Handbuch Bibeldidaktik

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|23|1. Im Fokus: Geschichte
(Entstehungs- und Wirkungsgeschichte)
|25|Bibel: Entstehung, Überlieferung, Kanonisierung

Georg Plasger

Die Bibel gilt heute bei vielen Schülerinnen und Schülern als veraltetes Buch ohne Bezug zur Gegenwart. Und es stimmt ja auch, dass die Bibel der altorientalischen Welt entstammt und von moderner Technik ebenso wenig weiß wie von globalen Vernetzungen. Die Bibel ist also als historisches Dokument zu betrachten und deshalb ist zu fragen, wie, wann und wo sie entstanden ist. Die Bibel ist dann ihrem Wortsinn nach als „Bibliothek“ verschiedener Bücher zu sehen, die spezifisch zu verorten sind. Gleichzeitig wird die Bibel als „Wort Gottes“ benannt, was sie über alle anderen Texte heraushebt – für manche gilt sie sogar als irrtumslos. Wer so von der Bibel ausgeht, hat eine Geschichte vor Augen, von der die biblischen Texte bezeugen, dass sie die Geschichte Gottes sei. Es wird dann die Kanonisierung und d.h. die Zusammenstellung der vorhandenen biblischen Schriften und der Ausschluss anderer Texte vorausgesetzt. Ist die Bibel Menschenwort – oder ist sie mehr? Die christliche Kirche hat sie von Anfang an nicht nur als literarisches Produkt verstanden: Die Bibel zeugt von Gott – und zwar authentisch. Die Reformation verstand ihren Grundsatz „sola scriptura“ (allein die Heilige Schrift) als Ruf zur Autorität der Bibel. Aber ist sie dann noch Menschenwort? In manchen Kreisen wird die Lehre von der Verbalinspiration vertreten, nach der Gott im Heiligen Geist den Autoren den Inhalt gleichsam diktiert hätte; diese Vorstellung hatten die Reformatoren nicht, auch wenn sie natürlich nicht den historisch-kritischen Methodenkanon kannten, der in der modernen Exegese üblich ist (→ Art. Historisch-kritische Bibelauslegung).

Einerseits sind die biblischen Schriften von Menschen verfasst und sind deshalb wie alle anderen Schriften mit prinzipiell allen möglichen Methoden befragbar: Wie und wann ist der Text entstanden und von wem kommt er? Ist eine ursprüngliche Intention erkennbar? Hat es mögliche Zusätze gegeben, sind Redaktionsprozesse denkbar? Trotz einer wissenschaftsgemäß nicht eindeutigen Antwort zeigen sich innerhalb der Forschung Tendenzen und immer wieder auch breite Übereinstimmungen.

Andererseits reicht allein die Frage nach dem historischen Werden der Bibel theologisch nicht aus, denn es ist der Akzent auch auf die „Botschaft“ der Bibel insgesamt zu richten – sie ist die „Heilige Schrift“ des Christentums.[1] Wer die Bibel als Ganzes in den Blick nimmt, setzt den Kanonisierungsprozess voraus und fragt nach der Gegenwartsrelevanz: Und hier sind Kirche und Theologie |26|prinzipiell zuversichtlich, dass die Bibel sich als zuverlässiges und wirkmächtiges Zeugnis von Geschichte und Person Gottes erweist – immer wieder neu.

Entstehung des Alten Testaments

Im Judentum wurden zwischen ca. 250 und 50 v. Chr.[2] die im heutigen AT vorhandenen Schriften zusammengestellt. Die Hebräische Bibel hat aber eine andere Reihenfolge als das christliche AT. In drei „Abteilungen“ stehen dort die Tora (5 Bücher Mose), gefolgt von den Nebi’im (Propheten) und den Ketubim (andere Schriften); zusammengefasst mit dem Kunstwort „TeNaK“ (sprich: tenach; T = Tora, N = Nebi’im und K = Ketubim). Zwar gab es noch bis ins 3. Jh. n. Chr. im Judentum Diskussionen über einzelne Schriften (z.B. beim Buch Ester und bei Kohelet), aber im Prinzip gab es schon früh Klarheit über den Kernbestand der jetzt 22 Schriften umfassenden Sammlung. Die einzelnen Schriften sind nach gegenwärtiger Auffassung in ihrer Endfassung zwischen dem 6. und 2. Jh. v. Chr. entstanden, wobei viele ältere schriftliche und mündliche Überlieferungen eingearbeitet wurden (die bislang bekanntesten ältesten erhaltenen schriftlichen Fragmente sind zwei erst 1979 entdeckte Silberrollen aus dem 7. Jh. v. Chr. mit dem aaronitischen Segen aus Num 6). Immer wieder gibt es in der exegetischen Wissenschaft Diskussionen über die genaue Entstehungszeit einzelner Schriften und verschiedene Hypothesen über die Art und Weise der Redaktion.[3] Die Texte sind auf Hebräisch verfasst; einzelne Abschnitte aus dem Danielbuch sind aramäisch. Schon ab dem 3. Jh. v. Chr. entstand die Septuaginta („Übersetzung nach den Siebzig“), die griechische Übersetzung der Hebräischen Bibel. Die Septuaginta, die die Reihenfolge der Schriften zum Teil veränderte, war für viele Christen im 1. Jh. ihre Fassung der Heiligen Schriften.

