Handbuch des Verwaltungsrechts

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B. Legitimität der deutschen Staaten als fortbestehende Grundlage von Staat und Verwaltung (1815–1866)

I. Republikanische Traditionen der Freien Städte

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Tradition alteuropäischer Republiken

Neben dem vorherrschenden monarchischen Weg der Herrschaft eines Einzelnen gehört zur europäischen politischen Erfahrung auch die von vielen getragene Republik. Aus den ur-demokratischen schweizerischen Landsgemeinden entwickelte sich im 19. Jahrhundert statt eines „Beamtenstaates“ ein „Volksstaat“ mit – inzwischen weitgehend abgebauter – Volkswahl der Beamten auf Zeit, wie Fritz Fleiner den ihm vertrauten Gegensatz zu Deutschland fasste.[28] Davon abgesehen, herrschten im venezianischen Stadtadel, dem Berner Patriziat oder unter den kaufmännisch-städtischen Regenten in den Provinzen der Vereinigten Niederlande oligarchische Strukturen. Republiken lebten nach einer anderen inneren Logik als die Monarchien, was viel mit dem Misstrauen dieser gleichwohl oft familiär verbundenen „Gleichen“ gegeneinander zu tun hatte. Sie besetzten ihre Ämter oft doppelt und manchmal auch durch Losen, vergaben sie oft nur auf (teils sehr kurze) Zeit, kannten das Vier-Augen-Prinzip, richteten früh eine unabhängige Ausgabenkontrolle durch Dritte ein und berieten stets kollegial. All dies machte sie zwar bedächtig, aber auch langsam und strukturell konservativ auf dem Althergebrachten beharrend.

1. Die drei Hansestädte

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Restauration in Hamburg

Die Hansestädte knüpften nach dem Ende der Franzosenzeit an ihre vorrevolutionären Verfassungen an. In Hamburg wurde das überlieferte Herrenrecht bestätigt, das κύριον von 1712. Es war geteilt, lag aber weitgehend in den Händen des Rats (ab 1860: Senat). Dieser bestand aus vier Bürgermeistern und 24 weiteren durch Kooptation auf Lebenszeit berufenen Mitgliedern und besaß durch sein Initiativrecht die Prärogative. Ein geringerer Anteil am Herrenrecht kam der grundbesitzenden und vermögenden Erbgesessenen Bürgerschaft allein lutherischer Konfession zu, die in Kirchspielen organisiert war. Weitere „bürgerliche Kollegien“ hatten Kontrollfunktionen. Eine 1814 eingesetzte Reorganisationsdeputation erreichte die Aufstellung von Haushaltsplänen, die aber bis 1840 noch geheim blieben. Die Oligarchie zahlte ihre Steuern nicht mehr in selbst eingeschätzter, nach außen geheimer Höhe, und sie flossen in eine einheitliche Staatskasse. Die Versteigerung von untergeordneten Beamtenstellen endete; höhere gab es lange noch nicht. Es fehlte die Gleichberechtigung der anderen christlichen Konfessionen (und damit ihre politische Teilhabe), die Gleichstellung der Juden (nach kurzem Intermezzo unter dem Französischen Kaiserreich) und die Trennung von Justiz und Verwaltung.

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Restauration in Bremen und Lübeck

In Bremen und Lübeck lagen die Verhältnisse strukturell ähnlich. Bremen führte jedoch schon 1816 eine Wahl der Senatoren durch einen mehrheitlich von Kaufleuten bestimmten Bürgerkonvent ein, der seinerseits wieder vom Senat berufen war. Mit strategischem Weitblick gelang es Bremen 1827, zur Sicherung des Hafens abwärts der versandenden Weser Land vom Königreich Hannover zu kaufen und dort Bremerhaven zu gründen. Die Stadt wurde binnen Kurzem zum größten deutschen Amerika- und Auswandererhafen. Auch Hamburg (u. a. Ritzebüttel, heute Cuxhaven) und Lübeck hatten entsprechende Landgebiete, deren Einwohner mindere oder gar keine Beteiligungsrechte hatten.[29]

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Verfassungen nach 1848

In Lübeck folgten 1848 gleich zwei Verfassungen aufeinander. Die Bürgerschaft wurde von den Bürgern, nicht den Einwohnern, nach gleichem Wahlrecht gewählt. Sie war bei der Neuwahl von Senatoren auf Lebenszeit paritätisch mit dem Senat beteiligt; dabei gab es eine Mischung von Wählen und Losen. In Bremen wurde die erste Verfassung von 1849 im Jahre 1854 zurückentwickelt. Auch hier wählten nur christliche Bürger die Bürgerschaft, aber ungleich nach acht Besitzklassen; „Staatsgenossen“ lautete der umfassende Begriff für Bürger und Einwohner. In Hamburg führten die Anstöße von 1848 erst 1860 zu einer Verfassung. Die Bürgerschaft wurde nach drei Klassen gewählt und war nun auch an der Wahl der Senatoren beteiligt. Gemeinsam blieb allen Hansestädten, dass die höchste Staatsgewalt und die Gesetzgebung bei Senat und Bürgerschaft gemeinsam lagen, die Exekutive aber alleine beim Senat.

