Handbuch des Verwaltungsrechts

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Frieder Günther

§ 4 Verwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus

A. Die Machteroberung der Nationalsozialisten1 – 3

B. Verwaltungspraxis4 – 6

C. Entgegensetzung und gegenseitige Ergänzung von Partei und Staat7 – 9

D. Verwaltungsrechtswissenschaft10 – 15

E. Verwaltung im Vernichtungskrieg16 – 18

F. Personelle Kontinuitäten nach 194519

G. Bibliografie

H. Abstract

A. Die Machteroberung der Nationalsozialisten

1

Anschein von Kontinuität

Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 dürfte von der Mehrzahl der Beamtinnen und Beamten im Deutschen Reich zunächst weit weniger als Einschnitt wahrgenommen worden sein, als das Ereignis uns heute im Rückblick erscheint. Die Zeichen schienen in den ersten Tagen und Wochen auf Kontinuität zu stehen. Zu einem allmählichen Bedeutungszuwachs der Ministerialbürokratie war es bereits – aufgrund des Zurücktretens des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren – in den vergangenen drei Jahren seit dem ersten Präsidialkabinett unter Reichskanzler Heinrich Brüning gekommen. Zudem waren zahlreiche republikanisch eingestellte, leitende Beamte bereits vor 1933 durch nationalkonservative Kollegen ausgewechselt worden. Ein deutliches Zeichen in Richtung einer autoritären Regierungsform setzte die Reichsregierung unter Reichskanzler Franz von Papen nicht zuletzt im Juli 1932 mit dem verfassungswidrigen „Preußenschlag“. Ein von der Politik vorgezeichneter Rechtsruck war also unübersehbar.[1] Dass die Nationalsozialisten aber tatsächlich mit der Tradition der öffentlichen Verwaltung und der Beamten auf einschneidende Weise zu brechen gedachten, zeigten sie spätestens mit dem sogenannten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Missliebige, republiktreue Beamte waren aus dem Dienst zu entlassen und Beamte „nicht arischer Abstammung“ in den Ruhestand zu versetzen.[2] Damit wurde offenbar, in welchem Ausmaß die nationalsozialistische Beamtenpolitik tatsächlich mit den Idealen der deutschen öffentlichen Verwaltung brechen wollte. Ordnungssinn, strenge Rechts- und Gesetzesbindung, Überparteilichkeit sowie Staatsorientierung der Verwaltung sollten ausgehöhlt und durch eine dezidiert nationalsozialistische Grundhaltung ersetzt werden. Nicht mehr die Rechte des Individuums, sondern die Interessen des deutschen Volkes und der arischen Rasse galt es bei der Güterabwägung in den Vordergrund zu stellen.

2

Zustimmung der Beamtenschaft

Die nationalsozialistische Machteroberung stieß bei weiten Teilen der Beamtenschaft auf begeisterte Zustimmung. Die ersten Aufnahmen in die NSDAP erfolgten bereits bis zum Mai 1933. Zu einer regelrechten Beitrittswelle der Beamtenschaft kam es nach der Beendigung des Aufnahmestopps im Jahre 1937. Wer nicht direkt der Partei beitrat, suchte wenigstens durch die Mitgliedschaft in anderen Parteiorganisationen, etwa der SA oder der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, seine Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus nach außen zu bekunden. Diese Popularität beruhte neben dem Anschein von Kontinuität vor allem auf der Hoffnung, die Nationalsozialisten würden den alten privilegierten Status, den die Beamten durch die Politik der Weimarer Republik infrage gestellt sahen, wiederherstellen und zusätzliche Beamtenstellen schaffen.[3] Außerdem bestand anfangs die Hoffnung, dass Gesetzesvorhaben aus der Weimarer Zeit, die damals an zahlreichen Widerständen gescheitert waren, darunter etwa eine groß angelegte Reichsreform,[4] nun endlich unter autoritären Vorzeichen realisiert werden könnten. Ein unter leitenden Beamten besonders verbreiteter, radikaler Nationalismus und antipluralistische Einheitssehnsüchte taten ein Übriges. Die zentralen verfassungsrechtlichen Weichenstellungen der nationalsozialistischen Revolution, darunter das Ermächtigungsgesetz vom März 1933,[5] das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom Juli 1933[6] oder das Reichsneuaufbaugesetz vom Januar 1934,[7] mit dem die Gleichschaltung der Länder und damit die Zentralisierung der Verwaltungsapparates weitgehend abgeschlossen wurden, fanden unter den Beamten somit breite Zustimmung.