Das christliche AT fußt auf der jüdischen Sammlung und hat den Textbestand übernommen. Da dieser aber sowohl in der Hebräischen Bibel als auch in der Septuaginta verschieden vorliegt, hat sich in der christlichen Kirche keine ganz einhellige Entwicklung ergeben. Einerseits ist die Vulgata (entstanden ab dem Ende des 4. Jh.s) vor allem als lateinische Übersetzung der Septuaginta zu sehen (wobei noch einmal die Reihenfolge der Bücher verändert wurde); andererseits ist schon früh deutlich, dass der eigentliche Referenztext die hebräische Fassung ist. Aufgrund der kirchenrechtlich hohen Bedeutung der Vulgata umfassen heute die Bibelfassungen der römisch-katholischen Kirche auch die Apokryphen, |27|wohingegen die Bibelfassungen der reformatorischen Kirchen sich am Textbestand der Hebräischen Bibel orientieren.

Entstehung des Neuen Testaments

Die 27 Schriften des NTs wurden vermutlich zwischen 50 und 120 n. Chr. auf Griechisch verfasst; als ältester Text gilt der 1 Thess, als jüngster der 2 Petr. Vor allem in den synoptischen Evangelien ist deutlich, dass sie einzelne (mündlich und schriftlich überlieferte) Erzählungen, Wunder und Worte integriert haben. Die genaue Entstehungsgeschichte der teilweise bis in den Wortlaut übereinstimmenden Evangelien ist immer wieder umstritten; als breiter Konsens gilt zur Zeit, dass Mt und Lk einerseits Mk und andererseits eine sogenannte Logienquelle (meist als Q abgekürzt)[4] vorlagen. Alle Evangelien haben aber in der jeweiligen Komposition ihre besondere theologische Perspektive auf Jesus herausgearbeitet.

Grundstock der Schriftensammlung des späteren NTs waren aber nicht die Evangelien, sondern Paulusbriefe. Zwar ist heute umstritten, ob alle unter dem Namen des Paulus verfassten Schriften tatsächlich von ihm und nicht eher von Paulus-Schülern verfasst wurden[5] (als nicht von Paulus stammend gelten heute 1 und 2 Tim, Tit und 2 Thess; unsicherer sind Eph und Kol), aber bereits um 200 liegt eine Sammlung von Paulusbriefen vor, die den heutigen Umfang hat.[6] Spätestens ab der Mitte des zweiten Jh.s werden in den Sonntagsgottesdiensten aber auch die Evangelien verlesen und gegen Ende des zweiten Jh.s stehen zumindest in Teilen der Christenheit die ersten zwei Drittel des späteren NTs faktisch in Geltung. Die endgültige Herausbildung des Kanons wurde neben der faktischen Durchsetzung in den christlichen Gemeinden auch durch Gruppierungen forciert, die z.T. eigene Sammlungen aufstellten (Marcion, Montanismus) – sie forderten die Kirche heraus, durch eine Festlegung der autoritativen Schriften ihren „Kanon“ (Messregel) zu fixieren. Gegen Ende des 3. Jh.s stand dann der heute vorhandene Umfang des NTs faktisch fest.[7]

