfahren.

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Vollzugsdefizit als Problem

Vor diesem Hintergrund war dann ein Vollzugsdefizit des Umweltrechts (leicht) festzustellen und lagen seine Ursachen auf der Hand:[260] Eine „Eins-zu-Eins-Umsetzung“ des Umweltrechts war auf lokaler und regionaler Ebene in einem Umfeld, das von einem zunehmend deutlicher werdenden Wettbewerb um Investoren und Investitionen geprägt war, letztlich politisch nicht gewollt, zumindest dann nicht, wenn dies konkrete Vorhaben verhindert hätte, auf deren Verwirklichung man vor Ort angewiesen schien. Dies spiegelte sich dann in einer nur unzureichenden personellen und sachlichen Ausstattung vieler Landes-Umweltschutzbehörden, aber auch darin wider, dass der Erfolg von Planungs- und Genehmigungsverfahren nicht daran gemessen wurde, ob die Belange des Vorhabenträgers und des Umweltschutzes zu einem angemessenen Ausgleich gebracht worden waren, sondern nur daran, ob ein solches Verfahren in möglichst kurzer Zeit zu einer Zulassung des Vorhabens geführt hat. Diese Entwicklung sollte in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreichen.[261] Sie zeigt sich heute in dem erbitterten Widerstand, der der Ausweitung von umweltschutzbedingten Verbandsklage– und Individualklagerechten entgegengebracht wird, weil dies den Druck zur vollständigen Beachtung der umweltschutzrechtlichen Vorgaben erhöht.[262]

III. Kriegsdienstverweigerungs- und Asylverfahrensrecht

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Verwaltungsgerichtsbarkeit, Kriegsdienstverweigerungs- und Asylverfahrensrecht

Aus Raumgründen kann hier nur darauf hingewiesen werden, dass die tägliche Praxis der (erstinstanzlichen) Verwaltungsgerichte vor allem seit Ende der 1970er Jahre von den sowohl in der Zahl wie in der Aufklärungsintensität zunehmenden Kriegsdienstverweigerungs-[263] und Asylverfahren[264] geprägt wurde. Dies blieb zwar jedenfalls in der Verwaltungsrechtswissenschaft ohne nachhaltige Resonanz, bestimmte aber in der Politik wohl das bis heute nachwirkende Bild einer (zunehmend) ineffizienten Verwaltungsgerichtsbarkeit, der durch zahlreiche Beschleunigungsgesetze und durch Abbau von Verfahrensstandards „Beine gemacht“ werden müsse.[265] Dies macht seither eine Gesetzgebung salonfähig, welche die Grenzen des gerade noch Verfassungsmäßigen auszureizen sucht. Neben den schon in den 1980er Jahren konfliktträchtigen Großverfahren[266] bereitete dies daher den Boden für die Art und Weise, wie seit den 1990er Jahren „Verfahrensbeschleunigungsgesetzgebung“ betrieben wird.[267]

E. Fazit: (West-)Deutsches Verwaltungsrecht 1989

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Vergesetzlichung des Verwaltungsrechts

Generell hatte in den 1980er Jahren das deutsche Verwaltungsrecht einen hohen Grad an Vergesetzlichung erreicht, auch wenn natürlich noch viele Fragen offen waren: „Ein Normgerüst hatte die Grundstrukturen errichtet, geronnen aus der Rezeption richterrechtlicher Prinzipien und Institute, wissenschaftlicher Ordnungsleistung und politischer Regelungsziele.“[268] Dies betraf nicht nur das Allgemeine Verwaltungsrecht, sondern auch das Besondere Verwaltungsrecht, jedenfalls soweit es die „klassischen“ Referenzgebiete[269] des Polizei- und Ordnungsrechts, Kommunalrechts, Baurechts, Gewerberechts, Beamtenrechts und des Straßenrechts sowie das „junge“ Referenzgebiet des Umweltrechts betraf. Kennzeichnend hierfür ist etwa, dass durch das Gesetz über das Baugesetzbuch vom 8.12.1986[270] auch das Bauplanungsrecht durch Umgestaltung des BBauG und des Städtebauförderungsgesetzes[271] zum BauGB seine heutige Form erhielt.[272] Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass diese „Vergesetzlichung“ durchaus auch zu einer gewissen „Versteinerung“ des „Themenkatalogs“ verwaltungsrechtlicher Forschung als auch der vorgeschlagenen Lösungen geführt hat.[273] Diese „Versteinerung“ wurde durch die vom Grundgesetz (scheinbar) nahegelegte Fokussierung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Forschung auf die Gegenstände verstärkt, die in den Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichte fallen.[274]

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Europäisierung als Randproblem

Hiermit dürfte auch zusammenhängen, dass die tiefgreifenden Auswirkungen, die das Recht der Europäischen Gemeinschaften auf diesen Kernbestand des deutschen Verwaltungsrechts haben würde, bis Ende der 1980er Jahre kaum gesehen oder erahnt wurden.[275] Der zeitgenössischen deutschen Literatur blieb damit etwa die Bedeutung der für das Recht des indirekten Vollzugs grundlegenden Entscheidungen des EuGH „REWE“ vom 16.12.1976[276] und „Deutsche Milchkontor“ vom 21.9.1983[277] weitgehend verborgen.[278] Das Gemeinschaftsrecht wurde nahezu ausschließlich als für spezielle Zweige des besonderen Verwaltungsrechts (z. B. Kartell-, Agrar-, Produktsicherheits-, Zoll- oder Umsatzsteuerrecht) als relevant und damit weitgehend als „Spezialistenmaterie“ angesehen.[279] Darüber hinaus wurde zwar erkannt, dass bei grenzüberschreitenden Sachverhalten der Warenverkehrsfreiheit und den Freizügigkeitsrechten Bedeutung zuzumessen war. Man begriff dies aber eher als spezielle Fragen des Anwendungsbereichs einzelner Vorschriften insbesondere des nationalen Wirtschaftsverwaltungsrechts und des Ausländerrechts.[280] „Europäisches Verwaltungsrecht“ wurde dagegen vor allem mit dem „Recht der Eigenverwaltung“ der damaligen Europäischen Gemeinschaften gleichgesetzt. Begriffs- und methodisch prägend war insoweit insbesondere die Maßstäbe setzende Arbeit von Jürgen Schwarze.[281] Eine wirkliche Diskussion über die weitreichenden Folgen der Europäischen Integration für die nationalen Verwaltungen und das nationale Verwaltungsrecht begann (jedenfalls in Deutschland) erst nach 1990.[282]