Handbuch des Verwaltungsrechts

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2. Gemeinsame Kriegsbeute: Elsass-Lothringen als „abhängiges Land“

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Besatzung, Diktaturphase und „politische Beamte“

Nach seiner Besatzung im Französisch-Deutschen Krieg 1870 wurde das eroberte Elsass mit einem Teil des auf diese Weise geteilten Lothringen als gemeinsames Reichsland aller Bundesstaaten im Deutschen Reich konstituiert, ohne dabei deren volle Rechte zu erhalten. Es blieb ein dauerhafter Krisenherd.[81] Nach Reichsgründung und Friedensschluss folgte durch das Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871 wie zuvor in Norddeutschland eine Diktaturphase. Mit dem allein von Kaiser und Bundesrat erlassenen Landesgesetz vom 30. Dezember 1871 über die Einrichtung der Verwaltung wurde der Reichskanzler alleiniger Minister für das Land. Im Lande verfügte der Oberpräsident als Leiter der Verwaltung über den berüchtigten „Diktaturparagraphen“ (§ 10), der dem französischen Belagerungszustandsgesetz vom 9. August 1849 entnommen war, und konnte die Truppen im Lande requirieren. Eine Woche vor dem Ende der Diktaturphase übernahmen Kaiser und Bundesrat das Reichsbeamtengesetz vom 31. März 1873 für die Beamten und Lehrer des Landes. Dabei erweiterten sie dessen Katalog von Stellen „politischer Beamter“ noch weiter, als er schon seit 1867 in den neuen Provinzen Preußens reichte. Er schloss nun auch Lehrer an niederen Schulen ein, obwohl doch nur in Ausnahmefällen Beamte aus französischer Zeit übernommen wurden.[82]

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Reichslandzeit ab 1874

Am 1. Januar 1874 wurde die Reichsverfassung auch in Elsass-Lothringen eingeführt. Das Land wurde damit „Reichsland“ in dem Sinne, dass es nicht seinem Monarchen oder seiner Oligarchie (wie die drei Freien Städte) „gehörte“, sondern vom Reich gemeinsam beherrscht wurde. Flagge und Wappen waren die des Reiches. Mit der Verfassung 1879 trat ein „Kaiserlicher Statthalter“ an die Spitze des Landes, und es erhielt eine Regierung aus einem Staatssekretär und bis zu vier Unterstaatssekretären, die Reichsbeamte waren. Der elsässische Staatsrechtler Robert Redslob erarbeitete dazu eine vergleichende Studie über „abhängige Länder“, unter die er als erstes das Reichsland einordnete. Der Diktaturparagraph wirkte durch seine Anwendung zuerst im Kulturkampf gegen die Katholiken, später gegen die Sozialdemokratie, vor allem aber durch das Bewusstsein aller Beteiligten davon, dass dieses Machtmittel in der Hand der Behörden lag. Er wurde erst 1902 widerstrebend abgeschafft, um mit diesem Zugeständnis die Personal- und Ausgabenpolitik von Kaiser Wilhelm II. im Lande abzusichern. Die Zabern-Affäre 1913 mit massiven Übergriffen der Armee gegen die Bevölkerung der Stadt verdeutlichte die – vom Reichstag missbilligte (mehr konnte er nicht tun) – Machtlosigkeit der Reichs- und Landesverwaltung gegenüber dem vom königlichen Oberbefehl nach außen hin eisern gedeckten Fehlverhalten des Militärs.[83]

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Willkürherrschaft im Weltkrieg

Das Reichsland wurde im Kriegszustand ein Ort besonderer Willkürakte der Armee im eigenen Lande. Mit Kriegsbeginn kam es zu Geiselnahmen in der Bevölkerung, politisch gezielten Zeitungsverboten und Einschüchterungsmaßnahmen gegen den Landtag, der nur noch einmal im Jahr ganz kurz zusammentreten sollte, um schnell dem Haushalt zuzustimmen. Die Abgeordneten erreichten dann, dass sie bei den Haushaltsberatungen vertraulich auch Beschwerden vorbringen durften. Dennoch wurde dem SPD-Abgeordneten Jacques Peirotes außerhalb der Session, als keine Immunität mehr galt, ein Zwangswohnsitz in Preußen zugewiesen. Ein Dauerthema war die seit 1915 anhaltende Haft des katholisch-frankophilen Landtagsabgeordneten Médard Brogly, dem ein Kriegsgericht auch sein Mandat abgesprochen hatte. Für ihn setzte sich Landtagspräsident Eugen Ricklin ein, der danach, obwohl er Abgeordneter von Reichstag und Landtag war, als Feldarzt aus dem Garnisonsdienst im Elsass nach Verdun abkommandiert wurde. Hätte er es nicht 1918 doch noch geschafft, für Brogly eine Zusatzration zu erwirken, wäre dieser wohl beinahe im Gefängnis verhungert.