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Verwaltung im Ehrenamt

Überall wirkten Bürger durch Deputationen an der senatorischen Verwaltung mit; den Vorsitz hatte jedoch immer ein Senator, und der Senat konnte eine Sache immer an sich ziehen. In Hamburg hatte er sich das weite Feld der Polizeisachen alleine vorbehalten, in Lübeck noch mehr. Meistens mussten die Hälfte der Senatoren Juristen sein, die anderen Kaufleute. Im Grunde wurde mit diesem kleinen Stamm mehr rechts- als verwaltungskundiger Männer der ganze Staat geleitet, in Hamburg auch in den Katastrophen des Stadtbrands von 1842 und der Choleraepidemie von 1892. Es gab keine ministeriale Organisation und keine Beamten mit eigenen Rechten, sondern nur kündbare öffentliche Angestellte ohne Laufbahnen und Beförderungen und ohne Altersversorgung.

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Später Übergang zum Berufsbeamtentum

Den ersten Schritt zum Berufsbeamtentum vollzog Hamburg 1870 außerhalb der Verwaltung bei den Lehrern. Es verlangte von ihnen erstmals eine berufsbezogene Qualifikation, gewährte ihnen aber auch das Pensionsrecht. Der „Polizeiherr“ als Chef der senatorischen Polizei trat noch 1875 deshalb zurück, weil nicht ein anderer Senator, sondern ein Oberbeamter aus der Polizei sein Vertreter werden sollte. Laufbahnen des höheren juristischen und technischen Dienstes, die eine akademische Qualifikation voraussetzten, wurden in Hamburg erst 1896 eingerichtet. Diese Stellen erwiesen sich aber für höhere Beamte als unattraktiv, und selbstkritisch erkannte man 1906 einen Grund auch in der Art, wie die „Herren“ mit ihnen umgingen. Offenbar sahen die Senatoren die Beamten des Staates noch immer wie „ihre“ Bedienten in ihrem Haus und Kontor an – wie das über hundert Jahre zuvor noch gängige Praxis in allen Monarchien gewesen war.[30]

2. Die Freie Stadt Frankfurt

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Restauration in Frankfurt

1814 wurde Frankfurt eine neutrale Freie Stadt. Die verbündeten Mächte lösten sie aus dem kurzlebigen Großherzogtum Frankfurt und setzten die noch lebenden Mitglieder des Rats von 1806 wieder ein, um den Stadtstaat 1815 zum Sitz der Bundesversammlung des Deutschen Bundes zu machen. Die Verfassung ging von einer „vollkommenen Gleichheit“ in bürgerlichen und politischen Rechten aus, die aber nicht den Bürgern als Individuen zukam, sondern abstrakt den christlichen Bekenntnissen. Das beseitigte die 1811 erst eingeführte Gleichberechtigung der Frankfurter Juden; sie wurden wieder Staatsuntertanen ohne Bürgerrecht. Das Bürgerrecht war wie in den Hansestädten an Grundbesitz oder ein hohes Vermögen gebunden, und es gab auch eine Gewaltenverquickung wie dort. Dem „Gesetzgebenden Körper“ gehörten Mitglieder des Rats (später: Senatoren) und der Deputationen an und jährlich gewählte Vertreter der Bürger.[31] War eine Stelle im Rat zu besetzen, dann wählte ein kleiner Ausschuss mehrere Kandidaten, von denen wie früher im Alten Reich anschließend durch die „alt herkömmliche Kugelung“, also durch Los, einer zum Amtsinhaber bestimmt wurde (Art. 20); genauso wurde jährlich der erste oder Ältere Bürgermeister als Staatsoberhaupt und der zweite oder Jüngere gelost. Die beiden Verfahren von Wahl und Los gehörten zur europäischen republikanischen Tradition seit ihrer Mischung in dem viel bewunderten, 1268 festgelegten Verfahren zur Bestimmung des Dogen in Venedig. Das Los entspricht dabei der Gleichheit aller beim Entscheiden über Zukunftspräferenzen und soll ihre Gleichberechtigung symbolisch sichern.[32]

