Handbuch des Strafrechts

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B. Die Erscheinungsformen mittelbarer Täterschaft

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Es gibt unter dem Gesichtspunkt der Tatherrschaft drei Grundtypen der mittelbaren Täterschaft: die Nötigungsherrschaft (genauer: Notstandsherrschaft), die Irrtumsherrschaft und die Organisationsherrschaft.

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Eine Nötigungsherrschaft des Hintermannes liegt im Regelfall vor, wenn der unmittelbar Ausführende im Nötigungsnotstand handelt (§ 35 StGB) oder wenn ein vom Hintermann ausgeübter Druck die Tatausführung als gerechtfertigte Notstandshandlung erscheinen lässt (§ 34 StGB).

21

Eine mittelbare Täterschaft kraft Irrtums ist in vierfach geschichteter Weise möglich: wenn der Ausführende ohne Tatbestandsvorsatz handelt, wenn er die materielle Rechtswidrigkeit seines Verhaltens nicht erkennt, wenn er über schuldausschließende Umstände irrt oder wenn er bei bewusst strafbarem Handeln die Unrechts- oder Schulddimension seines Verhaltens nur in wesentlich eingeschränktem Maße übersieht.

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Die mittelbare Täterschaft bei Benutzung Schuldunfähiger, vermindert Schuldfähiger, beim Einsatz von Kindern und Jugendlichen zur Tatbegehung, die hier gesondert behandelt wird, ist strukturell nur eine Kombination von Nötigungs- und Irrtumsherrschaft.

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Eine mittelbare Täterschaft im Rahmen eines organisatorischen Machtapparates setzt voraus, dass der Anordnende über Befehlsgewalt verfügt, dass der Machtapparat sich von den Bindungen an das Recht gelöst hat und bei der Ausführung von Straftaten nicht auf die freie Entscheidung Einzelner angewiesen ist, sondern auf beliebig ersetzbare (fungible) Schergen zurückgreifen kann.

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Daneben tritt als vierte Form der mittelbaren Täterschaft die nicht der Tatherrschaftslehre, sondern dem Täterbegriff der Pflichtdelikte unterliegende mittelbare Täterschaft durch Benutzung eines qualifikationslosen dolosen Ausführenden.

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Abschließender Erwähnung bedürfen die Fälle ausgeschlossener mittelbarer Täterschaft bei absichtslos-dolosen Ausführenden, bei eigenhändigen Straftaten und das Problem des Irrtums über die Voraussetzungen mittelbarer Täterschaft.

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 52 Mittelbare Täterschaft › C. Die Nötigungsherrschaft

C. Die Nötigungsherrschaft

I. Die Grundkonstellation des Nötigungsnotstandes, § 35 StGB

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Der einfachste Fall der Willensherrschaft kraft Nötigung ist der, dass ein Hintermann den Ausführenden durch eine Drohung nach § 35 StGB zu einer Straftat nötigt. A droht etwa dem B, er werde ihn umbringen, wenn er nicht die Kasse eines Supermarktes beraube und das Geld bei ihm abliefere. Wenn B sich der Drohung fügt, ist er entschuldigter Täter eines Raubes (§ 249 StGB), während A als mittelbarer Täter des Raubes bestraft wird.

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Das Beispiel verdeutlicht die Struktur der Nötigungsherrschaft. Es handelt sich um einen Fall des Täters hinter dem entschuldigten Täter. Der Ausführende hat die Handlungsherrschaft (und ist damit exkulpierter unmittelbarer Täter), während der Hintermann die Willensherrschaft innehat, die seine mittelbare Täterschaft begründet. Die beiden Formen der Tatherrschaft schließen einander also nicht aus, sondern die Willensherrschaft des Veranlassers überlagert die Handlungsherrschaft des Ausführenden (des „Werkzeugs“, wie ein oft verwendeter bildlicher Ausdruck sagt).

