Handbuch des Strafrechts

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3. Verfahrensvorschriften

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Teil 5 enthält in §§ 23–53 VerSanG-E umfangreiche verfahrensrechtliche Sondervorschriften. Die gerichtliche Zuständigkeit wird erstinstanzlich dem Schöffengericht beim Amtsgericht und dem Landgericht zugewiesen (§§ 25 S. 2, 74 Abs. 1 S. 3 GVG-E), um den Strafrichter beim Amtsgericht von der zeitaufwändigen Beschäftigung mit komplexen wirtschaftlichen Sachverhalten zu entlasten.[538] Beim Landgericht wird eine spezielle Strafkammer zuständig sein (§ 74g GVG-E). Die Zuständigkeit für die Verfolgung richtet sich nach der Verbandstat (§ 23 VerSanG-E). Die Vorschriften der allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, namentlich StPO und GVG, gelten entsprechend (§ 24 Abs. 1 VerSanG-E). Unzulässig sind die Beschlagnahme von Postsendungen und Telegrammen sowie Auskunftsersuchen über Umstände, die dem Post- und Fernmeldegeheimnis unterliegen (§ 24 Abs. 2 VerSanG-E), da hierdurch eine Vielzahl von Mitarbeitern betroffen wäre.[539]

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Es wird grds. ein einheitliches Verfahren gegen die natürliche Person und gegen den Verband geführt[540] (§ 25 Nr. 1 VerSanG-E). Der Verband erhält die Stellung eines Beschuldigten (§ 27 VerSanG-E) und wird damit zur zentralen Figur des Verfahrens.[541] Für die Vertretung (§ 28 VerSanG-E) gilt, dass der Verband durch seine gesetzlichen Vertreter vertreten wird (Abs. 1), wobei Personen ausgeschlossen sind, die einer Verbandstat beschuldigt werden (Abs. 2), und entsprechend § 51 Abs. 2 ZPO das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters dem Verband zugerechnet wird (Abs. 3). Ein besonderer Vertreter (§ 29 VerSanG-E) wird bestellt, wenn der Verband keinen gesetzlichen Vertreter hat oder alle gesetzlichen Vertreter von der Vertretung ausgeschlossen sind (Abs. 1) oder ein in der Person des Vertreters bzw. der Vertreter liegendes Hindernis für längere Zeit besteht (Abs. 2). Rechtsnachfolger treten in die Lage des Verfahrens zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Rechtsnachfolge ein (§ 30 VerSanG-E). Die Ausschreibung eines gesetzlichen Vertreters zur Aufenthaltsermittlung (§ 32 VerSanG-E) ist möglich.

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Für die Vernehmung des gesetzlichen Vertreters (§ 33 VerSanG-E) gilt, dass es ihm im Sanktionsverfahren freisteht, sich zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und die Vorschriften der StPO über die Vernehmung des Beschuldigten entsprechend gelten, wobei allerdings die Vorführung nach § 134 StPO ausgeschlossen ist (Abs. 1). In anderen Verfahren kann der gesetzliche Vertreter, worüber er zu belehren ist, als Zeuge auch die Auskunft auf solche Fragen verweigern, deren Beantwortung dem Verband die Gefahr zuziehen würde, für eine Verbandstat verantwortlich gemacht zu werden (Abs. 2). Die Verwendung von personenbezogenen Daten aus Ermittlungsmaßnahmen (§ 34 VerSanG-E), die aufgrund von Maßnahmen zur Aufklärung der Verbandstat oder einer hiermit zusammenhängenden Ordnungswidrigkeit nach § 130 OWiG erlangt wurden, soll im Sanktionsverfahren zulässig sein (Abs. 1). Aufgrund von Maßnahmen zur Aufklärung anderer Straftaten oder nach anderen Gesetzen erlangte personenbezogene Daten dürfen im Sanktionsverfahren verwendet werden, wenn diese nach der StPO auch im Verfahren wegen der Verbandstat verwendet werden dürfen (Abs. 2).