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Bürgerbeteiligung und -abstimmung

Im Zuge der Entscheidung über die neue innere Ordnung sammelten frühliberale Juristen im Januar 1816 über 2.000 Unterschriften für eine breitere Teilhabe an der Verfassungsgebung. Im Juli stimmten alle Bürger über den vom Senat gedruckten und verteilten Text der Frankfurter „Konstitutions-Ergänzungsakte“ ab. Die Bürger erklärten dabei vor den Quartier-Vorständen ihr „Ja“ oder „Nein“ in Anwesenheit eines Notars mündlich zu Protokoll. Die so ergänzte alte Verfassung wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen, die Wahlbeteiligung lag etwas unter 60 Prozent. Diese Abstimmung aller Bürger war ein damals einzigartiger Ausdruck eines breit verankerten und gelebten republikanischen Mitgestaltungsrechts; und am 18. Oktober 1816 leisteten Senat und Bürgerschaft sich gegenseitig vor dem Römer ihren traditionellen Verfassungseid.

II. Monarchie und Restauration im Deutschen Bund von 1815

1. Grundgedanken der inneren Ordnung des Deutschen Bundes von 1815

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Innere Staatsbildung

Die meisten größeren Staaten standen in der Zeit der Revolution und der napoleonischen Herrschaft über Europa vor der Aufgabe, sich außen- wie innenpolitisch zu behaupten. Wichtige Instrumente dafür waren ihre Heere und ihre Staatseinnahmen, und beides mussten sie so weit wie möglich steigern. Wie Bayern und Preußen zeigten, erfolgte das Zusammenschmelzen unterschiedlicher Territorien mit ihren jeweils eigenen Vorgeschichten, Institutionen und Verwaltungstraditionen nicht durch einfache Integration in den „Altstaat“ mit seiner „Altverwaltung“, sondern dabei wurden in ausgreifenden Reformen auch viele Institutionen des aufnehmenden Kernlandes modernisiert.

 

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Wiener Kongress 1814/15

1814/15 ging es im Wiener Kongress darum, die europäische Staatenwelt neu zu ordnen und dabei die innerdeutschen Verhältnisse auszutarieren. Die monarchischen Großmächte mit dem erneuerten Königreich Frankreich folgten der Leitlinie von der Legitimität angestammter, meist monarchischer, Herrschaft und damit einer gewissen, nicht völligen Restauration früherer Verhältnisse. In Deutschland ließen sich nämlich realistisch weder das Alte Reich noch seine kirchlichen Staaten noch die bunte Vielfalt von Reichsstädten, Reichsrittern und Reichsdörfern zu Lasten ihrer Rechtsnachfolger wiederherstellen, die ihre territorial erheblich vergrößerten Staaten inzwischen durch innere Reformen vereinheitlicht und gestärkt hatten.[33]

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Landständische Verfassung 1815

Die Bundesakte des entstehenden Deutschen Bundes setzte den Mitgliedern Schranken ihrer Souveränität in Verfassungsfragen, vor allem durch den dunklen Satz des Art. 13 der Bundesakte: „In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung stattfinden.“ Offen war nicht nur, wann das geschehen sollte, sondern vor allem, was „landständisch“ bedeutete. War dabei an eine ständische Vertretung alter Art gedacht, in der die Privilegierten der Vergangenheit (Klerus, Adel, Städte, Universitäten) dank ihrer als alte Teilhabe an der monarchischen Herrschaft verstandenen eigenen Herrschaftsrechte wieder mitentscheiden sollten? Oder sollte es eine von Gleichheitsideen getragene Vertretung der Nation, des Volkes, geben, die durch womöglich breite Wahl legitimiert war und daraus ganz neuartige Ansprüche ableiten konnte? Oder sollte ein Mittelweg „neuständischer“ Art begangen werden, in dem sich die Freisetzung des bürgerlichen Wirtschaftsindividualismus durch die nach französischem Vorbild weit verbreitete Gewerbefreiheit spiegeln würde? Entscheidend wäre dabei nicht mehr die adelige Geburt des Eigentümers, sondern die auf Betriebsgröße und Teilhabe am Markt beruhende Bedeutung großer Betriebe als Wirtschaftsfaktor und Steuerzahler. Zwar kam nach 1815 eine erste Welle der Verfassungsgebung in Gang, doch traten damit nur wenig wirklich aktive Landstände oder Landtage ins Leben. Nur im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach folgte 1816 auf die Verfassung gleich der erste Landtag, ebenso in Schaumburg-Lippe (allerdings mit auf Lebenszeit gewählten Mitgliedern) und in Waldeck-Pyrmont (wo allerdings der Landtag danach nur noch zweimal bis 1848 zusammentrat). Dagegen kam in Nassau der Landtag erst vier Jahre nach der Verfassung von 1814 zusammen[34] und in Schwarzburg-Rudolstadt erst fünf Jahre nach der Verfassung von 1816. Das Königreich Bayern wurde 1818 der erste große deutsche Staat, in dem Verfassung und Landtag in enger Aufeinanderfolge ins Leben traten.