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Die Abgrenzung zwischen mittelbarer Täterschaft und Anstiftung folgt bei dieser Fallgruppe dem von mir schon vor mehr als 50 Jahren entwickelten Verantwortungsprinzip (genauer: dem Prinzip ausgeschlossener Verantwortung beim unmittelbar Handelnden): Die mittelbare Täterschaft beginnt da, wo die strafrechtliche Verantwortung des Ausführenden endet.[1]

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Das hat einen guten Grund: Denn wenn der vom Hintermann ausgehende Druck so stark ist, dass der Gesetzgeber dem Betroffenen ein Standhalten nicht mehr zumutet, schiebt er durch diese Entscheidung die Verantwortung und damit die tatbestandsverwirklichende Willensherrschaft dem Hintermann zu. Das bedeutet keine durchgehende Normativierung des Tatherrschaftsbegriffs. Entscheidend ist vielmehr die tatsächlich ausgeübte Herrschaft. Aber ihre Abgrenzung von der Einflussnahme durch Anstiftung folgt – wie fast alle rechtlichen Abgrenzungen – einer gesetzlich festgelegten Regel, die sogar auf die Herrschaftsverhältnisse zurückwirkt. Denn der Genötigte wird sich dem Druck vielfach umso leichter beugen, wenn er weiß, dass er keine Strafe zu gewärtigen hat.

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Die hier befürwortete Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft nach dem Verantwortungsprinzip entspricht der durchaus h.M.[2] Diese ist aber nicht unbestritten. Einige Autoren wollen auch in Fällen des Nötigungsnotstandes den Hintermann nur als Anstifter bestrafen,[3] während eine dritte Auffassung im entgegengesetzten Sinn auch bei einem Willensdruck, der keinen Nötigungsnotstand, sondern nur eine schlichte Nötigung begründet, eine mittelbare Täterschaft schon für gegeben hält.[4] Was zunächst die Befürworter einer bloßen Anstiftung des Hintermannes im Fall des Nötigungsnotstandes betrifft, so beruft Köhler sich auf der Grundlage seiner idealistischen Strafrechtskonzeption „auf die Besonderheiten des Verhaltenszusammenhanges zwischen freien Subjekten“[5]. Der Genötigte sei „in der tatbezogenen Rechtsregelanwendung … an sich selbstbestimmt, mag er sich auch in einer relativen Autonomiedifferenz zum anderen befinden“[6]; er werde daher „nicht zum bloßen Mittel gesetzt“[7]. In ähnlicher Weise beruft sich auch Noltenius[8] auf die fortbestehende Tatherrschaft des Genötigten: „Der Ausführende bleibt und begreift sich auch im Nötigungsnotstand als derjenige, dem die Rechtsverletzung als sein willentliches Werk zuzurechnen ist.“

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Daran ist richtig, dass dem Genötigten die Handlungsherrschaft verbleibt. Das ändert aber nichts daran, dass der Gesetzgeber auf Grund der auch von Köhler zugestandenen „Autonomiedifferenz“ das Geschehen nicht dem Genötigten, sondern dem Hintermann als Straftat zurechnet. Bei Annahme einer Anstiftung würde ein verantwortlicher Täter überhaupt fehlen. Das widerstreitet dem eindeutigen Befund, dass der Hintermann die beherrschende Zentralgestalt des Geschehens ist.

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Allein die Annahme einer mittelbaren Täterschaft entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. In der Begründung des E 1962[9], auf den die heutige Gesetzesfassung zurückgeht, heißt es ausdrücklich, dass mittelbare Täterschaft vorliege, „wenn der Täter durch eine … in einer entschuldigenden Notstandslage handelnde Person … eine Straftat begeht“. Eine frühere Gesetzesfassung,[10] in der die Schuldlosigkeit des Tatmittlers als Fall der mittelbaren Täterschaft genannt wurde, ist nur deshalb nicht Gesetz geworden, weil der Gesetzgeber auch die Möglichkeit einer mittelbaren Täterschaft trotz „vollverantwortlichen Tatmittlers“ offenhalten wollte.[11] Die Annahme einer bloßen Anstiftung verstößt also gegen den eindeutigen Willen des Gesetzgebers. Das gilt auch gegenüber der These von Noltenius, wonach der Ausführende auch im Nötigungsnotstand derjenige bleibe, „dem die Rechtsverletzung als sein willentliches Werk zuzurechnen ist“. Denn die „Rechtsverletzung“ wird ihm vom Gesetz – und darauf allein kommt es an – gerade nicht zugerechnet![12]