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Verbandsspezifische Sonderregelungen sehen die §§ 35–42 VerSanG-E für das Absehen von der Verfolgung des Verbandes vor, da die grds. entsprechend geltenden §§ 153 ff. StPO teilweise an die Schuld des Täters anknüpfen und zusätzliche Einstellungsmöglichkeiten bestehen sollen; die speziellen Einstellungsmöglichkeiten sollen als flexibles und praktikables Instrument dazu dienen, auf geringfügige Verfehlungen sowie Bagatellkriminalität angemessen zu reagieren und Verfahren im Bereich der „kleineren und mittleren Kriminalität“ vereinfacht zu erledigen.[542] Wegen Geringfügigkeit kann von der Verfolgung abgesehen werden (§ 35 VerSanG-E), wenn die Bedeutung der Verbandstat bzw. Schwere und Ausmaß des Unterlassens angemessener Vorkehrungen als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht; in den besonders schweren Fällen des § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerSanG-E soll ein Absehen von der Verfolgung nicht in Betracht kommen (Abs. 1). Ist die Klage bereits erhoben, kann das Gericht in jeder Lage des Verfahrens mit Zustimmung der Verfolgungsbehörde und grds. auch des Verbandes das Verfahren einstellen (Abs. 2). Weiter kann von der Verfolgung abgesehen werden unter Auflagen und Weisungen (§ 36 VerSanG-E), bei schweren Folgen für den Verband (§ 37 VerSanG-E), bei erwarteter Sanktionierung im Ausland und aus sonstigen Gründen (§ 38 VerSanG-E) sowie bei Insolvenz (§ 39 VerSanG-E). Bei einer verbandsinternen Untersuchung kann bis zu deren Abschluss von der Verfolgung abgesehen werden, wobei zur Vorlage des Abschlussberichts eine Frist bestimmt werden darf (§ 42 VerSanG-E). Schließlich sind Regelungen für das Absehen von der Verfolgung bei kartellrechtlichen Verbandstaten (§ 42 VerSanG-E) enthalten.

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Für die Anwesenheit in der Hauptverhandlung ist vorgesehen (§ 43 VerSanG-E), dass ein Verband mit mehreren gesetzlichen Vertretern selbst dann als erschienen gilt, wenn nur ein gesetzlicher Vertreter anwesend ist (Abs. 1); die Vertretung durch einen Verteidiger ist gestattet (Abs. 2). Das persönliche Erscheinen des gesetzlichen Vertreters kann angeordnet werden (§ 44 VerSanG-E). Trotz Ausbleibens des gesetzlichen Vertreters kann die Hauptverhandlung durchgeführt werden, wenn der Verband ordnungsgemäß geladen und in der Ladung hierauf hingewiesen wurde (§ 45 VerSanG-E). Für den Verletzten (§ 51 VerSanG-E) gilt, dass die Verantwortlichkeit des Verbandes nicht im Wege der Privatklage verfolgt werden kann (Abs. 1) und der Verletzte sich am Verfahren gegen die Leitungsperson oder den Verband beteiligen kann (Abs. 2).

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Hinsichtlich der Rechtskraft (§ 48 VerSanG-E) ist vorgesehen, dass ein rechtskräftiges Urteil nach § 30 OWiG der Verfolgung der Tat nach dem VerSanG entgegensteht (Abs. 1 S. 1). Zudem soll ein rechtskräftiges Urteil nach § 30 OWiG wegen des Unterlassens von Vorkehrungen der Verfolgung der Tat als besonders schwerer Fall nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E entgegenstehen (Abs. 1 S. 2). Dasselbe gilt für den Beschluss nach § 72 OWiG und den Beschluss des Beschwerdegerichts über die Tat als Ordnungswidrigkeit (Abs. 1 S. 3). Durch Sanktionsbescheid kann das Gericht ohne Hauptverhandlung auf Antrag der Verfolgungsbehörde Verbandssanktionen sowie daneben Einziehung, Vernichtung oder Unbrauchbarmachung festsetzen (§ 50 VerSanG-E).

