Handbuch des Verwaltungsrechts

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
A. Gleichzeitigkeit von Revolution und Reform bis 1815

I. Integration in Französische Republik und Französisches Kaiserreich

3

Linksrheinische Departements

1792 erklärte der französische König Ludwig XVI. unter dem Druck der Revolution den am Rhein benachbarten Großmächten Preußen (Niederrhein) und Österreich (Ortenau und Breisgau) den Krieg. Auf erste Erfolge, u. a. in der von Johann Wolfgang von Goethe beschriebenen Kanonade von Valmy, folgten die Verhaftung (und später Hinrichtung) des Königs, die Ausrufung der Republik und ab 1794 der Vormarsch und die Besatzung des linken Rheinufers. Preußen erklärte sich 1795 neutral und konzentrierte seine Kräfte auf die dritte polnische Teilung. Im selben Jahr bildete die Französische Republik die vier linksrheinischen Departements Roer/Rur (Aachen), Saar (Trier), Rhein-und-Mosel (Koblenz) und Donnersberg (Mainz). Die Universitäten in Köln, Bonn, Trier und Mainz wurden 1798 aufgehoben; wie in Frankreich schon seit 1793 galten sie als Träger unzeitgemäßer Privilegien. Ersatz sollte die neue École spéciale de droit/Rechtsschule in Koblenz bieten, eine von zwölf in Frankreich.[6] Im Frieden von Lunéville 1801 wurden die vier Departements annektiert und die Auflösung des Alten Reiches wurde absehbar.[7]

4

Küstendepartements

Im Zuge der Kontinentalsperre gegen den britischen Handel wurden 1811 die bereits besetzten deutschen Nordseeküsten als Departements Elbmündung (Hamburg), Wesermündung (Bremen), Ost-Ems (Aurich), Ober-Ems (Osnabrück) und Lippe (Münster) dem Kaiserreich Napoleons einverleibt. Die alten Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck erhielten dabei zwar den Ehrentitel von „bonnes villes“ des Kaiserreichs, aber sie wurden von souveränen Staaten zu einfachen Gemeinden nach französischem Recht. An die Stelle der oligarchisch sich selbst ergänzenden Senate und Bürgerschaften traten ernannte und an Weisungen des Präfekten gebundene Maires und ernannte Munizipalräte.[8]

5

Modernisierung der Gesellschaft

Hier wie in ganz Frankreich wurde das moderne französische Zivilgesetzbuch aus dem Geist der Aufklärung, der Code Civil oder Code Napoléon von 1804 eingeführt. Er ging von der Freiheit aller und ihrer Gleichheit vor dem Gesetz aus. Alle alten Privilegien entfielen, u. a. des Adels, der Kirchen und der Zünfte. Wirtschaftspolitisch wirkten die Garantie des Eigentums und die Gewerbefreiheit, und Handelskammern, zuerst 1803 in Köln, vermittelten zum Staat. Neu in der Justiz waren Staatsanwälte und Geschworenengerichte; Strafsachen wurden mündlich und öffentlich verhandelt. Dagegen blieb die Boden- und Herrschaftsordnung auf dem Lande unberührt und beschränkte dort weiter die Freiheit der Menschen. Wie in Frankreich wurden Kirchen und Klöster enteignet und an lokale Interessenten versteigert; mit Mühe wurde der Abriss des Mainzer und des Speyerer Doms verhindert. Die neuen „rheinischen Institutionen“ blieben nach 1815 im linksrheinischen Deutschland weitgehend erhalten.[9]