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Häufiger vertreten wird die extreme Gegenauffassung, nach der auch Willensbeeinflussungen unterhalb der Grenze des Nötigungsnotstandes eine mittelbare Täterschaft begründen können. Schroeder[13] will schon im „Grenzbereich der Entschuldigungsgründe“ eine mittelbare Täterschaft annehmen. Maurach/Gössel[14] bejahen eine Tatherrschaft des Hintermannes bei „psychischer Beherrschung des strafbaren Tatmittlers“, z.B. in dem Fall, dass jemand eine ihm hörige Frau durch die Drohung, sie sonst zu verlassen, zur Tötung ihres Ehemanns bestimmt. Schild[15] meint, dass „auch z.B. schwerwiegende Bedrohung des Vermögens, der Ehre, des Hausrechts usw. ausreichenden Druck erzeugen könnten, wenn sie der Hintermann gezielt und erfolgreich zur Lenkung des Genötigten einsetzt“. Hoyer[16] betont: „Der Hintermann muss … entweder Gewalt angewendet oder mit einem empfindlichen Übel gedroht haben; die dadurch hervorgerufene Zwangslage braucht aber weder den Voraussetzungen des § 20 noch denen des § 35 zu genügen.“ Frister[17] schließlich zieht eine Parallele zu den Irrtumsfällen. Es spreche „vor allem der Vergleich mit dem aufgrund eines Irrtums handelnden Werkzeugs dafür, … jeden nach § 240 rechtswidrigen Zwang für eine mittelbare Täterschaft ausreichen zu lassen“. Es werde „die Überlegenheit eines rechtswidrig nötigenden Hintermannes nicht dadurch beseitigt, dass der Vordermann rechtlich verpflichtet ist, der Nötigung standzuhalten. Wenn A den B durch Drohung mit der Offenbarung ehrenrühriger Tatsachen erfolgreich dazu nötigt, das Auto des C zu zerkratzen, ist B zwar wegen Sachbeschädigung strafbar. Aber dies ändert nichts daran, dass er die Tat nur deshalb begangen hat, weil A ihn rechtswidrig dazu gezwungen hat.“

 

34

Aber auch diese Auffassungen, die dem oben (Rn. 11) sog. Prinzip der überwiegenden Einflussnahme folgen, verfehlen die gesetzliche Verantwortungszuweisung. Der Ausführende bleibt in vollem Umfang strafbar und übersieht das Geschehen in demselben Maße wie der Hintermann. Der Hintermann ist auf die freie und verantwortliche Entscheidung des Ausführenden zur Tatbegehung angewiesen. Sein Willenseinfluss erreicht nicht den Grad der Willensherrschaft, so dass er Anstifter bleibt. Es besteht auch kein kriminalpolitisches Bedürfnis zur Annahme einer mittelbaren Täterschaft, weil die Bestrafung wegen Anstiftung in Idealkonkurrenz mit Nötigung allen Bestrafungsbedürfnissen vollauf genügt. „Umgekehrt lässt sich dadurch, dass auch … Fälle einer gravierenden Einflussnahme noch unter § 26 fallen, die andernfalls zweifelhafte Gleichstellung im Strafrahmen zwischen Anstiftung und Täterschaft rechtfertigen.“[18]

35

Es kommt zweierlei hinzu. Zunächst ist es doch ein erheblicher Unterschied, ob jemand einer „gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit“ ausgesetzt ist (§ 35 Abs. 1, S. 1 StGB) oder mit der Offenbarung ehrenrühriger Tatsachen oder der Untreue eines Geliebten[19] bedroht wird. Einfache Nötigungen sind keine Gefahr für die Körperintegrität oder die Freiheit; das angedrohte Übel ist meist noch nicht gegenwärtig und oft auch anders abwendbar. Es bestehen also sehr gute Gründe, sich der gesetzlichen Wertung anzuschließen und zwischen Willensherrschaft und Willenseinfluss nach dem Maßstab des § 35 zu unterscheiden.

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Auch die von Frister gezogene Parallele zu den Irrtumsfällen rechtfertigt keine andere Abgrenzung. Zwar kann nach der hier vertretenen Lehre von der mittelbaren Täterschaft als „Verwirklichungsherrschaft“ ein Irrtum des Ausführenden den Hintermann u.U. auch dann zum mittelbaren „Täter hinter dem Täter“ machen, wenn der Irrende für sein Tun als Vorsatztäter verantwortlich bleibt. Aber das ist nur dann der Fall, wenn wesentliche Dimensionen des konkreten Tatunrechts vom Ausführenden nicht erkannt und allein vom Hintermann beherrscht werden. Bei der hier behandelten Konstellation aber übersieht der Genötigte den Sachverhalt und die Unrechtsdimension genauso gut wie der Hintermann.