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Für die Vollstreckung (§ 53 VerSanG-E) sollen die Vorschriften über die Vollstreckung der Geldstrafe (Abs. 1 S. 1) bzw. der Verwarnung mit Strafvorbehalt (Abs. 2) entsprechend gelten. Kann die Verbandsgeldsanktion nicht eingebracht werden oder unterbleibt die Vollstreckung nach § 459c Abs. 2 StPO, stellt die Vollstreckungsbehörde einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Abs. 1 S. 2). Im Fall einer Gesamtrechtsnachfolge kann die Vollstreckung gegen den oder die Rechtsnachfolger eingeleitet oder fortgesetzt werden (Abs. 1 S. 3).

4. Verbandssanktionenregister

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Umfangreiche Vorschriften enthält Teil 6 für das einzurichtende Verbandssanktionenregister (§§ 54–66 VerSanG-E), das sich am Bundeszentral- und am Gewerbezentralregister orientieren und ein primär für die Justiz konzipiertes Informationssystem sein soll.[543] Die Einzelheiten zum Aufbau, zur Erfassung und Aufbereitung der Daten sowie zur Auskunftserteilung sollen durch allgemeine Verwaltungsvorschriften geregelt werden (§ 66 VerSanG-E). Das Bundesamt für Justiz (BfJ) wird das Register führen (§ 54 Abs. 1 VerSanG-E). Einzutragen sind nicht nur rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen über die Verhängung von Verbandssanktionen, sondern auch rechtskräftige Entscheidungen über die Festsetzung einer Geldbuße nach § 30 OWiG, sofern diese mehr als 300 Euro beträgt (§ 54 Abs. 2 VerSanG-E). Eine nachträglich gebildete Gesamtsanktion ist ebenfalls einzutragen (Abs. 3). Gegenstand der Eintragung (§ 55 VerSanG-E) sind die Daten des verurteilten Verbandes (i.E. Abs. 1 Nr. 1–6), u.a. nicht nur Firma, Name oder Bezeichnung sowie Rechtsform des Verbandes, sondern auch Familiennamen, Vornamen und Geburtsdaten der Mitglieder des Vertretungsorgans oder der gesetzlichen Vertreter zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung sowie bei Verbandssanktionen die rechtliche Bezeichnung der Tat unter Angabe der angewendeten Vorschriften und des Tattages. Eine vorbehaltene Verbandsgeldsanktion (Abs. 2) und die rechtskräftige Wiederaufnahme (Abs. 3) sind ebenfalls einzutragen. Für die Tilgung (§ 57 VerSanG-E) gilt, dass sie ein Jahr nach Eintritt der Tilgungsreife erfolgt (Abs. 1); die Tilgungsfrist beträgt bei Eintragungen von Verbandssanktionen zehn Jahre und in besonders schweren Fällen 15 Jahre, bei Eintragungen von Geldbußen nach § 30 OWiG dagegen nur fünf Jahre (Abs. 2).

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Einem Verband wird auf Antrag Auskunft gegeben, welche Informationen über ihn im Verbandssanktionenregister enthalten sind (§§ 58, 59 VerSanG-E). Unbeschränkte Auskunft erhalten auf ausdrückliches Ersuchen Gerichte und Staatsanwaltschaften, oberste Bundes- und Landesbehörden, Verfassungsschutzbehörden, BND und MAD, Finanzbehörden, den Kriminaldienst verrichtende Dienststellen der Polizei, die für die Ahndung nach § 30 OWiG zuständigen Behörden und die zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten nach § 81 GWB zuständigen Behörden, Gnadenbehörden und die Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen (§ 60 VerSanG-E). Die Auskunft an ausländische sowie über- und zwischenstaatliche Stellen (§ 63 VerSanG-E) erfolgt nach den hierfür geltenden völkerrechtlichen Verträgen (Abs. 1). Ersuchen eines anderen EU-Staates werden für die gleichen Zwecke und in gleichem Umfang wie gegenüber vergleichbaren deutschen Stellen ausgeführt (Abs. 2). Ersuchen eines anderen EU-Staates um Erteilung einer Auskunft aus dem Register für nichtstrafrechtliche Zwecke werden ausgeführt, soweit die Erteilung nach Maßgabe eines EU-Rechtsaktes geboten ist (Abs. 3). Die Auskunftserteilung (§ 64 VerSanG-E) erfolgt schriftlich oder elektronisch (Abs. 1), wobei die Einrichtung eines automatisierten Verfahrens unter engen Voraussetzungen zulässig ist (Abs. 3). Die erteilten Auskünfte werden protokolliert (§ 65 VerSanG-E).