3. Finanzen im Föderalismus

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„Armes“ Reich

Strukturell war das neue Reich immer „arm“, denn es hatte kaum eigene, selbst bestimmte Einkünfte; das war ein politischer Preis für die Aufgabe ihrer Souveränität durch die Bundesstaaten. Das Reich finanzierte sich aus den zugunsten der Staaten gedeckelten Zolleinnahmen, aus den „Matrikularbeiträgen“ (in Anlehnung an das Alte Reich), die auf die Staaten umgelegt wurden, aus eigener wirtschaftlicher Tätigkeit der stetig wachsenden Reichspost mit Telegraf und Telefon, aus neuartigen Steuern und aus kräftiger Schuldenaufnahme. Die Ausgaben des Reiches flossen mindestens zu zwei Dritteln in den Ausbau des Heeres und nach 1900 der Flotte. Zu deren Finanzierung griff das Reich 1913 zur neuen Vermögensabgabe eines „Wehrbeitrags“ in Höhe von maximal 1,5 Prozent, verteilt auf drei Jahre. Im Ersten Weltkrieg kam 1916 eine als Stempelsteuer (auf die Quittungen) ausgestaltete neue Steuer auf Warenumsätze in Höhe von 0,1 Prozent hinzu, die 1918 zu einer allgemeinen, auch auf Dienstleistungen erhobenen Umsatzsteuer in Höhe von 0,5 Prozent erweitert wurde. Auf Reich, Bundesstaaten und Gemeinden entfielen vor dem Krieg etwa ein Zehntel des Volkseinkommens; im Kriegsjahr 1917 „verbrauchten“ sie über 70 Prozent. Die Einnahmen hielten immer weniger Schritt mit der spürbaren Geldentwertung.

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Große Unterschiede der Besteuerung

Im Kaiserreich ging man mehrheitlich zur Subjektbesteuerung über, die mehr Steuergerechtigkeit und eine bessere Ausschöpfung des Steuerpotenzials bringen sollte. Steuerzahler mit größeren Einkommen (etwa dem Dreifachen des Durchschnitts) mussten nun erstmals ihre Einkünfte erklären. Gerade im großen Preußen gab es in Finanzfragen viele Konfliktfelder, zwischen Monarch und Parlament, zwischen agrarischen und kapitalistischen Interessen und zwischen den Parteien, wenn es um die lenkende Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung ging. Die Finanzverwaltungen Süddeutschlands kontrollierten die Steuerzahler deutlich intensiver als die preußische, in der der Landrat selbst die Höchstbesteuerten veranlagte, während er gerade in Ostelbien oft einer der Ihren war.[84]

III. Aufbau neuer Leistungsverwaltungen zur Daseinsvorsorge

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Hoheitsverwaltung und Daseinsvorsorge

Verwaltung war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich Hoheitsverwaltung. In ihr übten relativ wenige höhere Beamte, unterstützt von Kanzleipersonal („Zivilsupernumerare“ und andere „Subalternbeamte“), stellvertretend für den Monarchen dessen Majestäts- und Herrschaftsrechte konkret aus. Im Zuge der Industrialisierung wurden auch Staat und Verwaltung unternehmerisch tätig. Mit wirtschaftlichen Eigenbetrieben schufen Reich, Bundesstaaten und Städte grundlegend neue Infrastrukturen für das Wirtschaftswachstum wie Post, Bahn, Telegraf und Telefon, Wasser-, Gas- und Elektrizitätsnetze, Kanalisationen, Häfen usw., die damals fast alle auch gewinnorientiert und recht einträglich waren. Der Begriff der Daseinsvorsorge durch eine nicht mehr nur hoheitlich tätige, sondern auch Dienstleistungen für Wirtschaft und Gesellschaft erbringende Leistungsverwaltung wurde erst relativ spät, im Jahre 1938, durch Ernst Forsthoff geprägt.[85] Er ging dabei von einer „zwangsläufigen“ Entwicklung „der modernen Daseinsweise“ zu „sozialer Bedürftigkeit“ (nicht im Sinne klassischer Fürsorge, eher als Abhängigkeit von Technik) nach immer mehr solcher technischer „Leistungen“ aus, auf die der „nicht mehr autarke“ moderne Mensch „lebensnotwendig angewiesen“ ist. Der Rechtsordnung, jedenfalls der des Nationalsozialismus, gab er die Aufgabe, die „Teilhabe“ des Einzelnen „als Volksgenosse“ (der Begriff schloss Juden aus) zu verfestigen, „als eine Art von Ersatz für jene überholten Sicherungen, welche die Grundrechte in sich beschlossen“, die „der Geschichte angehören“.[86]