3

Politisierung der Verwaltung

Sieht man einmal von der systematischen Verdrängung von Juden und Sozialisten sowie – wenngleich weniger radikal – von Frauen aus dem öffentlichen Dienst ab, ist die Verwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus insgesamt von einer erstaunlichen personellen Kontinuität gegenüber der Weimarer Republik geprägt. Nur Schlüsselpositionen wurden mit Quereinsteigern besetzt, die häufig schon vor 1933 der NSDAP beigetreten waren; und selbst das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums führte – mit Ausnahme Preußens – nur zu vergleichsweise wenig politisch oder rassistisch motivierten Personalwechseln.[8] Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ideale traditioneller Verwaltung ab 1933 tatsächlich konsequent infrage gestellt wurden, indem eine weit reichende Politisierung der Verwaltung im Sinne des Nationalsozialismus erfolgte.[9] Beamte galten nach § 1 Abs. 2 des Deutschen Beamtengesetzes von 1937 als „Vollstrecker des Willens des von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei getragenen Staates“ und hatten schon seit dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg dem „Führer“ Treue und Gehorsam zu schwören.[10] Bei jeder Ernennung und Beförderung wurden nunmehr die Mitgliedschaft in politischen Parteien der Weimarer Republik, in NS-Organisationen sowie die arische Abstammung des Vorgeschlagenen und seiner Ehefrau überprüft. Außerdem wurde im Ernennungsbogen explizit abgefragt, ob der Beamte die Gewähr bietet, „dass er jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt“.[11] Nicht zuletzt musste von 1935 an bei der Ernennung und Beförderung sämtlicher höherer Beamter der „Stellvertreter des Führers“ als Parteiinstanz beteiligt werden. Auch Laufbahnbeamte, die aufgrund ihrer Abstammung oder politischen Einstellung als unverdächtig galten, mussten erkennen, dass vom Fortbestand wohlerworbener Beamtenrechte keine Rede mehr sein konnte, da stets die Möglichkeit bestand, dass gesetzestreues Verhalten, das aber nicht den Vorstellungen der Partei entsprach, unmittelbare disziplinar- oder sogar strafrechtliche Folgen nach sich zog. Dies schuf eine Rechtsunsicherheit, die konformes Verhalten als notwendig erscheinen ließ, um die politische Karriere fortzusetzen. Somit agierte die nationalsozialistische Führung im Vergleich mit anderen politischen Systemen in Deutschland äußerst effektiv und erfolgreich, um sich die Loyalität der Beamtenschaft langfristig zu sichern.[12]

B. Verwaltungspraxis

4

Vielfalt der Verwaltungen

So wie es für moderne Verwaltungen charakteristisch ist, waren die Mitarbeiter des öffentlichen Diensts genauso wie die Behörden, in denen sie tätig waren, in der Zeit des Nationalsozialismus äußerst heterogen. Große Unterschiede bestanden zwischen Angestellten und Beamten, aber auch innerhalb der Beamtenschaft etwa zwischen dem mittleren und dem höheren Dienst. Genauso unterschieden sich traditionelle Verwaltungen, beispielsweise kommunale Behörden, die Reichspost oder die Justizverwaltung, deren Arbeit von einer scheinbaren Kontinuität und Stabilität über das Jahr 1933 hinweg geprägt war – indem Akten fortgeführt, Briefköpfe weiter verwendet, reguläre Geschäftsgänge beibehalten, ältere Gesetze weiter angewendet wurden und die breite Mehrheit der Mitarbeiterschaft im Dienst blieb –, von neu geschaffenen, häufig stark ideologisch ausgerichteten Institutionen, etwa das Joseph Goebbels unterstehende Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda oder das 1939 von Heinrich Himmler geschaffene Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Letzteres ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich im Lauf der Zeit Partei- und Staatsfunktionen immer stärker vermischten, da es als oberste Instanz sowohl der Sicherheitspolizei als auch des Sicherheitsdienstes der NSDAP fungierte. Im Vergleich zu traditionellen Verwaltungsinstitutionen sollte das RSHA – ähnlich wie die zur Lösung eines konkreten Sonderproblems eingesetzten, radikalisierten und „entgrenzten“ Sonderbevollmächtigten und Kommissare – weitaus informeller, jenseits von rechtlichen Bindungen funktionieren und eine elitäre Vorreiterrolle bei der Konzeptionierung und Umsetzung der völkisch-rassenbiologischen Ziele des Regimes spielen.[13]

 