 

II. Bewertung

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Der Regierungsentwurf des VerSanG stößt, wie bereits der Kölner Entwurf[544] und der erste Referentenentwurf vom August 2019,[545] von dem er sich – abgesehen insb. von der Beschränkung auf wirtschaftlicher Verbände und den Wegfall der Verbandsauflösung – nicht wesentlich unterscheidet, auf grundlegende Bedenken. So wurde bereits gegen den (ersten) Entwurf angeführt, er zeige ein „starkes Misstrauen der Verfasser gegenüber wirtschaftlicher unternehmerischer Tätigkeit“,[546] sei „erkennbar eilig und gedankenlos formuliert“,[547] die enthaltenen Reglungen gäben „Anlass zur Sorge“ und seien „teilweise wohl sogar verfassungswidrig“.[548] Fraglich ist vor allem, ob durch das Verbandssanktionenrecht die Defizite des geltenden Rechts hinsichtlich Struktur, Anwendung und Vollzug beseitigt oder zumindest abgemildert werden können, ohne zugleich erhebliche neue Defizite aufzutun, mithin ein Fortschritt erzielt werden kann. Die bestehenden Defizite sind vor allem darin zu erblicken, dass die Verbandsgeldbuße strukturell und in der Ausgestaltung als zu schwache Sanktion angesehen wird, Anwendung und Vollzug als ungleichmäßig gelten und spezifische Verfahrensregelungen fehlen, insb. Regelungen zu internen Untersuchungen und zur Compliance (Rn. 125).

1. Konzept

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Eine grundlegende Weichenstellung stellt es dar, dass der VerSanG-E – wie bereits der Kölner Entwurf – den Begriff „Verbandssanktionverwendet und von „Ahndung“ spricht, also einen Terminus nutzt, der bislang dem Ordnungswidrigkeitenrecht vorbehalten ist. Es soll bewusst nicht um die Einführung eines Unternehmensstrafrechts gehen (vgl. Rn. 137), sondern eine dritte Kategorie oder Spur begründet werden.[549] Damit sollen offenbar die dogmatischen Vorbehalte gegenüber der Strafbarkeit juristischer Personen vermieden, mithin die Akzeptanz wie beim Kölner Entwurf aus „rechtspolitischen Gründen“[550] gefördert und der Differenzierung zwischen Verbandsbuße und Verbandsstrafe lediglich „ästhetische Bedeutung“[551] beigemessen werden. Indes handelt es sich hierbei um einen „Etikettenschwindel“, da nicht ersichtlich ist, was das „Verbandssanktionenrecht“ von einem Verbandsstrafrecht wesentlich unterscheiden soll.[552] Erstens sind nicht etwa verschuldensunabhängige Sanktionen vorgesehen, sondern in Fortschreibung von § 30 OWiG verschuldensabhängige Sanktionen mit repressivem und präventivem Charakter. Der Vorwurf gegenüber dem Verband fußt auch hier auf der schuldhaften Begehung einer Straftat durch eine Leitungsperson bzw. durch eine Nicht-Leitungsperson und dem Unterlassen angemessener Vorkehrungen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VerSanG-E). Dem Verschulden natürlicher Personen wird damit eine kollektive Bedeutung in Form eines „Verbandsverschuldens“ zugeschrieben. Zweitens soll nicht nur spezialpräventiv die Compliance gefördert werden, sondern auch eine „Verbandsschuld“ ausgeglichen werden. Selbst im Fall der uneingeschränkten Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden wird die Verbandsgeldsanktion lediglich reduziert (§ 18 VerSanG-E). Ein Absehen von der Verfolgung kommt nur dann in Betracht, wenn die Bedeutung der Verbandstat bzw. in den Fällen der Begehung durch Nicht-Leitungspersonen auch die Schwere und das Ausmaß des Unterlassens angemessener Vorkehrungen nicht entgegenstehen (§ 36 Abs. 1 VerSanG-E). Drittens sind die Auswirkungen der Verbandssanktionen mit empfindlichen Geldstrafen vergleichbar, da die umsatzbezogenen Geldsanktionen, deren Zumessung sich an § 46 StGB orientiert, sehr hoch ausfallen können. Viertens sollen die Sanktionen in einem „Sanktionsverfahren“, für welches das Legalitätsprinzip gilt, durch Staatsanwaltschaften angeklagt, durch Strafgerichte festgesetzt und in ein Verbandssanktionenregister eingetragen werden. Kurzum: Die Verbandssanktionen orientieren sich am Strafrecht und es ist unklar, worin außer der abweichenden Bezeichnung der genaue Unterschied bestehen soll. Daher ist auch nicht ersichtlich, wie der „Übergang zu einem Unternehmensstrafrecht“[553] aussehen soll, den die Begründung des Referentenentwurfes in Aussicht stellt, wenn die Evaluierung des Gesetzes nach Ablauf von fünf Jahren zeigt, dass die Regelungen nicht ausreichen. Ehrlicher wäre es daher, der Öffentlichkeit „reinen Wein einzuschenken“ und von einem „Verbandsstrafrecht“ und „Verbandsstrafen“ zu sprechen.