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Sozialversicherung

Bismarcks Sozialversicherungen verbanden Gesellschaftspolitik zur Abwehr der „gemeingefährlichen Bestrebungen“ der aufsteigenden Sozialdemokratie mit Anfängen moderner Leistungsverwaltung. In der Aufbauorganisation der Invaliden- und Altersversicherung war das Reich über die Reichspost, die die Versicherungsmarken für die Beitragszahlung verkaufte, mit der föderalen Struktur aus Landesversicherungsanstalten verbunden. Die Rentenverfahren liefen recht versichertenfreundlich ab, und die ersten, nach kurzer Versicherungszeit noch nicht besonders hohen, Renten wurden verlässlich wieder über die Post ausgezahlt und schufen Vertrauen in das System. Versicherungsähnlich war der Aufbau eines Kapitalstocks, aus dem die regionale Selbstverwaltung durch die Beitragszahler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einer Art Multiplikatoreffekt z. B. Hypotheken für Arbeiterwohnungsbauten vergab.[87]

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Betriebsbeamtinnen und Betriebsbeamte

Das Personal der öffentlichen Betriebe wurde teils mit kündbaren Arbeitsverträgen eingestellt, als lohnabhängige (Staats-)Arbeiter und als „Privatbeamte“, wie die Angestellten in großen Unternehmen hießen, teils aber auch als Beamte mit geringerem Status. Am Beamtenstatus der neuen „Betriebsbeamten“ (auch als „Arbeiter-Beamte“ oder „Massenbeamtentum“ bezeichnet) war die Armee besonders interessiert, um länger dienende Unteroffiziere versorgt zu wissen. Zivilversorgungsscheine ermöglichten Militäranwärtern den Zugang zu Bahn oder Post und dort zum Aufstieg in den Beamtenstatus mit Anrechnung der Militärjahre auf die Pension. Im Bildungswesen wuchs neben den akademischen Gymnasiallehrern mit Staatsexamina (Oberlehrer) sehr viel stärker die Gruppe der oft schlecht durch die Gemeinden besoldeten Lehrer an Volksschulen, die erstmals 1892 in Baden den Status mittlerer Beamter erhielten. Dort wurden seit 1864 auch Frauen verbeamtet, als Telegrafistinnen und Telefonistinnen, lange bevor dies auch für Lehrerinnen galt.[88] Bei der Reichspost waren 1913 zur Wahrung des Briefgeheimnisses drei Viertel ihres Personals von 334.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Beamte.

 

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Beamtenvereine und Weiterbildung

Die ersten Organisationen dieser schnell wachsenden neuen Beamtengruppe zielten auf wirtschaftliche Selbsthilfe durch Einkaufsgenossenschaften und auf Unterstützung bei beruflicher Weiterbildung. Beförderungen setzten zwar das Bestehen von Aufstiegsprüfungen voraus, aber die Dienstherren sorgten hier keineswegs für innerdienstliche Vorbereitung oder gar strukturierte Schulungen. Dagegen war es unerwünscht, Gruppeninteressen bei Einstufung, Gehalt und Vorrücken zu vertreten. Gewerkschaftliche Betätigung galt als illoyal, als Misstrauen gegen die Vorgesetzten, die die Beurteilung der Lage der Beamten als ihre ureigene Aufgabe ansahen, abgeleitet aus den Herrschaftsrechten des Monarchen. „Natürlicher“ Vertreter aller Interessen der Beamten war im damaligen Verständnis vom einseitigen und nicht-vertraglichen öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis der monarchische Staat, ihr Arbeitgeber. Der Druck ging so weit, dass die Vereine von sich aus auf Petitionen an die Landtage verzichteten: „[W]ahrer Männerstolz sollte es vorziehen zu schweigen, statt die Volksvertretung […] zwischen sich und diejenigen zu stellen, die für uns einzutreten berufen sind.“ Auch an Betriebsausschüsse oder andere Formen der Personalvertretung innerhalb von Verwaltungen war noch überhaupt nicht zu denken. Als bei der Reichspost ab 1890 erste überregionale Beamtenvereinigungen entstanden, wurden deren Funktionäre und Mitglieder strafversetzt und entlassen. 1898 wurde den Postbeamten sogar das Abonnieren einer Verbandszeitschrift verboten; zeitgenössische Kritiker beschrieben diese Unternehmenskultur als „Bürgerkrieg“.[89]

