Handbuch des Verwaltungsrechts

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IV. Alltagspraktiken der Verwaltung

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Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Verwaltungsarbeit ist immer (auch) Schreibarbeit. Auf allen Ebenen führte die Verwaltung „lebende“ Akten in ihren Registraturen und griff gelegentlich auf alte, „tote“ Akten in den systematisch ausgebauten Archiven zurück. Vor allem in den Ministerien und den großen Mittelbehörden „arbeitete“ (Lorenz von Stein) der Staat arbeitsteilig, weniger auf der personell sehr dünnen Kreisebene und in Preußen bei den klein gehaltenen Oberpräsidien. Die Behörden teilten sich in größere Abteilungen und kleinere Einheiten darunter (Unterabteilungen, Referate), was Koordination verlangte. Ab 1800 verschob sich dabei die mündliche Beratung im kleinen Kollegium zum schriftlichen „Korreferat“ eines Kollegen und erweiterte sich später zur schriftlichen Beteiligung auch weiterer Stellen. Federführung und Mitzeichnung entzerrten weiter die zeitliche Folge der Arbeitsschritte. Der jeweilige Stand einer Sache war nun am besten aus der zugehörigen Akte (und nur aus ihr) nachvollziehbar.[66]

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Geschäfts- und Registraturordnungen

Die deutsche Verwaltung führte Akten „selbstverständlich“ als Sachakten. Die Vorgänge wurden nicht nach Datum in zufälligen Serien abgelegt wie Prozessakten bei Gerichten oder beurkundete Verträge bei Notaren, sondern nach einer abstrahierenden Sachstruktur ihrer Themen geordnet, in der sich engere und weitere Zusammenhänge abbilden konnten. Die Aktenführung wurde in internen Ordnungen für den Geschäftsgang der Behörden und speziell für ihre Registraturen geregelt. In Baden entwickelte der Reformer Johann Brauer 1801 eine Archiv- und Registraturordnung, die in Form von „Rubriken“ schon den Versuch eines ersten sachorientierten Aktenplans enthielt. Ähnliche Regeln enthielt das Organisationsedikt von 1808 für Preußen. Eine interne Machtverlagerung zu den Präsidenten verlangte in den Regierungen 1880/81 neue, stärker monokratische als kollegiale Ordnungen. Sie wurden ihrerseits ab 1900 „zur Verminderung des Schreibwerks“ überprüft, womit ein seitdem kontinuierlicher Prozess von Verwaltungsreformen einsetzte.[67] In anderen Verwaltungskulturen können sich beim Fehlen von Regeln für Aktenführung und Registratur die Beschäftigten z. B. persönliche Aktendepots aufbauen, deren Ordnung nur sie selbst verstehen, was ihnen ein Monopol gibt und sie trotz fehlender beamtenrechtlicher Absicherung unentbehrlich macht.

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Wissensmanagement durch Akten

Akten sollen vollständig, nicht verzögert, lückenlos und übersichtlich sein.[68] Über die eigentliche Korrespondenz mit Vorgesetzten und Antragstellern hinaus sichern Aktenvermerke ohne Adressaten die Erinnerung einer Behörde an ihre früheren Überlegungen und Absichten. Zu häufigeren Themen legte man auch Sammlungen von Entscheidungen in Präzedenzfällen an. Akten sind damit Instrumente eines Wissensmanagements über Personen und Zeiten hinweg. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten haben Stellvertreter und alle Vorgesetzten bis hinauf zum Minister bis heute Zugang zu jeder Akte und sollen den Sachstand in kurzer Zeit aus der Akte erkennen können. Damit man Akten in diesem Sinne fortlaufend lesen und verstehen kann, werden neue Schriftstücke meist am Ende eingefügt. Dies entsprach auch dem „Aktennähen“ durch Lohnbuchbinder, das zudem die Vollständigkeit sicherte, bis es im 20. Jahrhundert durch die Innovation des Loseblattordners zu teuer wurde. Alternativen zur Fadenheftung waren die badische Oberrandbindung mit dem badischen Aktenknoten und die württembergische Praxis von Büscheln aus losen Blättern mit dem neuesten Vorgang obenauf. Als Kurzzeitgedächtnis der arbeitenden Verwaltungen musste die Registratur auch stets wissen, wo im Haus sich eine Akte befindet – und war bestrebt, sie auf möglichst begrenzte Zeit auf Schreibtischen im Hause zu halten.[69]

