Handbuch des Strafrechts

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E. Die Willensherrschaft bei Schuldunfähigen und vermindert Schuldfähigen

I. Der schuldunfähige Tatmittler

157

Wer sich zur Begehung eines Deliktes eines Kindes (§ 19 StGB), eines im Sinne des § 3 JGG unreifen Jugendlichen oder eines nicht Zurechnungsfähigen (§ 20 StGB) bedient, ist mittelbarer Täter. Die mittelbare Täterschaft ergibt sich entweder aus der fehlenden Einsichtsfähigkeit des unmittelbar Ausführenden und ist dann nach den beim Verbotsirrtum geltenden Regeln zu behandeln (oben Rn. 90 ff.), oder sie folgt aus seiner mangelnden Normbefolgungsfähigkeit, die dem Hintermann – ähnlich wie in den Fällen verantwortungsausschließenden Notstandes (oben Rn. 26 ff.) – die Tatherrschaft vermittelt. Die Schuldlosigkeit des Ausführenden hat zur Folge, dass dem Hintermann die täterschaftliche Verantwortung für das Unrechtsgeschehen zugewiesen wird. Das entspricht der ganz h.M.[111]

158

Vereinzelt wird in der Literatur in solchen Fällen auch eine bloße Anstiftung für möglich gehalten.[112] Diese Ansicht kann sich auf RGSt 61, 265 berufen. Hier hatte der Angeklagte seinen 13-jährigen Enkel zu einer Brandstiftung veranlasst und wurde nur als Anstifter bestraft, weil das Kind für das von ihm begangene Unrecht „nicht volles, so doch hinreichendes Verständnis“ gehabt habe. So will auch Welzel[113] nur eine Anstiftung annehmen, wenn das Kind oder der Geisteskranke im Einzelfall „einen eigenen Willen entfalten“ konnte. Jakobs[114] bejaht eine Teilnahme oder Mittäterschaft, wenn „das Kind entgegen der gesetzlichen Vermutung vorzeitig zur Normerkenntnis und -befolgung“ reif ist. Köhler[115] meint, wer sich eines kleinen Kindes bediene, beziehe sich „auf ein überhaupt normreflektierendes Subjekt, er ist daher nicht mittelbarer Täter, sondern Anstifter“. Man möge zwar von „Tatherrschaft“ über ein „Werkzeug“ sprechen. „Aber danach ist der Tatmittler ein an sich freies Subjekt, das nur in bestimmter Hinsicht … zum Mittel fremder Unrechtsmaxime werden kann.“

159

Aber alle diese Lehren, die teils generell, teils nur in bestimmten Fällen eine Anstiftung annehmen wollen, gehen an der gesetzlichen Regelung vorbei: Denn diese geht davon aus, dass der unmittelbar Handelnde – ob nun als Kind, als unreifer Jugendlicher oder Zurechnungsunfähiger – sein Verhalten nicht an der Norm orientieren kann. Er ist schuldlos. Abweichende Würdigungen sind nicht vorgesehen. Der vom Gesetzgeber für schuldlos Erklärte trägt sogar weniger Verantwortung als viele, die ohne Tatbestandsvorsatz handeln, aber auf Grund unbewusster oder bewusster Fahrlässigkeit durchaus nicht schuldlos sind. Wenn in diesen Fällen ein „Handeln durch einen anderen“ und damit eine mittelbare Täterschaft angenommen wird, kann vernünftigerweise bei einer vollkommenen Schuldlosigkeit des Tatmittlers nichts Anderes gelten.

160

Richtig ist freilich, dass der Gesetzgeber einen generalisierenden Maßstab verwendet, wenn er Kinder für schlechthin schuldunfähig erklärt. Aber das tut er im Fall des § 35 StGB ebenfalls. Eine normative Grenzziehung nach dem Verantwortungsprinzip ist hier unerlässlich. Denn eine individualisierende Grenzziehung würde kaum sichere Ergebnisse ermöglichen und richterlicher Willkür Vorschub leisten.[116]

161

Eine Teilnahme kommt nach den Regeln, die schon für die Nötigungsfälle entwickelt worden sind (oben Rn. 39 ff.), nur bei der nicht tatermöglichenden Unterstützung eines vom Schuldunfähigen schon selbst gefassten Deliktsplanes in Betracht.