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Es bleibt also dabei: In den Nötigungsfällen erfolgt die Abgrenzung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung nach dem Verantwortungsprinzip.

II. Die Schaffung und Ausnutzung von Notlagen

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Die hier in Betracht kommenden Konstellationen sind theoretisch interessant, aber von geringer praktischer Bedeutung.[20] Es kommen drei Fälle in Betracht.

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Die eindeutigste Situation ist die, dass ein Hintermann einen anderen nicht durch eine Nötigung, sondern durch Schaffung einer Gefahrenlage i.S.d. § 35 StGB in eine Situation bringt, die diesen dazu veranlasst, sich auf Kosten anderer zu retten. Wenn also A den B bei einer Bergtour in eine Gefahrenlage manövriert, aus der B sich, wie von A geplant, nur durch ein Zerschneiden des Seils und die damit verbundene Tötung des C retten kann, ist A für die Tötung des C als mittelbarer Täter verantwortlich. Denn er hat die Gefahrensituation geschaffen, die zur Entschuldigung des unmittelbar Handelnden führt, so dass die Herrschaftslage derjenigen des Nötigungsnotstandes entspricht.[21] Demgegenüber will Schumann[22] eine mittelbare Täterschaft nur beim Nötigungsnotstand bejahen. Es kann aber keinen Unterschied machen, ob der Hintermann den Ausführenden durch eine Drohung oder durch andere Mittel in eine dem § 35 unterfallende Situation bringt; der verantwortungsausschließende Nötigungsdruck ist in beiden Fällen derselbe.

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Eine zweite Sachverhaltsgruppe ist die, dass ein Hintermann dem ohne sein Zutun in Not Geratenen die Möglichkeit verschafft, sich auf Kosten anderer zu retten. Er gibt z.B. dem Schiffbrüchigen einen Revolver, mit dem dieser sich einen sonst nicht erlangbaren Platz im Rettungsboot „freischießt“. Auch hier verursacht der Hintermann den Tod anderer durch eine nach § 35 StGB entschuldigte Mittelsperson.[23]

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Demgegenüber will Frister[24] den Hintermann nur wegen Beihilfe bestrafen. Er habe „– weil er die Zwangslage nicht beseitigen kann – gegenüber dem Ausführenden keine überlegene Position“. Er kann jedoch als einziger den Tod Dritter durch eine nicht verantwortliche Mittelperson bewirken, und das verschafft ihm die Tatherrschaft.

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Ein dritter Fall mittelbarer Täterschaft liegt vor, wenn jemand die Rettung aus einer ohne sein Zutun entstandenen Gefahr i.S.d. § 35 StGB von einer Straftatbegehung abhängig macht. Jemand erklärt sich z.B. nur unter der Bedingung bereit, einen Schwerverletzten ins Krankenhaus zu fahren, dass dieser seine Unterschrift für eine Urkundenfälschung hergibt. Auch hier liegt die Tatherrschaft beim Hintermann, der eine exkulpierende Notlage zur Tatbegehung „durch einen anderen“ benutzt.[25]

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Das bestreitet Joecks,[26] der das Argument, das Delikt beruhe allein auf dem Verhalten des Hintermannes, nicht gelten lassen will: „Auch ohne den Anstifter würde die Haupttat nicht begangen. Wer lediglich eine Situation ausnutzt, die er nicht selbst herbeigeführt hat, ist kein mittelbarer Täter.“[27] Aber dabei wird außer Acht gelassen, dass der Anstifter auf einen verantwortlichen Täter einwirkt und nicht, wie es der Hintermann in unserem Fall tut, ein exkulpiertes „Werkzeug“ als Mittelsmann zur Tatbegehung einsetzt.