5

Nationalsozialistische Leitbilder der Verwaltung

Doch trotz solcher markanten Unterschiede gab es Prinzipien, die die gesamte Verwaltung prägen sollten. Einmal wurde entsprechend dem Grundsatz des Führerprinzips in der Ämterhierarchie die Stellung der übergeordneten Institution und innerhalb einer Behörde die Position der Leitung generell gestärkt. Gefordert war nunmehr vollständige Autorität der vorgesetzten Instanz nach unten und absoluter Gehorsam der nachgeordneten Instanz nach oben. Verwaltungsanweisungen wurden häufig im Befehlston formuliert; manchmal wurden sie sogar mit einer Strafandrohung bei Zuwiderhandlung versehen. Sie sollten dem Adressaten keinen Interpretationsspielraum lassen und ihm das Gefühl geben, gegenüber dem Vorgesetzten absolut verantwortlich zu sein. Ergänzt wurde dieses Leitbild durch die nationalsozialistischen Grundsätze des Persönlichkeitsprinzips und der Menschenführung. Die Verwaltung sollte von leistungsstarken, schöpferischen, tatkräftigen und entscheidungsfreudigen Amtsträgern geprägt werden. Sie sollten nach außen als Individuum erkennbar sein, nicht blind den Gesetzesparagrafen folgen, sondern eigene Initiative und Tatkraft zeigen und beispielsweise Dokumente, die nach außen gingen, in freundlicher Form und mit Schlussgruß formulieren sowie persönlich unterschreiben. Sofern sie sich an die ideologischen Vorgaben des Regimes hielten, war also an ihrer Entscheidungskompetenz nicht zu rütteln. Eine intensive Abstimmung mit dem Vorgesetzten galt sogar als unnötige Verfahrensverzögerung. Nicht zuletzt sahen sich Verwaltungsinstitutionen gezwungen, zunehmend auf mündliche Kommunikationsformen zurückzugreifen, um trotz des Kompetenzchaos politischen Einfluss zu gewinnen und nicht übergangen zu werden. Da kaum mehr reguläre Kabinettssitzungen der Reichsregierung stattfanden und Gesetze stattdessen im beschleunigten Umlaufverfahren verabschiedet wurden, erhöhte sich speziell für die Ministerialverwaltung die Notwendigkeit zur informellen Abstimmung im Vorfeld. Es zeigt sich also, dass die Verwaltung im Nationalsozialismus ein Stück weit von klassischen Prinzipien einer modernen Staatsbürokratie, wie Abstraktion, Schriftlichkeit und Rationalität, abrückte.[14]

6

„Dem Führer entgegenarbeiten“

Ein weiteres verbindendes Moment war der Grundsatz, offene Situationen im Zweifelsfall durch Rückgriff auf einen imaginierten Führerwillen zu entscheiden. Aufgrund von Ämterchaos, Kompetenzwirrwarr und Adolf Hitlers unstetigem Herrschaftsstil war vom einzelnen Amtsträger immer wieder ein hohes Maß an Eigeninitiative gefordert. Der Historiker Ian Kershaw hat dafür plädiert, – hier ein Zitat des Staatssekretärs im preußischen Landwirtschaftsministerium Werner Willikens aufgreifend – es als ein Leitmotiv der Verwaltung anzusehen, „dem Führer entgegenzuarbeiten“. In Situationen, in denen die Rechtslage unklar war und die nationalsozialistische Ideologie nur vage Zielvorgaben definierte, ergriffen die Beamten also selbst die Initiative und handelten, indem sie den Willen Hitlers zu antizipieren versuchten. Damit konnten sie gleichsam von unten aktiv werden und ihr Handeln zugleich in eine gedachte hierarchische Ordnung einbinden. Insgesamt profitierte das Regime zweifellos von solchen Initiativen, da damit die Verwaltungspraxis den ideologischen Zielen des Nationalsozialismus angepasst und immer weiter radikalisiert wurde, obwohl dies sich nicht notwendig aus der Rechtslage ergab.[15]