162

Die Veranlassung einer Selbstschädigung von Kindern und nicht verantwortlichen Jugendlichen ist immer eine mittelbare Täterschaft. Das gilt ebenso für die Bestimmung Schuldunfähiger zur Selbstschädigung. In der Literatur werden wie bei der Nötigung (oben Rn. 46 ff.) und der durch Täuschung veranlassten Selbstschädigung (oben Rn. 86 ff.) von vielen Autoren geringere Anforderungen an die mittelbare Täterschaft gestellt, indem die Voraussetzungen des § 20 durch die Kriterien der „Ernstlichkeit“ i.S.d. § 216 StGB oder der Einsichtsfähigkeit bei der Einwilligung ersetzt werden.

163

Die Gründe, die dagegen sprechen, sollen hier nicht wiederholt werden. Es sei nur darauf hingewiesen dass Jugendlichen, die etwa aus Liebeskummer oder wegen schulischer und beruflicher Probleme aus dem Leben scheiden wollen, die Reife i.S.d. § 3 JGG abzusprechen ist, so dass einem Tatveranlasser aus diesem Grunde die mittelbare Täterschaft zuwächst. Bei Erwachsenen kann eine unglückliche Liebe oder ein berufliches Scheitern zu einer endogenen Depression führen, die den Krankheitswert des § 20 StGB erreicht und in diesem Fall einen Tatveranlasser zum mittelbaren Täter macht. Wo aber die Selbstverantwortung des Suizidenten erhalten bleibt, muss eine Strafbarkeit des Tatveranlassers nach geltendem Recht ausscheiden.

II. Der unmittelbar Ausführende ist i.S.d. § 21 StGB erheblich vermindert zurechnungsfähig

164

In diesen Fällen ist nach der von mir schon im Jahr 1963 entwickelten Auffassung[117] zu differenzieren.

165

Wenn die verminderte Einsichtsfähigkeit dazu geführt hat, dass der Täter im konkreten Fall das Unerlaubte seines Tuns nicht erkannt hat, so handelt er im Verbotsirrtum, und der die Tat veranlassende Hintermann ist nach den für diesen Fall entwickelten Grundsätzen (oben Rn. 90 ff.) in der Regel als mittelbarer Täter zu bestrafen.

166

Hat er dagegen das Unrecht der Tat im konkreten Fall trotz verminderter Einsichtsfähigkeit erkannt, ist § 21 insoweit nicht anwendbar, und ein Tatveranlasser ist bloßer Anstifter, wenn die Hemmungs- und Steuerungsfähigkeit des Ausführenden zwar vermindert, aber noch erhalten geblieben ist. Auch in ständiger Rechtsprechung ist anerkannt,[118] dass § 21 in seiner ersten Alternative ausscheidet, „wenn der Täter trotz an sich verminderter Einsichtsfähigkeit das Unerlaubte seines Tuns erkennt“.

167

Die erheblich verminderte Fähigkeit, nach der vorhandenen Unrechtseinsicht zu handeln, kann dagegen nicht zur mittelbaren Täterschaft des Hintermannes führen. Denn da der Täter immerhin noch fähig war, sein Handeln nach der ihm zur Verfügung stehenden Unrechtseinsicht zu bestimmen, kann der Hintermann nur Anstifter sein. Die geringere Steuerungsfähigkeit des unmittelbar Ausführenden schließt dessen Täterschaft so wenig aus wie ein unterhalb der Schwelle des § 35 StGB bleibender Nötigungsdruck.

168

Der hier vertretenen differenzierenden Lösung haben sich verschiedene Autoren angeschlossen.[119] Die Rechtsprechung[120] und einige Autoren[121] nehmen durchweg eine Anstiftung an, während andere im „Grenzbereich“ der Entschuldigungsgründe eine mittelbare Täterschaft bejahen.[122] Aber eine Anstiftung kann bei unverschuldetem Mangel an Unrechtseinsicht nicht in Frage kommen, weil die für den Verbotsirrtum des unmittelbar Handelnden entwickelten Regeln dem entgegenstehen. Und eine mittelbare Täterschaft muss scheitern, wo der Ausführende selbst – noch – als vorsätzlicher Täter verantwortlich ist.