V. Handlungsspielräume der Verwaltung

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Regieren und Verwalten

Die Krone teilte sich die Legislative mit den Parlamenten nur, soweit es um Freiheit oder Eigentum der Untertanen ging. Die Justiz führte nach der Einhegung königlicher Machtsprüche ein Eigenleben, gestützt auf die Unabsetzbarkeit der Richter. Die Exekutive aber war das eigentliche Vorrecht der Krone und in der Praxis ihrer Regierung.[70] Das umfasste alles, was sich unterhalb der Parlamentstätigkeit in dem weiten Raum zwischen dem Staatsministerium und dem Dorfschulzen abspielte, wenn er Anweisungen des ihm vorgesetzten Landrats empfing, ob das arbeitsteilig organisiert war wie in Ministerium und Regierung oder „unten“ in der begrenzten Arbeitszeit eines alleine arbeitenden, höchstens von einem zugewiesenen Assessor unterstützten Landrats ausgeführt wurde. Verwaltungstechnisch verfestigte sich der Anspruch der obersten Stellen auf Umsetzung schon früh in ihrer Praxis, erläuternde Ausführungsverordnungen unter verschiedenen sich überlappenden Begriffen zu erlassen. Für die Wirkungen von Verwaltung bis nach unten muss man ferner zwischen einem Regieren durch allgemeines Anweisen, auch und gerade unterhalb der Gesetze, und der Realität des ausführenden Vollzugs im Verwalten unterscheiden. Das ist besonders schwierig bei den Mittelbehörden – führten sie mehr aus, wie die Unterbehörden, oder wiesen sie selbstständig an, wie die Ministerien?[71]

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Implementation im Vollzug

Die von formaler Hierarchie bestimmte Perspektive erweitert sich, wenn man verwaltungsinterne Kommunikationsflüsse auch in der Gegenrichtung von unten nach oben einbezieht. Die Geschäftspraktiken der Verwaltung standen immer in einem Prozess der Verdeutlichung, Konkretisierung und punktuellen bis grundlegenden Verbesserung, der sich in einem sachorientierten und insofern hierarchiefernen Dialog zwischen den oben und unten Beteiligten entwickelte. Verwaltungsintern wurden Änderungen weniger mit Strafandrohungen durchgesetzt, sondern eher mit Aufforderungen und Vernunftüberlegungen begründet. Das eröffnete auch untergeordneten Stellen einen Freiraum zu selbstständigem Tun, unter dem übergeordneten Ziel, im eigenen Handeln den Willen des Monarchen, das Gemeinwohl und das Wohl des Einzelnen zusammenzubringen. „Bestimmt“ zu sein und so zu handeln, wurde eine grundlegende Anforderung an Beamte. Angesichts der Komplexität der Welt und deren notgedrungener Vereinfachung in Vorschriften der Regierung erwies sich ein Handlungsspielraum im Sinne eines Ermessens[72] als notwendig, wenn die Beamten „möglichst frei und selbstständig wirken“ sollten. Die langen Zeiten praktischer Ausbildung nach dem Studium dienten auch dazu, sich mit Vorbildern, in die eine oder andere Richtung, auseinanderzusetzen und spätere eigene Freiheitsräume vorauszudenken.[73] Die gelebte Beamtenethik konnte und sollte dann die Sicherheit der Stellung mit eigenständigem Urteil und initiativfreudigem Handeln verbinden. Aus der Sicht eines hohen preußischen Reformbeamten war es 1840 Sache eines jeden höheren Beamten, „den Zweck der Vorschriften niemals aus den Augen zu verlieren; eben deshalb wird neben der besonderen Geschäftsbildung auch allgemeine von ihnen gefordert, damit sie den Geist der Gesetzgebung erkennen und demselben, nicht aber bloß dem todten Buchstaben nach, ihr Amt verwalten.“[74]

VI. Kommunikation mit den Adressaten der Verwaltung

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Kommunikationsformen

Viele Adressaten der Verwaltung waren noch gar nicht zu schriftlicher Kommunikation befähigt. Das alte Instrument der dem Herrscher übergebenen, von einem bezahlten Schreiber verfertigten „Supplik“ lebte in neuen bürokratischeren Formen als „Gesuch“, „Eingabe“ oder rechtlich spezifischer als „Beschwerde“ weiter. Ab einem gewissen materiellen Wert des Ansuchens musste in Preußen dafür Stempelsteuer entrichtet werden, indem man staatliches Stempelpapier benutzte oder Stempelmarken aufklebte und entwertete. Die Verwaltung erwartete auch Anpassung an ihre internen Regeln und Routinen. Eingaben waren möglichst schriftlich und in der Form amtlicher Berichte einzureichen, also nur auf der rechten Hälfte des Papierbogens beschrieben, damit man sie links falzen und buchbinderisch in die Akten einfügen konnte. Mündliche Vorsprachen waren auf der untersten Verwaltungsebene, in Gemeinde oder Kreis, üblich, bei höheren Stellen jedoch in hohem Maße unerwünscht und teils strafbewehrt. Zur Kommunikation mit den Verwalteten in die andere Richtung zählten auch die Praktiken von Landräten zumindest in Ostelbien, mit denen sie Wahlen sowohl als örtliche amtliche Wahlleiter als auch durch informellen persönlichen Druck auf Wählergruppen und Wähler beeinflussten.[75]