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Monarchisches Prinzip 1820

Grundlage des Deutschen Bundes war das 1820 in Art. 57 der Wiener Schlussakte festgelegte „monarchische Prinzip“, wonach „die gesamte Staats-Gewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben“ sollte; die Ausnahme davon in den Stadtstaaten wurde konstatiert. Der alleinige Souverän sollte „nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden“ sein. Diese Formel griff die Entstehung der Verfassungen Süddeutschlands aus alleinigem freiem Willen des Souveräns auf. Die Schwachstelle dieser Konstruktion lag darin, dass die Bindung der Nachfolger durch den in der Verfassung vorgesehenen Verfassungseid nicht erzwingbar war, wie der hannoversche Verfassungskonflikt von 1837 zeigte; eine Verfassung musste in Fragen ihrer eigenen Fortgeltung sehr wohl die Souveränität möglicher Thronerben einschränken. Indem Art. 56 der Wiener Schlussakte die landständischen Verfassungen gegen Veränderungen außerhalb des verfassungsmäßigen Weges schützte, band er die Souveräne zugleich an die Revolutionsvermeidung durch den Deutschen Bund und seine Vormächte Österreich und Preußen zurück.[35]

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Kommandogewalt und Kriegsministerium

In den deutschen Monarchien übte die Krone ihre Souveränität auf zwei Wegen aus, die außer in der Person des Monarchen nicht miteinander verbunden waren. Nach innen wurde ihre „normale“ Herrschaft durch die Regierung (Staatskanzler, Gesamtministerium oder Staatsministerium) vermittelt, die weitgehend die Gesetzgebung initiierte, den Apparat der staatlichen Verwaltung anleitete und die kommunale Selbstverwaltung beaufsichtigte, wo es sie gab. Der zweite Weg beruhte auf der Kommandogewalt der Monarchen über „ihre“ bewaffnete Macht, die sich aus ihrer Souveränität nach außen ableitete. Staatsorganisation und Verwaltung unterlagen durch die Verfassungen der Mitsprache von Parlamenten, freilich in begrenztem Maße, nämlich nur dann, wenn es um „Eigentum und Freiheit“ ging;[36] die Unterscheidung und Terminologie von Normenvielfalt stand noch auf schwankendem Grund.[37] Dagegen blieben Organisation und Einsatz der Armee außerhalb der Partizipationsrechte; nur ihre Finanzierung aus Steuermitteln war Sache der Parlamente. In Preußen kam es nach 1806 auch zu einem Neuaufbau der militärischen Organisation in Form des Kriegsministeriums, das in das Staatsministerium nur mit seiner Verwaltungsseite eingebunden wurde. In allen Fragen des befehlenden Gebrauchs der Armee, besonders bei Kommandosachen und Personalentscheidungen über die höheren Offiziere, hatte der Kriegsminister von Anfang an eine Immediatstellung gegenüber dem König. Auch unter Staatskanzler Karl August von Hardenberg konnte er genau wie dieser, und nicht von diesem kontrolliert, jederzeit persönlich Kontakt zum König als Oberbefehlshaber aufnehmen. Otto Graf (1871: Fürst) von Bismarck setzte dagegen vor dem Krieg 1870 gegenüber Kriegsminister Albrecht von Roon den Primat der Politik durch;[38] im Ersten Weltkrieg bestimmte die Oberste Heeresleitung wieder zunehmend die Politik.

2. Spannungen und Prüfsteine

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Zivilkabinett und Militärkabinett

Am preußischen Hof bestanden bis November 1918 zwei in Staatsverfassung 1848/50 und Reichsverfassung 1867/71 nicht vorgesehene organisierende Kabinette neuerer Art, das Geheime Zivilkabinett und das Geheime Militärkabinett (analog seit dem Flottenbau Wilhelms II. auch noch das Marinekabinett). Das Militärkabinett als „Personalministerium“ und der Generalstab der Armee wurden 1883 gänzlich unabhängig vom preußischen Kriegsministerium. Politische und militärische Strategien und Entscheidungen waren in diesem System nun mehr denn je einzig durch die Person des Monarchen als Souverän und Oberster Kriegsherr koordinierbar – und diese Koordination hing allein von seiner Persönlichkeit, Auffassung und Beeinflussbarkeit ab.[39]