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 52 Mittelbare Täterschaft › F. Die Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate

F. Die Tatherrschaft kraft organisatorischer Machtapparate

I. Die Entwicklung der Rechtsfigur

169

Es gibt im Rahmen der mittelbaren Täterschaft nur drei Formen der Tatherrschaft: Diese kann auf der ausgeschlossenen Verantwortlichkeit des unmittelbar Handelnden (oben Rn. 26 ff., 157 ff.) oder auf seiner Irrtumsbefangenheit (oben Rn. 73 ff., 164 ff.), daneben aber auch auf der Beherrschung einer tatausführenden deliktischen Organisation beruhen.

170

Diese dritte Form der Tatherrschaft in Gestalt der mittelbaren Täterschaft ist von mir zuerst im Jahr 1963 entwickelt worden und zielte darauf ab, die Urheber nationalsozialistischer Gewaltverbrechen als mittelbare Täter zu erfassen. Unmittelbarer Anlass war der Prozess gegen Eichmann in Jerusalem, der den Transport von Juden in die Vernichtungslager organisiert hatte. Der Grundgedanke ist, dass die Beherrschung eines der Deliktsbegehung dienenden Machtapparates, wie sie vor allem bei diktatorisch veranlassten Systemverbrechen anzutreffen ist, die Ausführung einer angeordneten Straftat sicherstellt, ohne dass der Ausführende – anders als im Falle der Anstiftung – durch seine Weigerung die Tatbegehung verhindern kann.

171

Die mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft ist nach der letzten Fassung meiner Lehre an drei Voraussetzungen gebunden. Der Anordnende muss im Rahmen der Organisation eine Befehlsgewalt ausüben (1); die Organisation muss sich im Bereich ihrer strafrechtlich relevanten Tätigkeiten vom Recht gelöst haben (2); und die individuell Ausführenden müssen ersetzbar (fungibel) sein, so dass beim Ausfall eines Vollstreckers ein anderer an seine Stelle tritt (3).

 

172

Bei den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – nicht nur im Fall Eichmann – waren diese Voraussetzungen problemlos aufweisbar. Die Anordnung der Morde in den KZ-Lagern etwa erfolgte unter grundsätzlicher Missachtung des Tötungsverbotes und war von der Bereitwilligkeit individuell Ausführender unabhängig, weil beim Ausfall einzelner Exekutoren ihre Tätigkeit von anderen übernommen wurde.

173

Diese Form der mittelbaren Täterschaft blieb in der deutschen Rechtsprechung zunächst unbeachtet und wurde bei Aburteilung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht herangezogen. Sie fand jedoch in der Literatur überwiegend Zustimmung und wurde auch im Ausland viel diskutiert.

174

Der Bundesgerichtshof hat diese Lehre dann 1994 im sog. Mauerschützen-Prozess[123] übernommen und die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der ehemaligen DDR als mittelbare Täter der Erschießung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze verurteilt. Er hat diese Lehre freilich entgegen meiner Intention auf die Leiter von Wirtschaftsunternehmen erstreckt (dazu Rn. 213 ff.) und die Anerkennung dieser Form der mittelbaren Täterschaft hernach in zahlreichen Urteilen bestätigt.

175

Im Ausland hat sich die Lehre von der Organisationsherrschaft auch in der Rechtsprechung vor allem Lateinamerikas vielfach durchgesetzt.[124] Am eindrucksvollsten und gründlichsten ist dies in Peru geschehen, wo die Sala Penal Especial des obersten Gerichtshofs in einem Urteil vom 7. April 2009 den ehemaligen Präsidenten Fujimori als mittelbaren Täter der von seinen Einsatzkommandos verübten Verbrechen bestraft und sich dabei in allen Einzelheiten auf meine Lehre von der Organisationsherrschaft gestützt hat.[125] Das Revisionsurteil der peruanischen Primera Sala Transitoria vom 30. Dezember 2009 hat das erstinstanzliche Urteil in ausführlichen Darlegungen unter Bekundung seiner „tiefen Überzeugung“ („profunda convicción“) von der Richtigkeit der Organisationsherrschaftslehre bestätigt.