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Verwaltungsversagen oder Resistenz?

In den 1830er Jahren wurde in der Pfalz, der linksrheinischen Exklave Bayerns, der „Forstfrevel“ zur weitaus häufigsten strafbaren Handlung. Im Durchschnitt (!) wurden jährlich 15 bis 20 % der Einwohner bestraft, weil sie Brennholz, Waldfrüchte oder Gras gesammelt oder Tiere im Wald geweidet hatten. Bis zur Französischen Revolution war das üblich gewesen, denn verschiedene Nutzungsrechte konnten sich überlagern und viele Bevölkerungsgruppen waren am Wald unterschiedlich beteiligt. Mit dem neuen Eigentumsverständnis ging eine Kommerzialisierung des Waldes einher, bei der einfachere Leute ihren Bedarf nicht mehr ohne Weiteres erfüllen durften und in die Illegalität gedrängt wurden. Die Antwort der Verwaltung waren stetig steigende Strafen, die das Problem nur verstärkten – ein damals nicht erkannter Teufelskreis. Diese Ressourcenkrise wurde durch die neue, zukunftsbezogene Nachhaltigkeit in der Forstbewirtschaftung weiter verstärkt, bis mit dem Eisenbahnbau Kohle an Stelle des Holzes verfügbar wurde und der Forstfrevel abnahm. In Württemberg entstand ein langwieriger Konflikt über die Besteuerung des Wein- und Bierausschanks, die grundlegende Gewohnheiten des Alltags in allen Gemeinden in Frage stellte. In den preußischen Städten zeigten die Verwalteten ihre Resistenz, indem sie an den Stadttoren ihre Waren vorbeischmuggelten, und sahen ihre Vermeidung der Verbrauchssteuern berechtigt, um die echte oder geglaubte Teuerung aufzufangen. Der privilegierte preußische Adel dagegen leistete seinen Widerstand gegen die 1810 geplante Grundsteuer sehr viel subtiler, am Hofe selbst, aber auch durch seine familiären Beziehungen in die hohe Beamtenschaft, und hatte damit mehr Erfolg. In den Bewegungen von 1830 und 1848 bis 1850 wurde schließlich der Aufruf zur Steuerverweigerung zum politischen Instrument; andererseits bestimmte bei Zensuswahlrechten und Dreiklassenwahlrecht die erbrachte Steuerleistung das Maß politischer Teilhabe.[76]

 
D. Norddeutscher Bund und Deutsches Reich (1866/71–1914/18)

I. Integration annektierter Gebiete als Reformchance (1866)?

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Andere Ausgangslage als 1803

Nach dem Krieg Preußens und Österreichs gegen Dänemark um Schleswig und Holstein 1864 und dem innerdeutschen Krieg von 1866 vergrößerte Bismarck durch Annexionen erheblich Preußens Staatsgebiet, indem er die territoriale Einheit zwischen der Rheinprovinz und Westfalen einerseits und den östlichen Provinzen andererseits herstellte, und schuf so die Grundlage für die Führung Preußens im Norddeutschen Bund. Die Ausgangslage für die Integration war anders als in den Jahren um 1800. Preußen war inzwischen ein gefestigter Staat, und König und Regierung waren gerade dabei, die starke Stellung der Monarchie im Verfassungskonflikt mit dem Parlament um Heeresverstärkung und Budgetrechte durch das Indemnitätsgesetz vom 14. September 1866 zu befestigen. Die Gebietsgewinne sollten in die seit langem vorhandenen Strukturen integriert werden und es ging nicht darum, einen Staat aus verschiedenen Elementen neu zusammenzufügen.