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Nach der Begründung soll es im Unterschied zu § 130 OWiG in den Fällen der Begehung der Verbandstat durch eine Nicht-Leitungsperson (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E) nicht erforderlich sein, dass eine Leitungsperson eine Aufsichtsmaßnahme „vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen“ hat, da die Verbandsverantwortlichkeit an die „volldeliktisch begangene Verbandstat“ anknüpft; das Unterlassen von Vorkehrungen soll (nur) „objektiv“ festzustellen sein.[554] Damit würde jedoch unter Verstoß gegen den Schuldgrundsatz eine rein objektive „Gefährdungshaftung“ begründet,[555] da dann praktisch jede Verbandstat einer Nicht-Leitungsperson im Sinne der vicarious liability des US-amerikanischen Rechts (Rn. 121) eine Verbandsverantwortlichkeit auslösen könnte. Das Verschulden einer Leitungsperson, das bislang dem Verband über § 30 OWiG zugerechnet wird, würde seine Begrenzungsfunktion einbüßen, da die Begehung einer Verbandstat regelmäßig ein starkes Indiz dafür sein dürfte, dass Leitungspersonen des Verbandes „objektiv“ betrachtet angemessene Vorkehrungen unterlassen haben. Der Nachweis des Verschuldens einer Leitungsperson und damit eines Repräsentanten des Verbandes, der ihn mitorganisiert, wäre entbehrlich, womit eine an zivilrechtliche Haftungsstrukturen angelehnte ausufernde Verantwortlichkeit droht. Eine derartige Verbandsverantwortlichkeit, die auf eine Zufallshaftung hinausläuft (Rn. 121), geht zu weit. Auch der Kölner Entwurf wollte die Strafbarkeit des Verbandes „nicht zu weit“ fassen, sondern dessen Verantwortlichkeit gemäß dem Repräsentationsmodell auf das Tun und Unterlassen seiner Leitungspersonen beschränken.[556] Um ein Ausufern der Verbandsverantwortlichkeit zu vermeiden, muss Anknüpfungspunkt weiterhin – wie bei §§ 30, 130 OWiG – das Verschulden einer Leitungsperson sein, d.h. das vorsätzliche oder fahrlässige Unterlassen angemessener Vorkehrungen. Es stellt bereits eine ausreichende Extension dar, dass die Risikoerhöhungslehre im Verbandssanktionenrecht verankert wird, da die Verbandsverantwortlichkeit nicht erst dann besteht, wenn angemessene Vorkehrungen die Begehung der Verbandstat hätten „verhindern“ können, sondern bereits, wenn sie die Begehung der Verbandstat hätten „wesentlich erschweren“ können.