176

Auch der Internationale Strafgerichtshof hat sich die Lehre von der Organisationsherrschaft verschiedentlich zu eigen gemacht.[126] So heißt es z.B. in der sog. Katanga-Entscheidung der Vorverfahrenskammer I aus dem Jahr 2008 mit zustimmenden Ausführungen: „In der Rechtslehre ist ein Konzept entwickelt worden, das die Möglichkeit anerkennt, eine Person strafrechtlich verantwortlich zu machen, die durch einen anderen handelt, und zwar unabhängig davon, ob der Ausführende (der unmittelbar Handelnde) ebenfalls strafrechtlich verantwortlich ist. Diese Lehre gründet sich auf die frühen Arbeiten von Claus Roxin.“

II. Zum Meinungsstreit über die Organisationsherrschaft

177

In der Literatur wird die Organisationsherrschaft als eigenständige Form mittelbarer Täterschaft überwiegend anerkannt,[127] auch wenn die Begründungen nicht in allen Punkten einheitlich sind. Auch die vorliegenden Dissertationen zum Thema[128] vertreten – bei manchen Modifikationen im Einzelnen[129] – die Lehre von der Organisationsherrschaft. „Nur wenige Stimmen stehen der Konstruktion ablehnend gegenüber“, sagt Joecks,[130] und Heine resümiert:[131] „Im Einzelnen dürfte, soweit es um organisatorische Machtapparate geht, die sich als ganze von den Normen des Rechts gelöst haben, mittelbare Täterschaft wohl als weithin gesichert gelten.“

178

Ungeachtet dessen gibt es auch heute namhafte Autoren, die eine mittelbare Täterschaft ablehnen und andere Konstruktionen bevorzugen. Es ist nicht möglich, darauf hier in allen Einzelheiten einzugehen. Ich habe mich mit den Kritikern in zahlreichen Stellungnahmen auseinandergesetzt, auf die ich hier verweise.[132] Nachfolgend sollen alle wichtigen Einwände und Alternativlösungen in exemplarischer Form behandelt werden.

1. Der aus dem Verantwortungsprinzip abgeleitete Einwand

179

Das häufigste Argument gegen die Anerkennung einer mittelbaren Täterschaft wird aus dem Verantwortungsprinzip abgeleitet. Es ist in neuerer Zeit, wenn auch in etwas unterschiedlicher Weise, wieder von Jakobs und Herzberg geltend gemacht worden.

180

Jakobs[133] erkennt die faktische Herrschaft der Hintermänner im Rahmen deliktischer Organisationen durchaus an:[134] „Das Vorliegen von Herrschaft lässt sich in solchen Fällen nicht bezweifeln.“ Die „faktische Hemmungslosigkeit des Ausführenden“ werde „zum funktionalen Äquivalent für den Zurechnungsdefekt eines Werkzeuges“.

181

Jedoch stelle die „rechtliche Tatmacht … auf die Verantwortung für die Machtlage ab … Die in einem organisatorischen Machtapparat Handelnden sind, weil sie ihrerseits vollverantwortlich handeln, eben keine Werkzeuge, und demgemäß ist der Anordnende kein mittelbarer Täter, weil er wegen der Verantwortlichkeit des Ausführenden nicht rechtlich ‚durchgreifen‘ (d.h. über die Verwirklichung des Tatbestandes als letzter verantwortlich entscheiden) kann.“

182

Es ist aber nicht ersichtlich, warum die „Verantwortung für die Machtlage“ nur den treffen soll, der zeitlich „als letzter“ handelt, während doch der Hintermann die weit größere Verantwortung trägt. Denn von seiner Anordnung und Durchsetzungsmöglichkeit hängt die Begehung des Deliktes ab, während der Ausführende zwar auch als Täter verantwortlich ist, wegen der Ersetzbarkeit des einzelnen Schergen die Tat (z.B. die Ermordung eines KZ-Insassen) aber nicht verhindern kann, so dass in einem weiteren Sinn die „letzte Entscheidung“ immer in der Mordanordnung des Hintermannes liegt.