IV. Innovative Selbstverwaltungen in Großstädten und deutliche Grenzen auf dem Land

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Oberbürgermeister und „Munizipalsozialismus“

Die Großstädte waren handlungsfähiger als es das föderale Reich und die Monarchien mit ihrer Spannung zwischen Verwaltung und Militär sein konnten. Zwar waren die Stadträte fast überall „Hausbesitzerparlamente“, die nur von grundbesitzenden oder selbstständigen Stadtbürgern gewählt waren, doch tatkräftige Oberbürgermeister fanden hier ein weites Tätigkeitsfeld. Sie waren Juristen, die bei Verwaltungsarbeit vor allem an Gestaltungsaufgaben interessiert waren, sich aber in Preußen bei der gesinnungsgesteuerten Auswahl der Regierungsreferendare wenig Chancen ausrechneten. Sie begannen ihre Berufskarriere im Rahmen eines Magistrats, bewarben sich dann erfolgreich um die Wahl zum Bürgermeister einer Mittelstadt und stiegen von da zum Oberbürgermeister einer Großstadt auf, mit 12 Jahren oder lebenslänglicher Amtszeit. Als Folge der Allzuständigkeit der Gemeinden erweiterten sie sehr früh die Kommunalverwaltungen zu Leistungsverwaltungen, deren Betriebe kräftig zu den Einnahmen beitrugen. Das zeitgenössische Schlagwort vom „Munizipalsozialismus“ brachte das in Zusammenhang mit „Staatssozialismus“ und den sozialpolitischen Ideen der „Kathedersozialisten“ im Verein für Socialpolitik.[90]

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Universität, Stadtplanung, Infrastruktur

Einzigartig war 1914 die Gründung der großen Stiftungsuniversität Frankfurt durch Franz Adickes, die bewusst liberal erstmals auch Juden als Lehrstuhlinhaber zuließ. Ihr Kapital wurde vor allem im Bürgertum zusammengetragen; das war ein Zeichen städtischen, großbürgerlichen und jüdischen Selbstbewusstseins. Aus Dortmund und Altona brachte Adickes auch ein Engagement für Boden- und Wohnungspolitik mit und setzte in Frankfurt eine Bodenwertzuwachssteuer von 25 Prozent durch. Das zuvor nur auf dem Lande genutzte Instrument der Umlegung übertrug er durch ein Spezialgesetz (Lex Adickes vom 28. Juli 1902) in seine Stadt, um den drängenden Wohnungsbau zu erleichtern.[91] München veranstaltete 1893 erstmals einen weithin beachteten Stadtplanungswettbewerb. Der damals übliche Begriff der Stadterweiterung sah noch nicht die Zukunftsorientierung von Planung als das entscheidend Neue, sondern dachte noch in Kategorien territorialer Ausdehnung. Ab 1894 erarbeitete das Stadterweiterungsbüro, das weltweit erste Stadtplanungsamt, im Zusammenspiel mit den Juristen des Magistrats ein bis in die Umlandgemeinden ausgreifendes Regelwerk für Baugenehmigungen, womit es Flächennutzungs- und Bebauungsplan vorwegnahm.[92] Straßburg wurde von 1906 bis 1918 durch Bürgermeister Rudolf Schwander zu einer der modernsten Großstädte Deutschlands umgestaltet. In der größten deutschen Innenstadtsanierung vor 1918 verband er stadtplanerisch den Abriss von unhygienischen Wohngebieten im Stadtzentrum mit der Anlage eines breiten Boulevards in der City und einer Gartenstadt am Stadtrand. Die fehlende Aktienmehrheit am Elektrizitätswerk erwarb Schwander über Schweizer Börsen Stück für Stück, unbemerkt vom Hauptaktionär Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG). Dennoch gelang es ihm, mit Walther Rathenau eine gemeinwirtschaftliche Basis für den Ausgleich städtischer und privater Interessen zu finden. Gemeinsam führten sie das neue städtische Kohlekraftwerk am neuen Rheinhafen in den ersten internationalen Elektrizitätsverbund mit den deutsch-schweizerischen Grenzkraftwerken, die oberhalb von Basel die Wasserkraft des Rheins nutzten.[93]