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Kritisiert wird weiter, dass die schwerwiegenden „großen“ Ordnungswidrigkeiten – etwa des Kapitalmarktrechts – nicht einbezogen werden,[557] obwohl dort gegen juristische Personen und Personenvereinigungen ebenfalls sehr hohe, teilweise noch höhere Verbandsgeldbußen bis hin zu 15 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes (§ 120 Abs. 18 S. 2 Nr. 1 WpHG) festgesetzt werden können. Die Verfolgung und Ahndung wird sich in diesem Bereich weiterhin nach den Vorschriften des OWiG richten, obwohl diese „keine zeitgemäße Grundlage mehr“ für die Verfolgung und Ahndung der Unternehmenskriminalität darstellen (Rn. 136). Außerdem hätte sich die Modernisierung des Ordnungswidrigkeitenrechts angeboten, um dort für die Verbandsgeldbuße des § 30 OWiG ebenfalls zeitgemäße Verfahrensregeln zu schaffen[558] und Lücken, insb. bei der Rechtsnachfolge, zu schließen,[559] die im Verbandssanktionsrecht durch die Regelung der sog. Ausfallhaftung nicht bestehen werden.

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Die Extension auf Auslandstaten wird im Ausland begangene Taten im Inland begangenen Verbandstaten gleichstellen, sofern der Verband zur Tatzeit „einen“ Sitz im Inland hat (§ 2 Abs. 2 VerSanG-E). Für Verbände, die den Satzungs- oder einen Verwaltungssitz in Deutschland haben, läuft dies auf eine Verantwortlichkeit für sämtliche im Ausland begangenen Straftaten hinaus, soweit diese verbandsbezogene Pflichten verletzen oder zu einer Vermögensmehrung des Verbands führen bzw. führen sollen. Dies dürfte zu zahlreichen praktischen Problemen führen, da die Sachverhalte regelmäßig im Ausland ermittelt werden müssen und entsprechende Rechtshilfeersuchen zu stellen sind.[560] Zudem geht in Konzernstrukturen die Verbandsverantwortlichkeit für sämtliche ausländischen Tochtergesellschaften zu weit.[561] Die Verbandsverantwortlichkeit setzt voraus, dass der Täter der Verbandstat dem Direktions- und Weisungsrecht einer Leitungsperson des Verbandes unterliegt, da sonst eine uferlose Verantwortlichkeit droht.[562]

2. Beseitigung von strukturellen Defiziten, insb. Verschärfung der Sanktionen

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Die Begrenzung des Regelungsbereichs des VerSanG auf wirtschaftliche Vereine ist im Ansatz zu begrüßen. Die Begründung, dass die gewinnorientierte Betätigung mit erhöhten Risiken der Begehung von Straftaten durch Leitungspersonen und Mitarbeiter einhergeht und somit ein stärkerer Bedarf für den Einsatz von Verbandssanktionen besteht als bei Verbänden, die nicht am Markt tätig sind,[563] greift jedoch zu kurz. Denn Idealvereine dürfen ebenfalls wirtschaftlich tätig werden, sofern es sich „lediglich um eine untergeordnete, den idealen Hauptzwecken des Vereins dienende wirtschaftliche Betätigung im Rahmen des sogenannten Nebenzweckprivilegs handelt.“[564] Es genügt, dass die wirtschaftliche Nebentätigkeit funktionell unter die ideelle Haupttätigkeit untergeordnet ist und der wirtschaftliche Nebenzweck ein Hilfsmittel zur Erreichung des nicht wirtschaftlichen Zwecks ist.[565] Infolgedessen gibt es Idealvereine, deren wirtschaftliche Betätigung – absolut betrachtet – einen erheblichen Umfang hat. Durch die Ausgliederung eines nach Art und Umfang über einen Nebenzweck hinausgehenden Geschäftsbetriebs in einen eigenständigen Zweckbetrieb kann der Status als Idealverein gewahrt werden, wie die Rechtsprechung in Bezug auf den ADAC und seine Rechtsschutzversicherung klargestellt hat, selbst wenn die Tochtergesellschaft beherrscht wird.[566] Darüber hinaus dürfen aber auch die als Idealvereine verfassten Bundesligavereine mit ihren (erlösstarken) „Lizenzspielerabteilungen“, selbst wenn diese nicht ausgelagert sind, das Nebenzweckprivileg in Anspruch nehmen. Der erste Referentenentwurf des VerSanG hatte zu Recht angeführt, dass nicht rechtsfähige Vereine „selbst bei ideeller Tätigkeit häufig bedeutende wirtschaftliche Tätigkeiten entfalten“,[567] und wollte demzufolge alle Vereine einbeziehen. Die Begrenzung, die der finale Referentenentwurf vorgenommen hat, führt dazu, dass Idealvereine weiterhin nur nach § 30 OWiG sanktioniert werden können. Sachgerechter erscheint es, auch solche Idealvereine einzubeziehen, bei denen die wirtschaftliche Betätigung einen bedeutenden Umfang hat. Hierfür könnte ein Schwellenwert gesetzt werden.