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Dagegen liegt eine bloße Teilnahme vor, wenn jemand auf die entschuldigende Notstandstat eines anderen einwirkt, ohne die Notstandslage geschaffen zu haben oder dem in Not Geratenen eine Rettungsmöglichkeit um den Preis einer Deliktsverwirklichung überhaupt erst zu bieten. Wer also dem in Not Befindlichen rät, sich auf Kosten eines anderen zu retten, ohne ihm die Mittel dazu an die Hand zu geben, ist nur Teilnehmer, weil er die Situation des in Not Geratenen nicht herrschaftsbegründend beeinflusst. Eine Belehrung über die Rechtslage, also einen Hinweis auf die Regelung des § 35 StGB, wird man sogar als straflos ansehen müssen.

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Anders entscheidet hier M. Heinrich,[28] der schon eine mittelbare Täterschaft annimmt, wenn jemand einen in Not Geratenen auffordert, sich auf Kosten eines anderen aus seiner Lage zu befreien oder ihn sogar nur auf die Straflosigkeit eines solchen Verhaltens hinweist. Denn dadurch werde „das vorgegebene Entscheidungsdefizit des Vordermannes instrumentalisiert“ und „die Hemmschwellenüberschreitung durch den Vordermann initiiert“. Aber die Initiierung einer Hemmschwellenüberschreitung ist der typische Fall einer Anstiftung. Es liegt nur eine psychische Beeinflussung vor, die für eine Tatherrschaft nicht ausreicht. Denn was der Hintermann dem in Not Geratenen sagt, könnte dieser sich auch selber sagen. Herrschaft setzt voraus, dass der Hintermann auf die Entstehung der Notsituation oder die Rettungsmöglichkeit des in Not Geratenen bestimmend einwirkt.

III. Die Nötigung zur Selbstschädigung

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Es gibt über die Behandlung dieser Konstellation eine Vielzahl divergierender Auffassungen. Puppe[29] sagt mit Recht: „Zu der aufwändigen Diskussion … steht ihre Seltenheit in der Praxis in krassem Gegensatz.“ Ich will deshalb die widerstreitenden Ansichten in zwei große Gruppen zusammenfassen. Nach der hier befürworteten Anschauung gilt auch bei der Nötigung zur Selbstschädigung das Verantwortungsprinzip. Der Hintermann ist also nur dann mittelbarer Täter, wenn er den Ausführenden durch eine der in § 35 StGB geschilderten Gefahren zur Selbstschädigung nötigt. Die Gegenmeinung lässt auch eine unterhalb der Schwelle des § 35 StGB liegende Nötigung für eine mittelbare Täterschaft genügen, wobei im Einzelnen unterschiedliche Anforderungen gestellt werden.

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Die Auffassung, die das Verantwortungsprinzip auch hier zur Begründung der mittelbaren Täterschaft heranzieht, stützt sich auf eine analoge Anwendung des § 35 StGB. Denn direkt ist diese Vorschrift nicht anwendbar, weil sie sich nur auf Fremdschädigungen bezieht. Mittelbarer Täter ist danach z.B., wer einen anderen durch die Drohung mit körperlichen Misshandlungen oder einer Einkerkerung oder durch die Ausführung solcher Delikte vorsätzlich in den Selbstmord treibt. Dagegen ist nur wegen Nötigung strafbar, wer durch die Drohung mit einem Skandal oder der Aufdeckung einer strafbaren Handlung einen Suizid veranlasst; denn hier wird keine dem § 35 entsprechende Gefahrenlage geschaffen.[30]

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Demgegenüber will eine Vielzahl im Detail differierender Meinungen bei der Veranlassung zur Selbstschädigung eine mittelbare Täterschaft auch dann schon annehmen, wenn der vom Hintermann ausgeübte Druck erheblich unterhalb der Gefahrenschwelle des § 35 StGB liegt.

49

Am meisten verbreitet ist eine vor allem von Herzberg[31] im Anschluss an Geilen[32] entwickelte Lehre. Danach soll bei einer Veranlassung zum Suizid ein Totschlag in mittelbarer Täterschaft nur dann ausscheiden, wenn der Suizident unter den Voraussetzungen des § 216 StGB gehandelt hat. In den übrigen Selbstschädigungsfällen soll es darauf ankommen, ob unter der Voraussetzung einer Fremdschädigung eine Einwilligung strafbarkeitsausschließende Kraft gehabt hätte. Herzberg bildet das Beispiel,[33] dass eine Frau eine andere durch die Drohung mit der Offenbarung eines Seitensprungs veranlasst, sich selbst die Haare abzuschneiden und ihre Perücken zu verbrennen. Hier soll die Veranlasserin als mittelbare Täterin einer Körperverletzung und einer Sachbeschädigung bestraft werden.