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Okkupation und Diktaturphase

In allen von Preußen annektierten Ländern kam es zu einer längeren Phase der Diktatur durch die neue Verwaltung, gestützt auf das Recht des Eroberers. Bismarck plante eine Personalunion, an Verfassung und Parlament vorbei, die aber auch Hoffnungen auf Erhalt der alten Parlamente weckte. Erst die Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses setzte eine Realunion mit Einführung der preußischen Verfassung zum 1. Oktober 1867 fest. Am schärfsten durchgegriffen wurde in der Freien Stadt Frankfurt, die als liberal und antipreußisch galt, mit der aber nicht einmal wirklich ein Krieg erklärt worden war. Der letzte Ältere Bürgermeister der Stadt, Karl Fellner, hatte am 22. Juli 1866 eingewilligt, für die Besatzer als vereidigter Regierungsbevollmächtigter tätig zu werden. Die Armee verlangte nach einer ersten Kriegsentschädigung von über 5 Millionen Talern noch eine zweite von 25 Millionen. Fellner garantierte die Summe persönlich ohne vorherige Absprache mit den alten städtischen Gremien, doch die verweigerten ihm die Gefolgschaft. Preußen sah das als „Rebellion“ und wollte von Fellner Namen erfahren, und in dieser ausweglosen Situation nahm er sich am Morgen des 24. Juli 1866 das Leben. Gegenüber den besiegten Monarchen „von Gottes Gnaden“ setzte König Wilhelm I. auf großzügige Regelungen. In Hannover kam es zu einem Abfindungsvertrag mit König Georg V., der es jedoch ablehnte, darin auf seinen Thron zu verzichten, und politisch aktiv wurde. Die preußische Regierung beschlagnahmte darauf durch Notverordnung vom 2. März 1867, zwei Tage nach Ende der Parlamentssession, das im Lande befindliche Privateigentum der Königsfamilie sowie das vorgesehene Abfindungskapital von 16 Millionen Talern. Über die jährlichen Einkünfte daraus konnte die Regierung verfügen; sie bildeten den jeder Kontrolle entzogenen geheimen „Welfenfonds“ oder „Reptilienfonds“. Mit ihm beeinflusste Bismarck die Presse nicht nur gegen Georg V., sondern finanzierte auch die politische Polizei verdeckt mit und förderte politische Schachzüge wie den „Kaiserbrief“ des 1870 schon hoch verschuldeten bayerischen Königs Ludwig II..[77]

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Nützlichkeit „politischer Beamter“

Die höhere Beamtenschaft wurde überall weitgehend gegen altpreußische Beamte ausgetauscht und besonders in Schleswig und Holstein verringert, deren Verwaltungen aus sparsamer preußischer Sicht erheblich überbesetzt waren. Eine Woche vor der Integration in den Verfassungsstaat Preußen dehnte eine einfache Verordnung die Geltung des preußischen Disziplinargesetzes von 1852 auf alle neu erworbenen Landesteile aus. Dabei wurde der Kreis von „politischen Beamten“ erheblich erweitert; auch in Zukunft gehörten hier alle höheren Beamten der Mittelbehörden ab dem Oberregierungsrat dazu und selbst die Direktoren der höheren Lehranstalten. Dieses aus der Verfügung des Monarchen über „seine“ Diener entstandene Sonderrecht war nun endgültig zu einem zweckmäßigen Disziplinierungsinstrument in der Hand der Regierung geworden.[78]

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Reformchance für provinziale Selbstverwaltung