6

Unterstaatliche Partizipation

Die Präfekten vertraten die Pariser Zentrale in ihrem Departement. Sie leiteten nach deren ins Einzelne gehenden Direktiven alle Verwaltungszweige vor Ort ohne viele originäre Entscheidungsbefugnisse. Die Departements sollten nicht an historische Herrschaften und veraltete Loyalitäten anknüpfen, sondern erhielten geographische Namen. Entsprechend organisierten sich nach 1815 Bayern (Isarkreis usw.) und sogar das nie französische Baden (Neckarkreis usw.) ihre Mittelbehörden. Die Präfekten, Unterpräfekten und Maires wurden ernannt; Wahlen gab es nicht. In die 1804 in allen Departements eingerichteten Generalräte wurden nur Männer aus dem engen Kreise der Notabeln, der Höchstbesteuerten, ernannt, auf fünfzehn Jahre.[10] Die bayerische Regierung behielt ab 1816 den Generalrat in ihrem Anteil des Donnersberg-Departements als Landrat des Rheinkreises (heute: Bezirkstag der Pfalz) bei. Mit dem Landratsgesetz von 1828 wurde dieses Pfälzer Modell auf ganz Bayern ausgeweitet; der König ernannte die Mitglieder aus jeweils zwei Vorgeschlagenen. In Baden erstrebte die liberale Landtagsopposition seit den 1820er Jahren eine ähnliche Partizipation und erreichte, dass 1864 die bisherigen Mittelinstanzen zugunsten von kleineren Bezirken (Landkreisen) mit Bezirksräten wegfielen.[11]

II. Ende des Alten Reiches und Napoleons Rheinbund

1. Beginnende Auflösung der Strukturen des Alten Reichs unter Napoleons Einfluss

7

Reichsdeputationshauptschluss 1803

Kaiser und Reich hatten gerade die kleineren und schwächeren Herrschaften geschützt; doch im Frieden von Lunéville zeigte sich ihre Machtlosigkeit gegenüber Napoleons Ansprüchen. Frankreich und Russland waren sich einig, dass sie die Grundsätze bestimmten, nach denen Gebietsverluste links des Rheins auf dem rechten Ufer entschädigt werden sollten. Dem Reichstag blieb nur, die Details von einer Deputation festlegen zu lassen und als letztes großes Reichsgesetz deren Reichsdeputationshauptschluss 1803 zu ratifizieren (wobei die umzuverteilenden Reichsstände als „abwesend“ unbeachtet blieben).[12] Die geistlichen Fürsten und die Reichsklöster verloren sowohl ihre Herrschaftsrechte (Mediatisierung) als auch ihr Vermögen (Säkularisation); und auch die meisten Reichsstädte mussten ihre Selbstständigkeit aufgeben. Größte Nutznießer dieser territorialen Umverteilung wurden die süddeutschen Monarchien.

8

Neue Aufgaben

Die großflächige Umverteilung von Herrschaft nach den modernen statistischen Kriterien von Fläche und Bevölkerungszahl weckte Zweifel, ob monarchische Herrschaft noch „von Gottes Gnaden“ kam (bei Napoleon „von Gottes Gnaden und durch die Constitutionen“) und ob auf „brüderliche“ Solidarität innerhalb der traditionellen „Familie“ aller christlichen Herrscher noch Verlass war. Dennoch mussten die neuen Untertanen überall erst für die neuen Dynastien und ihre Staaten gewonnen werden, indem z. B. neue, rationalere, attraktivere Verwaltungsstrukturen und -methoden eingeführt wurden. Hierarchische Steuerung mit Instruktionen und dichten Kontrollen sollte größere Gleichmäßigkeit staatlichen Handelns bringen. Das Verhältnis vor allem der katholischen Kirche zum Staat war neu zu klären. Dabei blieb die Frage nach Entschädigungen für die Verluste an materiellem (Grundherrschaft, Eigenbetriebe und Forsten) und ideellem Vermögen (Bibliotheken und Kunstwerke) aufgeschoben. Das am meisten belastende Problem der Finanzpolitik nach 1803 lag freilich darin, überhaupt die hohen Unterstützungsleistungen für Napoleons kontinental ausgreifenden Pläne aus den alten Landessteuern und den Erträgen der Neuerwerbungen bestreiten zu können.

2. Ende des Alten Reichs und Napoleons Rheinbund ab 1806

9

Ende des Alten Reichs

Nach Napoleons Sieg über Österreich in Austerlitz sprach der Frieden von Preßburg 1805 Bayern und Württemberg die volle Souveränität und die Erhebung zum Königreich zum 1. Januar 1806 zu, mit der eigenartigen Verpflichtung, Mitglieder „des deutschen Bundes“ zu bleiben, obwohl doch der „Kaiser von Deutschland und Österreich“ ihrer Souveränität keine Schranken mehr setzen sollte. Die deutschen Herrscher, die schon erfolgreich in die Familie ausgerechnet des Stürzers der Dynastien eingeheiratet hatten, mussten sich am 1. August 1806 vom Reich trennen, als sie zusammen mit Napoleons Familien- und Satellitenstaaten Westphalen und Berg seinem Rheinbund beitraten. Er zielte eindeutig auf die militärische und finanzielle Unterstützung durch deutsche Ressourcen an Geld und Menschen; ein langfristiges wirtschaftliches Projekt wie etwa eine Zollunion war nicht damit verbunden. Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II., der seit 1804 auch schon (als Franz I.) Kaiser von Österreich war, in Wien die Reichskrone nieder und beendete damit die Existenz des Alten Reichs.