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Diese Auffassung hat viele Anhänger gefunden.[34] Daneben haben sich zahlreiche ähnliche Auffassungen herausgebildet, deren wichtigste kurz skizziert werden sollen.

51

Einige Autoren verwenden als Maßstab für die Annahme einer mittelbaren Täterschaft die §§ 240, 253 StGB.[35] Danach führt also die Anwendung von Nötigungsmitteln zur Täterschaft des Hintermannes. Das entspricht im Ergebnis weitgehend der auf § 216 StGB und die Einwilligungsregeln gestützten Lösung. Denn eine Nötigung des Außenstehenden schließt ein Verlangen des Selbstschädigers aus und lässt auch eine Einwilligung als unwirksam erscheinen.

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Eine Verknüpfung des Nötigungsgedankens mit der Sozialadäquanz findet sich bei Murmann.[36] Danach ist „die Tatherrschaft des Hintermannes immer schon dann begründet, wenn das Oper ‚sozialinadäquaten Pressionen‚ im Sinne einer rechtswidrigen Nötigung (§ 240 StGB) ausgesetzt wird“. Als Beispiel dient ihm der Fall: „O fällt einen Baum in seinem Garten, nachdem ihm sein Nachbar A angedroht hat, andernfalls werde er O‘s Hund erschießen.“ Dagegen soll es keine mittelbare Täterschaft begründen, wenn jemand seiner Freundin androht, er werde sich von ihr trennen, „wenn sie nicht ihren Faltenrock auf den Müll wirft“.

53

Eine weitere, nicht selten vertretene Meinung nimmt eine mittelbare Täterschaft nicht erst bei einer Gefahrenlage nach § 35 StGB, sondern schon bei „rechtfertigungsähnlichen Situationen im Sinne von § 34“ an.[37] Dabei lassen die meisten Vertreter dieser Lehre „die Gleichwertigkeit der beteiligten Güter für eine Verlagerung der Verantwortung ausreichen“. „Wer mit einer Sachbeschädigung droht, falls sich das Opfer nicht umbringt, hat dessen Selbsttötung nicht ‚in der Hand‘; anders, wenn der Täter droht, einen von ihm ungeliebten Kühlschrank zu zerstören, wenn nicht das Opfer selbst es tut.“[38]

54

Puppe schließlich[39] stellt darauf ab, ob derjenige, der auf den Druck eines anderen hin sich selbst schädigt, eine vernünftige oder unvernünftige Entscheidung fällt. Sie verdeutlicht das an dem Urteil RGSt 26, 242, nach dessen Sachverhalt ein Fleischermeister seinem Lehrling befohlen hatte, ein nur unvollständig gereinigtes Stück Darm zu essen. Der Lehrling bekam davon körperliche Beschwerden. Habe der Meister ihm erklärt, er werde ihn bei einer Weigerung „als Feigling betrachten“, so war die Selbstverletzung nach Ansicht Puppes „unvernünftig und … der Lehrling allein dafür verantwortlich“. Habe der Meister ihm dagegen „mit Entlassung gedroht, ohne dass der Lehrling sich dagegen hätte wehren können“, so liege eine Körperverletzung in mittelbarer Täterschaft vor.

 

55

Am weitesten bei der Annahme mittelbarer Täterschaft geht Stein,[40] demzufolge ein Hintermann stets mittelbarer Täter ist, wo keine durch Verhaltenspflichten gebundene Person als Täter in Frage kommt. Da die Selbstschädigung keine Täterschaft im strafrechtlichen Sinne begründen kann, würde danach jeder Hintermann schon durch die bloße Veranlassung der Tat mittelbarer Täter.

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Von allen diesen Auffassungen ist diejenige Steins – also die letztgenannte – von vornherein abzulehnen. Der Grund ist von Hoyer[41] schlagend formuliert worden: „Mittelbare Täterschaft ist … keine Ausfallhaftung für entgangene Inanspruchnahme des unmittelbaren Täters.“ Es gibt keinen Grund, den Hintermann für eine Selbstschädigung verantwortlich zu machen, die der Rechtsgutsinhaber sich aus freiem Entschluss selbst zufügt.