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Ostelbische Gutsbezirke als Gegenbild

Im 19. Jahrhundert verfestigten sich im ostelbischen Preußen die alten Herrschaftsrechte des adeligen Gutsbesitzes wieder. Nach den Landzuwächsen durch die Bauernbefreiung entstanden mehr und größere „Gutsbezirke“. Zwar entfiel dort 1849 die gutsherrliche Gerichtsbarkeit im Gefolge der Revolution, doch blieben genug obrigkeitliche Verwaltungsaufgaben. Auch die Organisation neuer Leistungen war Sache der Gutsbesitzer, z. B. seit 1842 in der Armenpflege und ab 1906 bei den Schullasten; die Finanzierung wurde auf die Gutsuntertanen verteilt. Anders als in den Landgemeinden gab es aber keine Mitwirkungsrechte der wirtschaftlich abhängigen Einwohner. In den östlichen Provinzen bestanden 1888 neben 24.500 Gemeinden über 15.700 Gutsbezirke. Das Nicht-Wissen des Staates über die Verhältnisse dort war groß.[94]

V. Herausforderungen im Ersten Weltkrieg 1914–1918

1. Kriegszustand und Ermächtigungsgesetz 1914

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Unterschiedliche Strukturen

Mit der Mobilmachung 1914 trat in Preußen und allen Bundesstaaten außer Bayern der Belagerungszustand neben und über die Reichsverfassung, denn der Verfassungsauftrag (RV, Art. 68) zu einem Kriegszustandsgesetz war nicht erfüllt worden. Nach dem preußischen Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851 ging die vollziehende Gewalt in die Hände der Militärbefehlshaber über, die über alle (!) zivilen Stellen traten, selbst die Ministerien. Die Stellvertretenden Kommandierenden Generäle (die Generalkommandos standen im Felde) konnten für ihre Bezirke alle Rechtsvorschriften außer Kraft setzen. Ihre militärischen Bezirke deckten sich aber nicht mit der administrativen Landkarte, und jeder von ihnen entschied unkoordiniert für sich. Im Ruhrgebiet gaben die Militärbefehlshaber pragmatisch ihre Vollmacht an die zivile Seite weiter, an die Regierungspräsidenten in Münster und Arnsberg (Westfalen) und in Düsseldorf und Köln (Rheinprovinz). Deren Beauftragte legten dann bei regelmäßigen Treffen im zentralen Dortmunder Hauptbahnhof einheitliche Lebensmittelrationen für die Schwerarbeiter in der Montanindustrie fest. Moderner und rechtsstaatlicher war das bayerische Gesetz über den Kriegszustand von 1912, das dem Justiz- und nicht dem Kriegsministerium die Ausführungsbestimmungen zuwies. Vor allem aber hatten die bayerischen Militärbefehlshaber keinen Einfluss auf die Staatsregierung und ihre Ministerien; im Gegenteil, sie wurden durch Richtlinien des Kriegsministeriums einheitlich gesteuert.[95]

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Wirtschaftliche Ermächtigungsgesetze 1914

Der Reichstag ermächtigte am 4. August 1914 ohne Begründung und ohne Diskussion den Bundesrat, das Organ der verbündeten Regierungen, also der Exekutive, in Wirtschaftsfragen gesetzesgleiche Verordnungen aller Art zu erlassen,[96] womit er sich selbst entmachtete. Der Bundesrat übertrug seine Gesetzgebungsvollmacht auf seinen Vorsitzenden, den Reichskanzler, und der wieder auf die ihm unterstellten wirtschaftsleitenden Behörden. Damit war der Grundstein gelegt für eine administrative Lenkung der Kriegswirtschaft, in die in der Rohstoffbewirtschaftung auch starke planwirtschaftliche Elemente einflossen. Am selben Tag enthob der Reichstag auch die Reichsbank von ihrer Pflicht zur Einlösung ihrer Noten in Gold und ermöglichte so, in Erwartung der Deckung durch die besiegten Kriegsgegner, die unbegrenzte Verschuldung durch unbegrenzte Geldschöpfung, die unmittelbar in die Nachkriegsinflation führte.[97]