183

Jakobs sagt weiter:[135] „Die Großen sind nicht groß ohne die Kleinen – die Rede von der mittelbaren Täterschaft durch Benutzung eines organisatorischen Machtapparates verschleiert dieses objektive gegenseitige Angewiesensein bei Organisationsdelikten.“ Aber dieses „Aufeinander-Angewiesensein“ wird gerade dadurch bekräftigt, dass beide als Täter bestraft werden. Der Ausführende hat die „Handlungsherrschaft“, während der Hintermann mit Hilfe des von ihm gesteuerten Apparates, in dem der Exekutor nur ein Rädchen im Getriebe ist, die Willensherrschaft ausübt. Entscheidend ist nicht die Herrschaft über den unmittelbar Handelnden, sondern über die Tatbestandsverwirklichung.

184

Herzberg betrachtet die Konstruktion der Organisationsherrschaft als „Frucht“ eines „faktizistischen Fehlansatzes“[136]. „Selbst wenn es so wäre …, dass … der Machtapparat reibungslos funktioniert und deshalb im konkreten Fall die Begehung des befohlenen Deliktes gewiss war – eine mittelbare Täterschaft ließe sich damit nicht begründen.“ Man dürfe die Tatherrschaft nicht „faktisch-naturalistisch“ verstehen, sondern müsse sie „normativ“ deuten.[137] In einem normativen Sinn hänge die Tatherrschaft davon ab, „dass beim Bewirken des tatbestandlichen Erfolges kein fremdes, nach der betreffenden Norm strafbares Handeln eingeschaltet ist“.

185

Aber es ist nicht sinnvoll, eine angeblich normative Deutung der mittelbaren Täterschaft gegen die für irrelevant erklärte faktische Beherrschung des Geschehens auszuspielen. Denn wenn der Hintermann das Geschehen tatsächlich beherrscht, ist die Anerkennung mittelbarer Täterschaft kein „Faktizismus“, sondern hat einen ausschlaggebenden normativen Sinn, indem sie den Befehlshaber an den Schalthebeln der Macht als den primär Verantwortlichen kennzeichnet.[138] Dagegen ist nicht ersichtlich, welcher normative Grund den Hintermann von seiner Verantwortung als mittelbarer Täter einer Tatbestandsverwirklichung entlasten sollte, wenn er im Rahmen der von ihm dirigierten Organisation anonyme Schergen zur Begehung von Mordtaten einsetzt.

2. Zur Problematik der „Rechtsgelöstheit der deliktischen Organisation“

186

Voraussetzung einer mittelbaren Täterschaft ist nach meiner Lehre, dass die Organisation sich im Bereich ihres strafbaren Handelns vom Recht gelöst hat, d.h. die allgemein gültigen strafrechtlichen Verbote als für sie nicht verbindlich betrachtet. Das gilt für die Nazi-Verbrechen bei der in millionenfachen Morden bestehenden „Endlösung“ der Judenfrage, aber auch für die Verhinderung der „Republikflucht“ in der DDR, für terroristische Anschläge (man denke an die tausendfachen Tötungen im World-Trade-Center!) sowie für Genozide und „ethische Säuberungen“.

187

Dieses Kriterium wird vor allem durch den Hinweis bestritten, dass es keine selbstständige Funktion habe, weil es nur die Strafbarkeit des konkreten Verhaltens bezeichne.[139] Aber mit der Rechtsgelöstheit ist mehr als die Strafbarkeit im Einzelfall gemeint. Denn sie sichert die reibungslose Durchführung der Straftaten gerade dadurch, dass der Ausführende nicht befürchten muss, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Jakobs[140] spricht mit Recht von einer „faktischen Hemmungslosigkeit des Ausführenden“, „wenn … eine Gegenwelt zur rechtlich verfassten Welt einigermaßen stabil etabliert worden ist, so dass es … auf die Rechtlichkeit des Angeordneten für den Ausführenden überhaupt nicht mehr ankommt“.