10

Napoleons Modellstaaten

Als hegemonialer „Protektor“ des Rheinbunds baute Napoleon Pufferstaaten nach Osten auf, die ihm dynastisch eng verbunden waren. Nach dem Frieden von Tilsit 1807 errichtete er für seinen Bruder Jérôme vor allem aus abgetretenen preußischen Gebieten westlich der Elbe das neue Königreich Westphalen (Kassel). Es war ähnlich groß wie das erheblich verkleinerte Preußen. Als Modellstaat sollte es nach innen die Segnungen von revolutionärer Freiheit und Gleichheit bringen, darunter 1808 auch die völlige Emanzipation der Juden, die jedoch eher zögerlich umgesetzt wurde. Anders als im Rheinland blieben Universitäten in Marburg und Göttingen erhalten und nur Rinteln, Helmstedt und Halle wurden geschlossen. Napoleon selbst gab Ende 1807 dem Länderkonglomerat eine Verfassung, die es in acht Departements gliederte. Die neue, hierarchisch-bürokratisch bis in die Fläche durchorganisierte Verwaltung sollte nicht mehr absolutistischer Willkür folgen; der Monarch sollte „das Glück der Völker“ sichern – in Napoleons Kalkül aber vor allem sein Expansionsstreben absichern. Die rationale Gebietseinteilung stieß in den Kantonen als untersten Einheiten an Grenzen. Sie waren unterschiedlich groß, die Hauptorte lagen selten zentral, und im langgestreckten Kanton Stendal musste der Steuereinnehmer jeden Monat alle Gemeinden aufsuchen, die bis über 20 km entfernt lagen – weil diese Struktur an ältere Gerichtsbezirke anknüpfte. Finanzpolitisch wurde ein neues, einheitliches Steuersystem mit einer einzigen Staatskasse und einem einheitlichen Staatsbudget verordnet. Durch Abschaffung aller Binnenzölle entstand ein einheitliches Wirtschaftsgebiet, in dem die Maße auf das revolutionär-rationale metrische System umgestellt waren.[13] Das alte bayerische Nebenland des Herzogtums Berg (Düsseldorf) mit seinen frühindustriellen Zentren im Wuppertal gab Napoleon 1806 als Großherzogtum an seinen Schwager Joachim Murat, übernahm es aber 1808 selbst in Personalunion. Die Minister amtierten zwar in Düsseldorf, doch der ihnen vorgesetzte Minister-Staatssekretär residierte in Paris.[14] Mit dem Großherzogtum Frankfurt wurde schließlich Karl Theodor von Dalberg, der 1802 abgesetzte Kurfürst und Erzbischof von Mainz, als „Fürstprimas“ des Rheinbunds versorgt.

 

III. Reformschub für Bayern unter dem Ministerium von Graf Montgelas

11

Souveränität im Rheinbund?

Zum Ende des Alten Reichs 1806 erschien in Bayern die anonyme Schrift „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“. Im ,souveränen Bayern‘ verfolgte die französische Armee ihren Nürnberger Verleger Johann Philipp Palm und verurteilte ihn noch im August durch ein Kriegsgericht zum Tode. Der deutschen Öffentlichkeit wurde die Instrumentalisierung der deutschen Staaten und ihre Gefährdung durch Napoleon bewusster als zuvor; die frühere Freude über den Fortschritt zu Freiheit und Gleichheit verflog. Bayerns leitender Minister Maximilian Graf Montgelas wollte sein Land nicht zum Objekt rheinbundweiter Gesetzgebung werden lassen, und so entstand in Kenntnis der Verfassung Westphalens die erste bayerische Verfassung von 1808. Sie verankerte die Grundrechte weiter und sah Rechtskodifikationen und eine Nationalrepräsentation aus Höchstbesteuerten vor; wegen der fortdauernden Kriege wurde jedoch nur sehr wenig davon wirklich umgesetzt.[15]