2. Konfliktreiches Nebeneinander von königlicher Regierung und königlichem Oberbefehl

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Leuchtölkrise 1918

Aus dem monarchischen Prinzip ergab sich die das ganze Jahrhundert bestimmende Spannung zwischen ziviler und militärischer Seite von Herrschaft und zwischen einer durch die Verfassung eingehegten Regierung und einer absolutistisch geführten Militärmacht. Das zeigte sich verstärkt zum Ende des Weltkriegs in der geheim gehaltenen Leuchtölkrise. Im Juli 1918 warnte das Reichswirtschaftsamt vor dem bevorstehenden Zusammenbruch der Versorgung mit Leuchtöl und damit vor einem breiten Ausfall der Beleuchtung in Städten, Fabriken und Wohnungen im kommenden Winter. Die Marine beanspruchte das Öl für ihren uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der die USA zum Kriegseintritt bewogen hatte. In einem Spitzentreffen erklärte die Verwaltung, für die weit verbreiteten Petroleumlampen stünde nur noch ein Viertel dessen an Leuchtöl in Aussicht, was im Winter 1917 als absolutes Minimum gegolten hatte. Man würde auf dem Lande im Winter wohl „von 4 Uhr an im Dunkeln sitzen“ und bei den Bergleuten seien Arbeitsausfälle und weitere Unruhen zu erwarten. Doch die Marine wollte ihren Bedarf nicht verringern und verwies vage auf Öl aus Baku. Nachdem sie sogar noch weiterten Bedarf in Aussicht stellte, beschwor der Vertreter des preußischen Handelsministeriums unverblümt die Gefahr von Aufständen und versuchte den Offizieren klar zu machen, dass ihr Einlenken doch nichts Anderes wäre als eine „Versicherungsprämie“ für ihren weiteren „Betrieb“. Doch man ging ohne Klärung auseinander; weitere Überlegungen erübrigten sich dann allerdings.[98]

84

Waffenstillstand: Tage der Wahrheit

Am 29. und 30. September 1918 forderte völlig überraschend im Hauptquartier in Spa General Erich Ludendorff von Kaiser und Reichskanzler den sofortigen Waffenstillstand, und Reichskanzler Georg Graf Hertling trat sofort zurück. Der auf zweifelhaften Wegen gefundene neue Reichskanzler Prinz Max von Baden unterzeichnete bei seiner Ernennung am 3. Oktober 1918 das Waffenstillstandsangebot an Präsident Woodrow Wilson, ohne innerlich dahinter zu stehen. Als er sich abends mit Vizekanzler Friedrich von Payer, Staatssekretären und preußischen Staatsministern besprach, erkannte der neue „politische“, aus dem Reichstag genommene, Staatssekretär Adolf Gröber ganz klar die Lage: „Unter den 14 Punkten [des Präsidenten Wilson] sind zwar einige bedenklich, besonders Elsass-Lothringen und Polen. Aber wenn Zwangslage so schrecklich, so ist Frage einfach: ergeben auf Gnade und Ungnade oder Gewinnung eines leidlichen Vermittlers. Vorschlag geht nicht weit genug.“ Und Vizekanzler Payer stimmte ihm zu, dass diese Bedenken „uns schon lange beschäftigt [haben]. Wir haben uns schließlich mit Feldmarschall auf die vorliegende Fassung geeinigt.“ Die Oberste Heeresleitung hatte also auch in ihrem endgültigen Scheitern noch Entscheidungsmacht über die Politik behalten – und übertrug der Politik die bedingungslose Kapitulation, ohne sie so zu nennen. Von da führte ein mühsamer Weg zwar noch zum Plan eines Parlamentarismus durch die Verfassungsänderungen vom 28. Oktober 1918, die aber keine reale Gestalt mehr annahmen. Und Elsass-Lothringen wurde verloren gegeben, wie den Politikern im Lande beim Waffenstillstandsgesuch sofort klar war. Der letzte Statthalter, Bürgermeister Rudolf Schwander, wurde zynisch verheizt, bis auch er sich das klar machte und eine letzte Initiative für einen neutralen Pufferstaat ergriff, für dessen Gründung aber keine Zeit mehr blieb.[99]