Die schnelle Einführung der Wehrpflicht oder der Umbau der Steuergesetzgebung während der Diktaturphase waren schon schwere Eingriffe; als aber am 5. Juli 1867 durch einen Alleingang des Finanzministers an Bismarck vorbei in allen annektierten Ländern auch der Staatsschatz an Preußen ging, erhob sich große Unruhe. Zur Beruhigung wurden erst in Hannover, später auch in Schleswig und Holstein Vertrauensmänner durchaus unterschiedlicher politischer Richtung zur Diskussion mit der Staatsregierung nach Berlin gerufen. Im Ergebnis bildete die neue Provinz Hannover für ihre Aufgaben in der Selbstverwaltung einen Provinzialverband mit einem Provinziallandtag, in dem der Großgrundbesitz nur über ein Drittel der Sitze verfügte.[79] Mit Gesetz vom 7. März 1868 erhielt der Verband eine jährliche Dotation von 500.000 Talern aus dem preußischen Staatshaushalt. Ähnliche Regelungen wurden kurz darauf auch für die neue Provinz Schleswig-Holstein getroffen. Unbekannt war hier der Kreis nach preußischer Art als Träger von Staatsaufgaben, aber auch Instanz der Selbstverwaltung. Ganz ungewöhnlich für Preußen deckte sich die neue Provinz mit ihrem einzigen Regierungsbezirk; Schleswig wurde Sitz des großen Regierungspräsidiums und in Kiel war die sehr kleine Behörde des Oberpräsidenten. In Hessen-Nassau ging der aus Soldatenverkäufen erwachsene kurhessische Staatsschatz zurück nach Kassel und es entstanden zwei getrennte Kommunalverbände mit Kommunallandtagen für das alte Kurhessen und das alte Nassau, Frankfurt blieb zunächst ausgenommen. Nach der Reichsgründung wurden in einer ersten landesweiten Reform am 30. April 1873 alle Provinzen außer Hannover (und auch der Stadtkreis Frankfurt, Hohenzollern und das Jadegebiet) mit einer jährlichen Gesamtsumme von 2 Millionen Talern aus dem Staatshaushalt dotiert. Mit der umfassenden Provinzialordnung für die meisten Provinzen traten 1875 moderne Provinziallandtage an die Stelle der Provinzialstände von 1823. Das ging in Richtung einer „obrigkeitlichen Selbstverwaltung“, wie sie Rudolf Gneist am englischen Vorbild entwickelt hatte. Die indirekt gewählten Provinziallandtage konnten über die jeweiligen Staatsmittel hinaus sogar eigene Umlagen erheben. Die Staatsdotationen für die „höheren Kommunalverbände“ wurden noch 1875 mehr als verdoppelt auf 13,4 Millionen Mark (jetzt statt Talern). An der Spitze der sich schnell lebendig entwickelnden Verwaltungen dieser Provinzialverbände, mit „eigenen Berufsbeamten“, wie Fritz Fleiner kritisch anmerkte, trat ein Landesdirektor oder Landeshauptmann, und die Staatsaufsicht führte der Oberpräsident, dessen Stellung im beginnenden „dezentralisierten Einheitsstaat“ so erheblich gestärkt wurde.[80]

II. Strukturprobleme

1. Föderalismus von ungleichen Monarchen

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Struktur des Bundes von 1867/71

Die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 stellte fest, dass neunzehn Monarchen und drei Senate (der drei Freien Städte Hamburg, Bremen und Lübeck) einen ewigen Bund geschlossen haben, „dessen Präsidium der Krone Preußen zusteht“. Nach der sehr ähnlichen Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 blieb das Präsidium des nunmehr um die süddeutschen Staaten erweiterten Bundes aus 22 Monarchen und drei Senaten beim König von Preußen, der dabei „den Namen Deutscher Kaiser“ (RV, Art. 11) führte. Dieses Kaisertum gründete sich nicht auf Gottes Gnade, die schon bei den Annexionen 1866 stark strapaziert worden war, sondern bestand in der Geschäftsführung für die Gesamtheit der Souveräne, die „verbündeten deutschen Fürsten und Senate der deutschen Städte“. Das Organ „der Mitglieder des Bundes“ (RV, Art. 6) war der Bundesrat, der geheim tagte, am Ende meistens einstimmig entschied und fast nie gegen Preußen. In dieser gemeinsamen Institution aller Souveräne, und nicht im gewählten Reichstag, der nur an der Gesetzgebung und nicht an der Exekutive beteiligt war, vereinigten sich die Souveränitätsrechte in den Angelegenheiten Deutschlands.

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Übergewicht Preußens

Im Bundesrat verfügte jedes Land mindestens über eine und höchstens sechs Stimmen, Preußen jedoch, weil ihm auch die Stimmen der 1866 depossedierten Monarchen zugerechnet wurden, über 17 Stimmen. Der König von Preußen war somit erheblich „gleicher“; und er allein ernannte den Reichskanzler und war Oberbefehlshaber seiner preußischen Truppen und im Kriegsfall auch der verbündeten Armeen. Der Reichskanzler leitete formell den Bundesrat und wurde dabei fast immer vom Staatssekretär des Inneren vertreten. Gegebenenfalls verhandelten Mitarbeiter des Staatssekretärs mit den Bevollmächtigten der Regierungen über mögliche Kompromisse. Fast immer waren der Reichskanzler auch Vorsitzender des Preußischen Staatsministeriums und der Staatssekretär des Inneren auch preußischer Staatsminister ohne Geschäftsbereich. Nur so konnten diese beiden zentralen Politiker des Reichs die interne preußische Entscheidungsfindung über die Stimmabgabe im Bundesrat steuern. Der Bundesrat musste nicht nur wie der Reichstag jedes Gesetz billigen, sondern er alleine beschloss die Verordnungen zur Ausführung der Reichsgesetze.