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Alle anderen Lösungen laufen darauf hinaus, dass ein mehr oder weniger starker vom Hintermann ausgeübter Druck die mittelbare Täterschaft begründet. Auch die am meisten verbreitete, auf § 216 StGB und die Voraussetzungen wirksamer Einwilligung abstellende Lehre will bei einer „gewichtigen Drohung“ jedenfalls eine mittelbare Täterschaft annehmen.[42] Denn in einem solchen Fall kann man, wenn man dieser Auffassung folgt, weder von einem ernsthaften Verlangen des Suizidenten noch – bei anderen Selbstschädigungen – vom Vorliegen wirksamer Einwilligungsvoraussetzungen ausgehen. Auch das Abstellen auf § 240 StGB, auf eine Abwägung in Anlehnung an § 34 StGB oder auf Vernunft oder Unvernunft der Selbstschädigung macht die Entscheidung letztlich vom Gewicht des angedrohten Übels abhängig.

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Jedoch verbürgt allein eine Abgrenzung auf der Grundlage der in § 35 StGB geschilderten Gefahren die Rechtssicherheit, die für die Voraussetzungen der Strafbarkeit gemäß Art. 103 Abs. 2 GG erforderlich ist. Alle Versuche, unterhalb dieser im Gesetz angelegten Schwelle eine Grenzlinie für die Annahme mittelbarer Täterschaft zu finden, bleiben zu unbestimmt. Es haftet ihnen auch etwas Beliebiges an, wie die zahlreichen Varianten der vom Verantwortungsprinzip abweichenden Lösungen zeigen.

59

Der am häufigsten vertretene Rückgriff auf die Einwilligungsregeln krankt daran, dass das Gesetz für die Voraussetzungen wirksamer Einwilligung keinerlei Anhaltspunkte bietet. Auch die Rechtsprechung liefert keine sicheren Kriterien.[43] Wenn Herzberg in dem angeführten Beispiel eine Frau wegen Körperverletzung bestrafen will, die eine andere durch eine Drohung mit der Offenbarung eines Seitensprungs dazu veranlasst, sich die Haare abzuschneiden, so ist keineswegs eindeutig, dass eine Einwilligung in eine von fremder Hand erfolgende Zurechtstutzung der Haare unwirksam wäre.[44]

60

Ähnliches gilt für ein Abstellen auf den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB). Dieser Tatbestand gehört, indem er die Strafbarkeit von der „Verwerflichkeit“ der Täterhandlung abhängig macht, zu den unbestimmtesten des StGB. Aber auch die Ergebnisse, zu denen seine Anwendung führt, korrespondieren keinesfalls immer mit dem Ausmaß der psychischen Wirkung, die eine Drohung ausüben kann. Wenn Murmann jemanden wegen Sachbeschädigung in mittelbarer Täterschaft bestrafen will, der einen Nachbarn zur Fällung eines Baumes in seinem Garten durch die Drohung bestimmt hat, andernfalls seinen Hund zu erschießen, andererseits aber die Androhung eines Mannes, er werde sich von seiner Partnerin trennen, wenn diese „nicht ihren Faltenrock auf den Müll“ werfe, straflos lassen will, so liegt zwar im ersten Fall eine strafbare Nötigung vor, an der es im zweiten Fall fehlt. Es ist aber nicht zweifelhaft, dass der Verlust eines Partners den zur Selbstschädigung Veranlassten viel schwerer treffen kann als der Verlust eines Hundes. Die bessere Lösung liegt darin, den Hintermann in keinem der beiden Fälle wegen Sachbeschädigung, im ersten aber wegen Nötigung zu bestrafen.

61

In dem von Kühl zur Verdeutlichung der Abwägungslehre gebildeten Fall ist schwer zu verstehen, warum jemand sich veranlasst sehen soll, seinen Kühlschrank zu zerstören, weil im Weigerungsfall ein anderer die Zerstörung angedroht hat. Verständigerweise wird man in einem solchen Fall den Kühlschrank unangetastet lassen und gegen die Zerstörungsandrohung durch den Hintermann die Polizei anrufen. Ob eine unvernünftige Selbstschädigung wirklich dem Hintermann als Sachbeschädigung angelastet werden sollte, lässt sich mit der von Puppe vertretenen Ansicht bezweifeln.