C. Entgegensetzung und gegenseitige Ergänzung von Partei und Staat

7

Dualismus von Partei und Staat

Die gesetzlich vorgeschriebene Einheit von Partei und Staat[16] ist bis 1945 nie konsequent verwirklicht worden. Ganz im Gegenteil, die kräftezehrenden Verwaltungsgeschichte des Nationalsozialismus ist geprägt von einer aufreibenden und kräftezehrenden Konkurrenz zwischen Partei- und Verwaltungsinstitutionen. So sah sich die traditionelle Verwaltung ab 1933 immer wieder gezwungen, mit Einrichtungen der NSDAP, die nach mehr Einfluss strebten, und mit neu geschaffenen, führerunmittelbaren Sonderbehörden um die Macht zu wetteifern. In diesen Auseinandersetzungen konnte sie sich häufig nicht durchsetzen, sondern wurde in die zweite Reihe gedrängt. Nur der „Führer“ und Reichskanzler Adolf Hitler überwölbte und beherrschte die dabei entstehende „Polykratie“, da er allein die unantastbare Stellung besaß, um im NS-Herrschaftsgefüge Konflikte zu schlichten, unklare Kompetenzabgrenzungen vorzunehmen und Konkurrenzsituationen für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Der Dualismus von Partei und Staat führte nach Kriegsende zu der Selbstrechtfertigung unzähliger früherer Verwaltungsmitarbeiter, man habe nach 1933 – im Gegensatz zur NSDAP und zu den „150-prozentigen Parteijuristen“ – der von außen herangetragenen Politisierung und Ideologisierung getrotzt und die „schlimmsten Auswüchse“ der NS-Politik verhindert.[17] Diese nachträgliche exkulpierende Darstellungsweise, die auch die Historiographie über die Zeit des Nationalsozialismus lange Zeit prägte, beinhaltet ein hohes Maß an Selbsttäuschung. Denn auch wenn es eine Konkurrenz zwischen Parteivertretern und Verwaltungsmitarbeitern zweifellos gegeben hat, ist eine klare Entgegensetzung von normgeleitetem, rationalem und gleichsam anständigem Verwaltungshandeln des Staates hier und verbrecherischen Maßnahmen von überzeugten Parteivertretern und Parteiinstitutionen dort nur mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Schließlich hatte bereits Ernst Fraenkel in seiner bahnbrechenden Studie über den nationalsozialistischen „Doppelstaat“ von 1941, auf den die kategoriale Unterscheidung von regelgeleitetem Normen- und willkürlichem Maßnahmenstaat zurückgeht, auf die enge institutionelle Verflechtung beider Handlungsformen hingewiesen: „Um Missverständnisse auszuschalten, möchte ich bereits hier ausdrücklich betonen, dass ich nicht das Nebeneinander von Staats- und Parteibürokratie im Auge habe, wenn ich vom ‚Doppelstaat‘ spreche. […] Es wäre jedoch müßig, zwischen ihnen eine juristisch haltbare Unterscheidung vorzunehmen. Staat und Partei werden in zunehmendem Maße identisch und die dualistische Organisationsform bleibt nur aus historischen und politischen Gründen erhalten.“[18]

8

Einflussverlust des Reichsinnenministeriums als Verwaltungsministerium

Um dies zu veranschaulichen, kann auf die Entwicklung des Reichministeriums des Innern in der Zeit zwischen 1933 und 1945 verwiesen werden.[19] Dieses Ministerium wurde ab 1933 von Wilhelm Frick geleitet, einem überzeugten Nationalsozialisten.[20] Als Parteimitglied der ersten Stunde hatte er sich bereits am Münchener Hitler-Putsch von 1923 beteiligt und war zwischen 1930 und 1931 als thüringischer Staatsminister für Inneres und Volksbildung der erste Nationalsozialist, der ein hohes Regierungsamt bekleidete. Frick war der festen Überzeugung, dass eine auf traditionellen Verfahren beruhende, ordnungsstiftende, berechenbare Verwaltung, die zugleich dafür prädestiniert war, auf schöpferische Weise im Sinne des Regimes tätig zu sein, für ein funktionierendes nationalsozialistisches Herrschaftssystem unverzichtbar war. Dementsprechend wollten er und sein Ministerium bei der juristischen Kompetenz der Verwaltungsbeamten keine Abstriche hinnehmen, sie wehrten sich gegen die Verwendung schlecht ausgebildeter, aber politisch zuverlässiger Parteimitglieder, betonten stets die zentrale Bedeutung von geregelten Verfahren und versuchten, prestigereiche nationalsozialistische Gesetzesinitiativen voranzubringen, um Zuständigkeitskonflikte etwa der Verwaltungsmittelinstanzen zu lösen und dem Regierungssystem eine fest gefügte, dauerhafte Struktur zu geben. Dieses Engagement bedeutet freilich nicht, dass Frick weniger nationalsozialistisch eingestellt war als andere Mitglieder der NS-Führungsriege um Adolf Hitler. An seiner völkisch-nationalsozialistischen und dezidiert antisemitischen Gesinnung ließ Frick nie einen Zweifel aufkommen. Es ging ihm aber darum, die Resultate der nationalsozialistischen Revolution in gesetzliche Bahnen zu lenken, da sie auf diese Weise einfacher zu bewahren und effizienter zu nutzen seien. Dementsprechend spielte das Reichsinnenministerium eine zentrale Rolle beispielsweise bei der Erarbeitung der Nürnberger Rassengesetze von 1935[21] und des seit langer Zeit geplanten Deutschen Beamtengesetzes von 1937.[22] Doch mit dieser Position stieß das Reichsinnenministerium bei anderen Nationalsozialisten und zunehmend auch bei Hitler auf Widerstand, da sie von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Juristen und Beamten geprägt waren und zugleich den dynamischen, von rechtlichen Schranken losgelösten Charakter der Bewegung unbedingt bewahren wollten. Letztlich zeigte sich, dass der Führerstaat an einer längerfristigen ordnenden Fixierung und Vereinheitlichung seines Herrschaftssystems nicht interessiert war. Folglich nahm der Einfluss des Reichsinnenministeriums besonders nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich ab, was etwa darin zum Ausdruck kam, dass Frick immer weniger direkten Zugang zum „Führer“ erhielt. Selbst als Heinrich Himmler 1943 Frick als Reichsinnenminister ablöste, konnte das Ministerium keinen größeren Einfluss mehr entfalten.