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Prüfstein Braunschweig 1830

Erster Prüfstein für die Spannungen in den Verfassungsstaaten wurde die einseitige Aufhebung der Verfassung von 1820 durch Herzog Karl von Braunschweig 1830 und seine Vertreibung durch das Volk. Den danach im herzoglichen Hause entschiedenen Thronwechsel zu Herzog Wilhelm sanktionierte die Frankfurter Bundesversammlung unvollständig. Sie vermied es, den Grund als persönliche Unfähigkeit zur Regierung oder als bewussten Verfassungsbruch einzuordnen und konnte deshalb auch die daraus folgende Frage der Thronfolge nicht klären, die nach Wilhelms Tod von 1884 bis 1913 offen blieb.

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Prüfstein Hannover 1837

1837 endete wegen unterschiedlicher Erbfolgerechte mit dem Tod von Wilhelm IV. die Personalunion zwischen Großbritannien, wo ihm seine Tochter Viktoria als Königin folgte, und Hannover, wo ihm sein Bruder Ernst August als König folgte. In konservativem Geist hatte er schon als Thronfolger das 1833 erlassene hannoveranische Staatsgrundgesetz seines älteren Bruders bekämpft; und nach seinem Regierungsantritt hob er es als von Anfang an ungültig auf. Dagegen protestierten u. a. Göttinger Professoren, weil sie sich durch ihren Eid der Verfassung verpflichtet fühlten, worauf sie entlassen wurden, aber als „Göttinger Sieben“ in ganz Deutschland Zuspruch fanden. Die Bundesversammlung war gespalten, die süddeutschen Verfassungsstaaten traten für die alte Verfassung ein, Österreich und Preußen dagegen für den neuen König und seine Rechte. Oberflächlich gelöst wurde der Konflikt erst 1840 durch ein Einlenken Ernst Augusts, der einem neuen Landtag eine neue, etwas monarchischer gehaltene Verfassung als die von 1833 vorlegte.

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Kein Prüfstein: Mecklenburg

Die Landesteilung 1701 in die Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und -Strelitz hielt an der Einheit der Landstände fest, was zu Konflikten mit den beiden Landesherren führte. 1755 stärkte der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich die Stände. Seitdem bestanden eigenständig nebeneinander die Herrschaftsgebiete der beiden Landesherren (das „Domanium“, das allein die Kosten der Landesherrschaft deckte), der Ritterschaft (knapp 50 Prozent) und der „Landschaft“ der Städte mit ihren Gütern. Diese „landständische Verfassung“ ganz alter Art von damals überlebte, weil in den 1815 zu Großherzogtümern erhobenen Ländern kein Reformdruck durch Integration neuer Gebiete herrschte. Die Verfassungsbestrebungen von 1848 trafen auf entgegengesetzte Positionen der beiden Großherzöge; sie scheiterten 1850 im Freienwalder Schiedsspruch daran, dass die Wiener Schlussakte 1815 die bestehenden landständischen Verfassungen garantierte. Beide Staaten blieben bis 1920 ohne eine Verfassung und ohne Beteiligungsrechte eines gewählten Landtags.

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Kroneigentum und Familieneigentum

In den beiden zuerst dargestellten Konflikten bestand aus Sicht der männlichen Agnaten ein treuhänderisch auch für sie und ihre Erben zu verwaltendes Familieneigentum des genossenschaftlich verstandenen „Hauses“ an allen Rechten der Krone. Deshalb wurden sie vom Inhaber der Souveränität vor einer Preisgabe monarchischer Rechte durch eine Verfassung regelmäßig angehört. Die Absicht zur Trennung von Person und Staat und der Übergang zu moderneren Eigentumsvorstellungen blieben anfangs unvollkommen, wie in Bayern 1818. Die Verfassung unterschied nicht zwischen dem Eigentum der Krone, über das ihr Inhaber wegen der Verfassung und der Agnatenrechte nicht mehr unbegrenzt verfügen konnte, und dem jetzt wichtiger werdenden privaten Eigentum, das allen, auch den weiblichen, Mitgliedern der Familie zu „bürgerlichem Recht“ zustand. Die hier ausgebliebene Regelung und die in anderen Ländern anders getroffenen Bestimmungen hatten Konsequenzen für die Vermögensauseinandersetzungen nach dem Sturz der Monarchien 1918 und belasteten die Weimarer Republik bis hin zum gescheiterten Volksentscheid von 1926 über die Fürstenenteignung.[40]