|28|Die Kanonisierung in theologischer Sicht

„Mit Hilfe des Kanons als ‚Richtschnur‘ – in der ursprünglichen, griechischen Bedeutung des Wortes – lässt sich ermessen, wer sich ‚in der Wahrheit befindet‘ (Foucault) und wer nicht“.[8] Es ist also durchaus möglich, den Akt der Kanonisierung beispielsweise machtpolitisch zu verstehen – und die uns vorliegende Bibel wäre dann eben das Produkt möglicherweise sogar zufällig vorhandener Machtkonstellationen in der Alten Kirche. Solch ein Urteil greift aus mehrfacher Hinsicht zu kurz. Einmal ist es historisch zu simpel, weil es nicht zwischen einer „Kanonisierung via facti und einer Kanonisierung im Sinne eines Rechtsaktes“[9] unterscheidet – und von einem Großteil der biblischen Schriften ist zu sagen, dass sie sich faktisch in den Gemeinden als heilige Schriften durchgesetzt haben und sie nicht gleichsam „von oben“ dekretiert wurden. Gab es denn Kriterien für die Anerkennung? Hier wird man zurückhaltend sein müssen. Es gab das Kriterium der Apostolizität, aber es ist zu fragen, ob dies immer nur personal verstanden wurde, ohne dass man eine feste „regula fidei“ hatte. Auch war die Übereinstimmung mit den Schriften des ATs entscheidend. Und schließlich war die Durchsetzung in den Gemeinden als solche (via facti) wesentlich. Damit ist aber schon deutlich: Es gibt die Bibel als Kanon, weil es die Kirche gab, die ihn „beschlossen“ hat. Als Grund für die Kanonbildung kann sicher auch der identitätsstiftende Charakter, den v.a. J. Assmann herausgestellt hat, gesehen werden.[10] Deutlich aber ist schon damit, dass die Kanonbildung auch theologisch zu verstehen ist. Denn das Vorhandensein der Bibel Neuen und Alten Testaments ist als Bekenntnis der Kirche zu verstehen: Die „Feststellung als Kanon, seine Bezeichnung und Abgrenzung als solche [ist] ein Akt der Kirche, ein Akt ihres Glaubens, ihrer Erkenntnis und ihres Bekenntnisses“.[11] Die Kirche hat diese Schriften also als Wort Gottes verstanden – oder genauer: dass die Kirche den Kanon „nur als schon geschaffenen und ihr gegebenen Kanon nachträglich nach bestem Wissen und Gewissen, im Wagnis und im Gehorsam eines Glaubensurteils, aber auch in der ganzen Relativität einer menschlichen Erkenntnis der den Menschen von Gott eröffneten Wahrheit“[12] festgestellt hat. Weil nun die Kirche früherer Zeiten die Bibel als Wort Gottes an sie verstand – allerdings nicht im Sinne einer Verbalinspiration, die den menschlichen Charakter der Schriften relativiert oder sogar negiert –, ist bereits die Existenz der Bibel in ihrem vorhandenen Umfang immer auch als Zumutung an uns zu verstehen: Die Bibel gilt als Zeugnis der einen Geschichte Gottes von der Erwählung Israels und der Schöpfung der Welt bis hin zur erhofften Neuschaffung der Welt am Ende |29|der Zeiten – und Mitte der Geschichte Gottes mit der Welt ist das Kommen Jesu Christi, der für die Menschen gestorben und auferstanden ist. Allerdings ist auch zu sehen, dass dieses Bekenntnis auch in der Kirche nicht immer nur auf Zustimmung gestoßen ist. So hat sich seit dem 17. Jh. eine Kanonkritik entwickelt, die dazu führte, die Bibel nicht mehr im Zusammenhang zu verstehen, sondern nur als einzelne Schriften – de facto bedeutete dies eine Dekanonisierung in der exegetischen Wissenschaft. Die Biblische Theologie versucht mit ihrem canonical approach hier eine Gegenbewegung[13] – das ist hoffnungsvoll, weil so dem Kanon als theologische Herausforderung nicht billig ausgewichen wird.

 

Keine Einseitigkeiten

Die Entstehung und Überlieferung der Bibel nur historisch zu betrachten ist zwar möglich, erklärt aber nicht die Sonderstellung und den Anspruch, den die Bibel in der christlichen Kirche und damit auch im RU gleich welcher Konfession hat: Sie ist als Zeugnis vom Weg Gottes zu verstehen. Wer aber nur die theologische Dimension im engeren Sinne akzentuiert, steht in der Gefahr, das historische Gewordensein der Bibel zu verkennen und sie vielleicht sogar letztlich mit Gott selber zu identifizieren. Dann werden vorhandene Spannungen in der Bibel möglicherweise harmonisiert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Deshalb stehen beide Weisen, sich der Bibel zu nähern oder zu ermöglichen, dass die Bibel sich uns nähert, komplementär zueinander.