9

Enge Verknüpfung von Verwaltungsarbeit und Verbrechen

Der hier zum Ausdruck kommende institutionelle Dualismus ist aber nur die eine Seite der Medaille. Speziell in Verwaltungsbereichen, die in die Verbrechen des NS-Staates involviert waren, waren rechtsförmige Verfahren von ideologischen und willkürlichen Elementen durchdrungen. Der Normen- und der Maßnahmenstaat im Sinne Ernst Fraenkels waren hier also eng miteinander verflochten. Für das Gebiet der Finanzverwaltung erklärte schon 1934 § 1 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes folgenden Grundsatz zum Leitprinzip der Behörden: „Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen.“[23] Bei der Gesetzesanwendung, wo dem Anwender ein Ermessen aufgrund von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen zustand, wurden diese fortan konsequent im nationalsozialistischen Sinne gefüllt. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Anwendung der Reichsfluchtsteuer.[24] Ohne dass der Wortlaut der Verordnung von 1931 entscheidend verändert worden wäre, wurde diese ab 1933 gegen vertriebene Juden zweckentfremdet. Der ursprüngliche Sinn der Regelung lag darin, dass vermögende Personen durch eine hohe Steuer von einer Auswanderung abgeschreckt werden sollten. Obwohl aber Juden gar keine Steuerflüchtlinge waren, sondern durch den Entzug ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlagen in die Emigration getrieben wurden, fand die Regelung perfiderweise auf sie Anwendung. Damit sicherte sich der nationalsozialistische Staat mit Hilfe der Reichsfluchtsteuer einen Teil ihres Vermögens. „De facto gewann die Reichsfluchtsteuer für Verfolgte des NS-Regimes“, so die Historikerin Christiane Kuller, „den Charakter einer erzwungenen Teilenteignung. Sie steht damit exemplarisch für Gesetze, die formal nahezu unverändert fortbestanden, im Kontext anderer nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen ab 1933 aber ihre Funktionsweise grundlegend veränderten und dadurch zu Verfolgungsinstrumenten wurden.“[25] Selbst die als unpolitisch erscheinende Finanzverwaltung war aufgrund eines Prozesses der kumulativen Radikalisierung immer mehr in die Judenverfolgung im Reich involviert. Häufig wartete sie gar nicht auf neue gesetzliche Vorgaben, sondern füllte kleinste Spielräume, die die Gesetze boten, konsequent im Sinne der ideologischen Vorgaben des Regimes, um die Ausplünderung und Entrechtung der Juden weiter voranzutreiben. Ihre Verstrickung in den Holocaust fand durch die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom November 1941 gleichsam ihren bürokratischen Abschluss. Diese Verordnung regelte u. a. die Verwertung der letzten in den Wohnungen zurückgelassenen Gegenstände, die genau zu dem Zeitpunkt beginnen sollte, wenn die Juden auf dem Weg in die Ghettos und Gaskammern im Osten die Grenze des Deutschen Reiches überschritten und damit ihre Staatsangehörigkeit verloren hatten.[26]