12

Lebenszeitbeamte als Gegengewicht zum Minister

Wegweisend wurde vor allem die schon 1805 von Montgelas durchgesetzte Konzeption des Lebenszeitbeamten. 1803 gab der Reichsdeputationshauptschluss den neuen Landesherren auf, „herrenlos“ gewordene Beamte in ihren Dienst zu übernehmen. Schon im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts sahen Reichsgerichte Beamte nicht mehr als persönliches Personal an, sondern als Diener des Staates, die von einem alten wie einem neuen Dienstherrn die Achtung ihres „wohl erworbenen Rechts“ (ius quaesitum) erwarten konnten.[16] In dieselbe Richtung überlegte seit 1796 Montgelas, damals noch als Berater des bayerischen Thronerben, um der Günstlingswirtschaft und offenen Korruption ein Ende zu setzen. Wer nach langer und guter Ausbildung sich dem Dienst am Staat widmete, sollte ein Recht auf angemessene Entlohnung während seines ganzen Lebens erhalten, entsprechend seinem gesellschaftlichen – nicht mehr höfischen! – Rang („a un droit acquis pendant sa vie à une subsistance honnête, proportionnée au rang qu‘il tient dans la société“). Und Montgelas ging in seinem Ansbacher Mémoire noch weiter. Angesichts häufiger Ministerwechsel erwartete er von der Beständigkeit der höheren Beamten die Prinzipienstärke und den Systemgeist, die die Seele einer Verwaltung ausmachen. Aus Vorsicht („prudence“) sei es deshalb angebracht, ein Gegengewicht zu einer zu großen Macht der Minister („un contrepoids à la trop grande puissance des ministres“) zu schaffen, indem die ihnen Vortrag haltenden Ministerialbeamten unabhängig vom Willen oder Unwillen der Minister auf Dauer beschäftigt werden. Und er erwartete, dass die Beamten ihrer einzigartigen Lebenszeitstellung entsprechen, indem sie möglichem Unrecht widerstehen und Intrigen aus ministeriellem Despotismus („despotisme ministériel“) abwehren. Ihre Stellung verband sich mit Pflicht, und hier blitzte eine Verwaltungsethik auf. Politisch tarierte Montgelas Regierung durch die Minister und Verwaltung durch die beratenden Beamten gegeneinander aus – nicht so sehr im Interesse des Monarchen als Person, sondern in dem des Staates, dem es um das „Gute“, das Gemeinwohl geht. Montgelas‘ Begriff „contrepoids“ wurde übrigens im französischen Kontext sowohl in Montesquieus Gewaltenlehre als auch für das amerikanische Prinzip der checks and balances verwendet. Als Maximilian I. Joseph 1799 neuer Kurfürst wurde, lehnte er konsequent die Auffassung ab, als Monarch könne er „nach Willkür entlassen“.[17] Montgelas setzte, nun als Minister, seine Ideen in der bayerischen „Hauptlandespragmatik“ vom 1. Januar 1805 durch. Als erstes deutsches Beamtengesetz ging sie von amtsangemessener und lebenslänglicher Besoldung aus und regelte auch Pension und Witwen- und Waisenversorgung. Das Gehalt setzte sich zusammen aus einem lebenslänglichen „Standesgehalt“, das immer, auch im Ruhestand, gezahlt wurde, und einem „Dienstgehalt“, das für die Dauer aktiver Tätigkeit hinzukam. Vor allem aber wurden die bayerischen Beamten nun wirklich unabsetzbar, außer durch Gerichtsurteil. Das Gesetz stellte ein Grundgesetz Bayerns dar, das „ausdrücklich mit dem permanenten Karakter einer konstitutionellen Haupt-Landes-Pragmatik“ (Abschnitt XXVI) noch vor einer Verfassung erlassen und 1818 in sie integriert wurde. Dieses Gesetz mit dem sperrigen Namen stellt den ältesten nach seinem Inhalt kontinuierlich gültigen Verfassungsbestandteil in Deutschland dar.[18] In Baden gab es eine an die bayerische angenäherte Dienstpragmatik für wenige Monate im Jahre 1809. Dann billigte erst 1819 wieder Großherzog Ludwig ein „Staatsdieneredikt“, worin er das ihm wichtige Monarchenrecht aufrechterhielt, seine Beamten entlassen zu können. Das war allerdings durch ein Verfahren mit vorangehenden Verwarnungen und gerichtsähnlichen Schritte erschwert und sah ein Ruhegehalt vor, das auskömmliche Lebensführung ermöglichen sollte.[19]