188

Der oberste peruanische Gerichtshof hat im erstinstanzlichen Fujimori-Urteil die Rechtsgelöstheit als für die mittelbare Täterschaft der Hintermänner geradezu „entscheidend“ erklärt,[141] weil dadurch die Herrschaft über die Organisation konsolidiert werde und weil sie dazu führe, „dass die Vollstrecker eher zur Tatbegehung bereit sind, weil sie wissen …, dass keine Norm oder Autorität ihr kriminelles Verhalten aufhalten oder bestrafen wird“.

189

Man muss nur zwei Klarstellungen beachten.[142] Bei Staatsverbrechen, wie sie die nationalsozialistischen Gewalthaber, die Staatsführung der DDR, aber auch zahlreiche Diktaturen in aller Welt begangen haben, genügt eine Rechtsgelöstheit, die sich auf bestimmte Tätigkeitsfelder (etwa die Verfolgung von Minderheiten und Regimegegnern) beschränkt. Außerdem kommt es für die rechtliche Beurteilung nicht auf die Ansicht der Verbrechensorganisatoren, sondern auf den Rechtsstandpunkt des erkennenden Gerichts an. Auch wenn etwa die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates der DDR Tötungen zur Verhinderung einer „Republikflucht“ für rechtmäßig gehalten haben, bezeugen sie damit eine Einstellung, die sich von den anerkannten rechtlichen Normen gelöst hat.

3. Die Fungibilität der Exekutoren und die Erfolgssicherheit beim Einsatz organisatorischer Machtapparate

190

Auch dieses Kriterium ist nicht unbestritten, wird aber vom BGH, vom IStGH und auch von den peruanischen Urteilen anerkannt.[143] Freilich genügt es nicht für das Vorliegen eines mittelbare Täterschaft begründenden Machtapparates, dass eine Gruppe von Delinquenten nur durch persönliche Beziehungen miteinander verbunden ist. Die Organisation muss einen vom Wechsel der Mitglieder unabhängigen Bestand haben und nicht auf die Bereitwilligkeit Einzelner angewiesen sein.

191

Der oft erhobene Einwand, dass auch in einem solchen Fall der zur unmittelbaren Tatausführung Berufene durch befehlswidriges Verhalten das Opfer verschonen könne und dass dies eine Herrschaft der Hintermänner ausschließe, geht fehl. Bei den KZ-Morden, bei „ethnischen Säuberungen“ und bei der Liquidation von Regimegegnern hat der einzelne Exekutor kaum je eine Verhinderungsmacht, weil viele Ausführende an dem Geschehen beteiligt sind und die Tat übernehmen, vor der ein Einzelner vielleicht zurückschreckt. Selbst beim Schießbefehl an der Mauer konnte ein Einzelner nicht nach Belieben Flüchtlinge entkommen lassen, weil er von anderen beobachtet wurde, die ggf. eingegriffen hätten.

 

192

Wenn es einer unkontrollierten Entscheidung des Ausführenden überlassen bleibt, ob die angeordnete Tat begangen wird oder nicht, fehlt es an einer funktionierenden Organisation und mit ihr an einer Organisationsherrschaft.

193

Eine Organisationsherrschaft wird freilich nicht dadurch ausgeschlossen, dass in seltenen Einzelfällen eine angeordnete Tat vereitelt werden konnte, wenn z.B. ein mit der Erschießung von „Flüchtlingen“ beauftragter KZ-Aufseher ein Opfer unbemerkt entkommen ließ. Aber damit wird nur bewiesen, dass eine mittelbare Täterschaft, wie bei ihren sonstigen Erscheinungsformen, ausnahmsweise auch hier im Versuch stecken bleiben kann. Der BGH hat mit Recht im Hinblick auf die Organisationsherrschaft festgestellt: „… beim Einsatz irrender oder schuldunfähiger Werkzeuge sind Fallgestaltungen häufig, bei denen der mittelbare Täter den Erfolgseintritt weit weniger in der Hand hat als bei Fällen der beschriebenen Art.“