62

Aber auch eine Abgrenzung nach dem Maßstab der Vernunft oder Unvernunft einer Selbstschädigung liefert keine klaren Ergebnisse. So ist es in Puppes der Entscheidung RGSt 26, 242 nachgebildetem Beispiel entgegen ihrer Annahme keineswegs von vornherein unvernünftig, wenn sich der Lehrling dem Ansinnen des Meisters beugte, um sich dessen Wohlwollen zu erhalten. Andererseits ist es auch nicht ohne weiteres vernünftig (und damit für den Hintermann tatherrschaftsbegründend), wenn der Lehrling aus Furcht vor Entlassung die gesundheitsschädliche Speise gegessen hat. Denn das Motiv, unbedingt bei einem Meister bleiben zu wollen, von dem man gesundheitliche Beeinträchtigungen befürchten muss, kann man mit gutem Grund auch als unvernünftig bezeichnen. Eine mittelbare Täterschaft des Meisters lässt sich besser mit der Jugendlichkeit des Opfers begründen.

63

Die kritische Durchleuchtung der die Gegenansicht illustrierenden Beispiele zeigt überdies, dass ein über die meist verwirkte Nötigungsstrafe hinausgehendes Bestrafungsbedürfnis durchweg nicht besteht.

64

Die einzige Ausnahme bilden Fälle der Suizidbeteiligung, bei denen Gewinnsucht (etwa der Wille zur raschen Erlangung einer Erbschaft) oder andere eigennützige Beweggründe Anlass geben, den Suizid eines anderen zu befördern. Der im geltenden Recht zu geringe Suizidentenschutz war auch der eigentliche Ursprung der von Herzberg, einem Wortführer der Gegenmeinung, entwickelten Abwendung vom Verantwortungsprinzip.[45] Aber diese Strafbarkeitslücke wäre angemessenerweise durch eine Sondervorschrift im Bereich der Tötungsdelikte zu schließen, wie sie etwa der Alternativ-Entwurf „Leben“ in einem zu schaffenden § 215a StGB vorgesehen hat:[46] „Wer die Selbsttötung eines anderen aus Gewinnsucht unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Man sollte freilich den „Eigennutz“ noch hinzunehmen.

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In einer über das Verantwortungsprinzip hinausgehenden Weise strafwürdig ist auch die in Bereicherungsabsicht erfolgende Nötigung zu vermögensschädigenden Dispositionen. Aber hier hat der Gesetzgeber in § 253 StGB schon eine Sondervorschrift geschaffen, die erheblich höhere Strafen ermöglicht, als sie in § 240 StGB vorgesehen sind.

66

Alle übrig bleibenden Fälle lassen sich auch dann ausreichend ahnden, wenn man darauf verzichtet, den Hintermann unterhalb der Schwelle des § 35 StGB für die Selbstschädigung zu bestrafen. Dies mag meine Auseinandersetzung mit den von der Gegenmeinung vorgeschlagenen Abgrenzungen und den dafür vorgebrachten Beispielen gezeigt haben.

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Dies mag aber auch noch ein Weiteres zeigen: dass nämlich jenseits der vom Gesetzgeber schon erfassten Erpressungsfälle praktisch relevante, eine Ausdehnung der mittelbaren Täterschaft herausfordernde Sachverhalte überhaupt nicht existieren. Die von den Vertretern der Gegenmeinung ersonnenen Beispiele sind samt und sonders lebensfremd und kommen in der Realität nicht vor. Das einzige, lange zurückliegende Beispiel aus der Judikatur (RGSt 26, 242) ist auf andere Weise zu lösen.

68

Es kommt hinzu, dass das Sachargument, auf das sich die Befürworter einer im Verhältnis zur Fremdschädigungsveranlassung weitergehenden Bestrafung des Hinwirkens auf eine Selbstschädigung stützen, keine Überzeugungskraft besitzt. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Fremdschädigung in Gestalt der Strafdrohung ein Hemmungsmotiv entgegensteht, das im Fall der Selbstschädigung fehlt. Dabei wird übersehen, dass der Selbstschädigung das mindestens ebenso starke Hemmungsmotiv entgegensteht, sich selbst und die eigene Rechtssphäre vor Beeinträchtigungen zu schützen. Joecks[47] sagt sogar: „Psychologisch gesehen ist es einfacher, jemand anderen zu erschießen als sich selbst.“