13

Erstmals „klassische“ Fachministerien

Als Montgelas 1799 leitender Minister wurde, organisierte er die bayerische Regierung sofort in Ministerien um, die nach Sachaufgaben rational abgegrenzt waren. Die in Frankreich bereits 1790 geschaffenen sechs „klassischen Ministerien“ wandelte er dabei in die dann in Deutschland üblichen fünf um (unter Wegfall der Marine- und Kolonialsachen): Äußeres, Finanzen, Justiz, Inneres und Krieg. Darunter standen Mittelbehörden („Kreise“), darunter waren dann Verwaltungs- und Gerichtsbezirke vereint als „Landgerichte“ (dazu 1862 dann „Bezirksämter“ der Verwaltung) und schließlich gab es die Gemeinden.

14

Verstaatlichung der Gemeinden

Montgelas wollte im modernen Bayern nach französischem Vorbild auch eigenständige intermediäre Gewalten vermeiden. Er nahm dem Adel, den Klöstern und den Städten ihre schmalen politischen Mitwirkungsrechte in den alten Landständen und integrierte alle Gemeinden in den Staat zu dessen Regeln. Dazu schuf er 1808 zwei streng reglementierende Gemeindeedikte für Stadt- und für Landgemeinden. Selbst traditionsreiche, bis 1806 fast-souveräne alte Reichsstädte wie Augsburg und Nürnberg mussten sich jetzt damit abfinden, dass sie „in Ausübung ihrer Rechte wie die Minderjährigen begrenzt“ sein sollten, aber auch deren Vorrechte, nämlich sorgende Vormundschaft des Staates „genießen“ sollten. Jede noch so kleine Verfügung aus den Gemeindevermögen (die zusammen jedoch mehr als das Staatsvermögen ausmachten) musste genehmigt werden, was sich in der Praxis als undurchführbar erwies und eine Welle von Beschwerden hervorrief. Erst nach dem Sturz von Montgelas wurde 1818 ein neues, jetzt einheitliches Gemeindeedikt verkündet. Es gab städtischen Magistraten wieder mehr Spielraum, behielt aber die starke Staatsaufsicht bei.[20]

IV. Staatskatastrophe und Reformen in Preußen

15

Besiegtes Land mit Reformkonzepten

Durch seine Entscheidung von 1795 für die Neutralität stand Preußen 1806 ohne Verbündete da. Nach der verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt verdankte es seine Weiterexistenz, jedoch unter Verluste aller Gebiete westlich der Elbe, im Frieden von Tilsit 1807 mehr dem Zaren Alexander I. als Kaiser Napoleon. König und Regierung waren nach Memel in den äußersten Nordosten geflüchtet, und von hier aus setzte eine breite Reformbewegung ein. Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein entwarf mit seiner „Nassauer Denkschrift“ im Juni 1807 eine Staatsreform. An die Stelle verschiedener Provinzialministerien mit gleichartigen Aufgaben sollten neue Fachministerien treten, die für bestimmte Felder der Verwaltung allein zuständig werden sollten. Finanzpolitisch plante er eine einzige Staatskasse mit im Voraus festgelegten Etats für die Ministerien. Im Geiste der Ideen von Adam Smith setzte er auf die Freisetzung der Individuen, auf die „Belebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns [und] Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse“ vor allem der städtischen Bürger. Wenig später, am 12. September, legte Karl August Graf (seit 1814 Fürst) Hardenberg aus seinem nahen russischen Exil die ‚Rigaer Denkschrift‘ vor, in der er für eine „Revolution im guten Sinn“ sprach. Ihr Ziel hieß für ihn: „Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.“[21]