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Im Übrigen sollen alle kleinen Unternehmen dem VerSanG unterworfen werden. Vorschläge, diese aus dem Regelungsbereich herauszunehmen,[568] sollten ernst genommen werden, da bei kleinen (wie auch vielen mittelständischen) Unternehmen die Kosten für Compliance – je nach Art des Geschäftsbetriebes – vergleichsweise hoch ausfallen, wodurch signifikante Wettbewerbsverzerrungen entstehen werden. Bei kleinen Unternehmen, die von persönlicher Bekanntheit und gegenseitigem Vertrauen sowie langjähriger enger Verbundenheit geprägt sind, dürfte die Integration komplexer und personalintensiver Compliance-Strukturen (Einrichtung eines Hinweisgebersystems, Aufstellung von Verhaltensrichtlinien, Mitarbeiterschulungen, fortlaufende Risikoanalyse, Durchführung von Kontrollen usw.) und die Durchführung kostspieliger interner Untersuchungen durch Externe regelmäßig nicht sachgerecht sein.[569] Damit werden sie die vorgesehenen Sanktionsmilderungen kaum in Anspruch nehmen können.[570] Im Übrigen ist nicht ersichtlich, warum auch bei kleinen Unternehmen ein zwingendes Bedürfnis für die Verschärfung des geltenden Rechts besteht, da das VerSanG vor allem deshalb eingeführt werden soll, um Großunternehmen und multinationale Konzerne angemessen zu sanktionieren (Rn. 136).

 

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Mit den vorgesehenen Verbandsgeldsanktionen können auch gegenüber Großunternehmen empfindliche Verbandssanktionen ausgesprochen werden. Allerdings lässt sich sowohl der Einsatz von umsatzbezogenen Sanktionen bereits bei einem Umsatz von 100 Mio. Euro, womit viele mittelständische Unternehmen betroffen sind, als auch das Höchstmaß von 10 % des durchschnittlichen Jahresumsatz, das für viele Unternehmen eine Existenzbedrohung darstellen kann, kritisieren.[571] Damit werden die in Teilbereichen bereits vorhandenen (Rn. 44) umsatzbezogenen Sanktionen verallgemeinert.[572] Der Jahresumsatz gibt jedoch über die operative Gewinnmarge (EBIT-Marge) und damit die Ertragskraft keine Auskunft, womit die Gefahr besteht, dass die Verbandssanktionen die Unternehmen ungleich belasten. Denn während in klassischen Industriebereichen (Automobilindustrie, Konsumgüter) der Umsatz über die Masse erzielt wird und oft niedrige Gewinnmargen im unteren einstelligen Bereich erzielt werden, können die Gewinnmargen etwa in der IT-Industrie hoch sein und weit über 20 % betragen. Damit drohen Branchen mit geringen Gewinnmargen unverhältnismäßig stark belastet zu werden. Der VerSanG-E will dem entgegensteuern, indem – wie im Ordnungswidrigkeitenrecht – bei der Bemessung der Verbandsgeldsanktion die „wirtschaftlichen Verhältnisse“ berücksichtigt werden (§ 15 Abs. 2 S. 1 VerSanG-E). Entscheidende Bedeutung hat damit grds. die Ertragslage des Verbandes.[573] Eine Alternative wäre daher das auch in Österreich (§ 4 VbVG) geltende Tagessatzsystem,[574] das sich von vornherein an der Ertragslage des Verbandes orientiert. Zudem wird durch die vorgesehenen Regelungen das Ziel, „konkrete und nachvollziehbare Zumessungsregeln“ zu schaffen, nicht ohne Weiteres erreicht werden, da „Sentencing Guidelines“ wie im US-Recht bzw. „Bußgeldleitlinien“ wie im WpHG[575] fehlen.[576] Mangels Zumessungsrichtlinien müssen die Gerichte daher im Einzelfall in Anbetracht des großen Sanktionsrahmens die Höhe der Verbandsgeldsanktion mit Augenmaß festlegen und erst eine gleichmäßige und nachvollziehbare Verfolgungspraxis entwickeln. Angesichts dessen, dass auch im Individualstrafrecht regionale Unterschiede festzustellen sind, ist weiterhin eine uneinheitliche Handhabung zu erwarten, die das VerSanG eigentlich beseitigen soll.