16

Ländliche Eigentümergesellschaft: Oktoberedikt 1807

Das Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807 leitete die Umgestaltung der ländlichen Wirtschaft und Gesellschaft durch die Bauernbefreiung ein, indem es die persönliche Untertänigkeit aufhob. Sie war ein Rest alter Leibeigenschaft, die zur Genehmigung von Heiraten und Erbfällen geschrumpft und vor allem wegen der Einnahmen daraus wichtig war. „Zum Martinitag 1810“ sollte es „nur noch freie Leute“ geben. Diese Freiheit gab aber gerade den unterbäuerlichen Gruppen, „wie sich von selbst versteht“ (§ 12), noch kein Eigentum an dem von ihnen bis dahin bewirtschafteten Land. Viele wurden Landarbeiter in prekären Tagelohnverhältnissen oder sanken in das Gesinde des Gutsherrn ab, für das am 8. November 1810, drei Tage vor dem Stichtag, eine strikte Gesindeordnung mit Züchtigungsrechten erging, die bis nach 1918 bestehen blieb. Die schwierigere und langwierigere Trennung der sich überlagernden Eigentumsrechte vollzog erst das Regulierungsedikt vom 14. September 1811, das durch Wirtschaftsbelebung auch den Staatskredit heben und die Tilgung der im Krieg weiter auflaufenden Schulden erleichtern sollte. Die Bauern sollten volles Eigentum an Land erhalten und dem grundbesitzenden Adel seine Landverluste teils durch Geldzahlungen über Jahrzehnte ablösen, teils – bei großen Stellen – ihn sofort ohne Schulden durch Verkleinerung dieser Stellen um ein Drittel entschädigen. Die Regulierung brachte dem zumeist noch adeligen Großgrundbesitz beträchtliche Landzuwächse und zog sich in Preußen wie in vielen anderen deutschen Ländern bis nach der Revolution von 1848 hin.[22]

17

Gewaltmonopol: Gendarmerieedikt 1812

Das Gendarmerieedikt vom 30. Juli 1812[23] schuf erstmals eine kleine Polizeitruppe, vornehmlich aus ausgeschiedenen Offizieren und Soldaten, für den Einsatz auf dem Lande. Verwaltungstechnisch wollte das Edikt dem grundbesitzenden Adel seinen angestammten Anspruch auf das Amt des Landrats nehmen und an seine Stelle einen Staatsbeamten setzen, doch musste das nach erheblichen Protesten schon 1816 zurückgenommen werden. Bis nach der Reichsgründung endeten die Befugnisse dieser Gendarmerie allerdings vor den vielen gemeindefreien Gutsbezirken, in denen der Gutsherr alleine die Polizeigewalt ausübte. Im ostelbischen Preußen verfestigte sich so die intensive Herrschaft der Gutsherren, die Arbeitgeber der Landlosen waren und zugleich Verwaltungs- und Richteraufgaben ausübten.

18

Selbstverwaltung: Städteordnung 1808

Die Städteordnung vom 19. November 1808 wird besonders mit dem Geist des Freiherrn vom Stein verbunden; es fehlte ihr allerdings ein Gegenstück für Landgemeinden. Stein wollte die Bürger aktiv zur Gestaltung der lokalen Verhältnisse heranziehen. Bürger einer Stadt war, wer Haus- und Grundeigentum besaß oder ein höheres Einkommen hatte. Untereinander gleichgestellt, wählten sie Stadtverordnete, von denen zwei Drittel ebenfalls Haus- und Grundeigentümer sein mussten, und diese wählten einen ausführenden Magistrat, und der den Bürgermeister. Sie alle sollten für das Gemeinwohl tätig werden und dies, bis auf die Bürgermeister, ehrenamtlich tun. Die Städte erhielten ein Steuerbewilligungs- und ein Budgetrecht bei staatlicher Missbrauchsaufsicht und wurden, zumindest subsidiär, für alles zuständig, was auf ihrem Boden geschah. Diese Allzuständigkeit konnten sie zu einem Frühwarnsystem für neue Herausforderungen machen. Städte in Preußen hatten seitdem viel mehr Gestaltungsraum als anderswo, wo sie völlig integriert waren in die staatliche Organisation. Schon Stein wollte die Selbstverwaltung der Städte auf die Provinzen und den preußischen Gesamtstaat ausweiten, doch in dieser Verfassungsfrage stockte nach seinem Ausscheiden sehr bald der Wille der Krone. Am 5. Juni 1823 wurden immerhin Provinzialstände angeordnet; die Mitgliedschaft war aber an Grundbesitz gebunden und die Stände blieben auf Beratung beschränkt.[24]

 

19

Regierung: Organisationsedikt 1808

1794 war das Allgemeine Landrecht noch „für die Preußischen Staaten“ erlassen worden, und auch 1807 gab es, anders als in Bayern, noch nicht viele wirklich auf Preußen als einheitlichen Staat bezogene Institutionen – außer dem König. Noch immer herrschte das friderizianische System einer Regierung „aus dem Kabinett“, einem kleinen Beratungsraum im Schloss, wobei der König gerade nicht mit seinen Ministern beriet. Er erhielt deren Anträge vielmehr gefiltert durch die von ihm persönlich ausgewählten, von Karl August von Hardenberg schon 1797 als „halb oder gar nicht unterrichtet“ angesehenen Kabinettssekretäre, bedachte sie bei sich ohne weiteren Austausch, und entschied. Gegen diese Praxis entwarf Freiherr vom Stein das nach seinem Rücktritt durch Hardenberg noch umgearbeitete Organisationsedikt vom 16. Dezember 1808. Die gesamte Verwaltung sollte von einem dem König „unmittelbar untergeordneten obersten Standpunkt“ ausgehen, den Stein in einem kollegial entscheidenden Rat von möglichst wenigen Fachministern sah. Sie sollten die Geschäfte nach „unmittelbar ihnen erteilten Befehlen [des Königs] selbstständig und selbsttätig bei voller Verantwortlichkeit [leiten]“. Die Verantwortlichkeit aller Minister, noch ohne Parlament gedacht, und nicht überall mit der Gegenzeichnung verknüpft, sollte die Intransparenz der alten Kabinettsregierung ablösen. Hardenberg übertrug als Staatskanzler 1810 sich selbst den Vorsitz, verband das mit der Kontrolle des Zugangs aller anderen Minister zum König und beendete so vorläufig die Kollegialität.[25] Das Organisationsedikt enthielt auch den sehr differenzierten Geschäftsverteilungsplan der neuen Fachministerien und es wandelte die Kriegs- und Domänenkammern des Absolutismus in die Mittelbehörden der Regierungen unter einem Präsidenten um. Darüber setzte es in den zehn, dann acht Provinzen Oberpräsidenten, woraus sich die ungewöhnliche, charakteristische Vierstufigkeit der preußischen Verwaltung ergab. Die Oberpräsidenten sollten zunächst als ständige Kommissare des Ministeriums die Regierungen in ihrer Provinz in übergeordneten Fragen koordinieren, ohne dabei Vorgesetzte der Regierungspräsidenten zu werden und sich mit deren „Detailverwaltung“ abgeben zu müssen. Diese Verwaltung kam mit erstaunlich wenig Personal aus; im Jahre 1820 verwalteten das wiederhergestellte Preußen auf der Ebene der Mittelbehörden 598 (und 1852 noch 515) höhere Beamte, wozu auf der Kreisebene noch etwa 325 Landräte kamen.[26]

20

Freiheit in der Universität 1810

Freiherr vom Stein schlug Wilhelm von Humboldt als Leiter der Sektion für Unterricht und Kultus im neuen Innenministerium vor. In seiner kurzen Amtszeit bestimmte er wesentlich die neuartigen Grundlinien der 1810 gegründeten Universität Berlin. In seinem von der Zensur bis 1851 (!) unterdrückten Manuskript von 1792 über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates bestimmte er ihr Bildungsziel: „Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“ Er grenzte die neue Bildung ganz entschieden gegen die nutzenorientierten praktischen Fächer ab, die in der Aufklärung Zulauf gewonnen hatten, weil sie auf Brauchbarkeit im Alltag zielten. Diese neue Freiheit verlangte individuelle Studierfreiheit, und damit verbunden wollte Humboldt die jungen Männer herausfordern durch „Mannigfaltigkeit der Situationen“. Dem Staat blieb in der Universität als Aufgabe nur, beides zu sichern – durch Lehr- und Lernfreiheit in einer staatlich finanzierten Institution und durch Aufsicht über deren Auswahl von möglichst unterschiedlichen Professoren. Daraus entwickelte sich die für Deutschland im 19. Jahrhundert typische Forschungsuniversität als „staatliche Veranstaltung“ mit weitgehender Selbstverwaltung außer in Berufungsangelegenheiten.[27]