168

Kritisch ist es zu sehen, dass bei der Ermittlung des Sanktionsrahmens für den durchschnittlichen Jahresumsatz auf die wirtschaftliche Einheit abgestellt und der „weltweite Umsatz aller natürlichen Personen und Verbände der letzten drei Geschäftsjahre“ einbezogen werden soll (§ 9 Abs. 2 VerSanG-E).[577] Durch diese globale Betrachtung kann das Höchstmaß der Verbandssanktion sehr hoch ausfallen, selbst wenn nur in einer kleinen Einheit eine Leitungsperson oder – sofern angemessene Vorkehrungen unterlassen wurde – eine Nicht-Leitungsperson eine Verbandstat begangen hat. Damit „haftet“ der Konzern für alle Konzerngesellschaften, obwohl es sich rechtlich betrachtet um eigenständige Einheiten handelt und die Einflussmöglichkeiten rechtlich wie faktisch begrenzt sein können. Im Übrigen erscheint es fragwürdig, dass der Konzern zwar nicht der Verbandsverantwortlichkeit unterfallen soll, seine Umsätze aber für den Sanktionsrahmen maßgebend sein werden.[578]

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Weiter ist darauf hinzuweisen, dass neben der Verbandssanktion die Einziehung von Taterträgen nach den §§ 73 ff. StGB vorgesehen ist, da die Verbandssanktionierung – anders als die Verbandsgeldbuße – nicht zugleich der Entziehung des aus der Verbandstat erlangten wirtschaftlichen Vorteils dient. Da die Einziehung von Taterträgen dem (abgemilderten) Bruttoprinzip folgt, während die Vorteilsabschöpfung dem Nettoprinzip verhaftet war (und bei § 30 OWiG weiterhin ist), stellt dies eine weitere Verschärfung dar, womit in Kombination mit hohen Verbandsgeldsanktionen „drakonische“ Sanktionen drohen.[579]

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Bei der Verwarnung mit einem Verbandsgeldsanktionenvorbehalt ist als Weisung insb. der Nachweis bestimmter Vorkehrungen vorgesehen, also vor allem der Einsatz eines Compliance-Management-Systems durch eine sachkundige Stelle (z.B. eine Anwaltskanzlei). Dieses Instrument ist an den „Monitor“ des US-amerikanischen Rechts angelehnt, der als eine Art „Bewährungshelfer“ fungiert.[580] Gegen die Installation von Monitoren wird verbreitet eingewandt, dass diese kostenintensiv seien, was auf eine zusätzliche Sanktion hinauslaufe, und erheblichen Einfluss auf die Geschäfte nehmen könnten; nachhaltiger wären Investitionen in verbesserte Compliance-Management-Systeme.[581] Bei einigen deutschen Unternehmen, die mit US-Monitoren bereits Bekanntschaft gemacht haben (z.B. die Commerzbank AG[582]), stieß die Bestellung auf Vorbehalte.

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Schließlich dürfte die öffentliche Bekanntmachung (§ 14 VerSanG-E) in der Praxis faktisch auf ein „naming und shaming“ hinauslaufen,[583] das im anglo-amerikanischen Rechtskreis weit verbreitet ist und aus staatlicher Sicht als einfaches und sehr wirksames Instrument der Abschreckung gilt.[584] Durch diesen „Prangereffekt“ werden die betroffenen Unternehmen stark unter Druck gesetzt, die mit der Veröffentlichung drohenden Reputationsschäden, die vielfach schwerer als Verbandssanktionen wiegen, unter allen Umständen zu vermeiden.