Entstehung und Kanonisierung der Bibel im Unterricht

In den meisten Lehrplänen ist das Thema „Entstehung der Bibel“ in der Sek 1 vorgesehen, manchmal in vereinfachter Form auch in der Primarstufe. Wichtig ist es dabei, auf das Wachstum und die historischen Hintergründe einzugehen und die Vielgestaltigkeit plausibel zu machen: Die Bibel ist eine Bibliothek. Wichtig aber wäre es darüber hinaus auf den Anspruch der Bibel einzugehen, der mit der Kanonisierung gegeben ist: Was macht die Bibel zu dieser einzigartigen Sammlung? Es wäre deshalb spannend, vielleicht am Ende der Sek 1 oder auch in der Sek 2, noch einmal auf die Thematik der Bibel zurückzukommen (wie es etwa Klemm[14] versucht).

|30|Leseempfehlungen

Alkier, Stefan/Hays, Richard B., Kanon und Intertextualität. Frankfurt a.M. 2010.

Barton, John/Wolter, Michael (Hg.), Die Einheit der Schrift und die Vielfalt des Kanons. Berlin 2003.

Becker, Eve-Marie/Scholz, Stefan (Hg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart – Ein Handbuch. Berlin 2012 (darin v.a. 389–700).

Dieckmann, Detlef/Kollmann, Bernd, Das Buch zur Bibel. Gütersloh 2010.

Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann, Die Bibel. Entstehung – Botschaft – Wirkung. Göttingen 2004.

Grosse, Sven, Theologie des Kanons. Der christliche Kanon, seine Hermeneutik und die Historizität seiner Aussagen. Die Lehren der Kirchenväter als Grundlegung der Lehre von der Heiligen Schrift. Wien 2011.

Markschies, Christoph, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Tübingen 2007 (darin v.a. 215–236).

Themenheft „Heilige Schriften“. Glaube und Lernen 31 (2016).

Fußnoten

1

So lautet die Basiserklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“.

2

Vgl. dazu Gussmann, Oliver, Die Kanonisierungsprozesse frühjüdischer ‚heiliger Texte‘. Eine Einführung. In: Becker/Scholz, 2012, 222–228.

3

So wurde erwogen, ob die fünf Bücher Mose und das Buch Josua als Hexateuch zusammengehören. Sodann wurde und wird die These vertreten, dass hinter dem jetzt ein Werk bildenden Pentateuch verschiedene Urschriften stehen, die auch manche Spannungen erklären können. Und dann gibt es die These, dass ein deuteronomistisches Geschichtswerk die Bücher Dtn bis 2 Kön redaktionell verbunden hat. Vgl. zu den verschiedenen Thesen z.B. Zenger, Erich et al., Einleitung in das Alte Testament. KStTh 1,1. Stuttgart 72008.

4

Vgl. dazu den Rekonstruktionsversuch bei Hoffmann, Paul/Heil, Christoph (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch. Darmstadt 32009.

5

Vgl. Frey, Jörg et al. (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen. WUNT 246. Tübingen 2009; Zimmermann, Ruben, Unecht – und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem. ZNT 12 (2003), 27–38.

6

Die älteste Sammlung ist vermutlich der Canon Muratori (um 170). Weitere Listen finden wir bei Irenäus von Lyon (um 185), Eusebius von Caesarea (kurz nach 300), Cyrill von Jerusalem (um 350). Der Osterfestbrief von Athanasius (367) zeigt erstmals die heutige Sammlung von 27 neutestamentlichen Schriften.

7

In Teilen der Kirche waren der Hebräerbrief, der Jakobusbrief, der 2. Petrusbrief, der 2. und 3. Johannesbrief, der Judasbrief und die Offenbarung des Johannes etwas länger umstritten.

8

Döbert, Markus, Posthermeneutische Theologie. Plädoyer für ein neues Paradigma. Stuttgart 2009, 38.

9

Hahn, Ferdinand, Theologie des Neuen Testaments. Bd. 2. Tübingen 22005, 41.

10

Vgl. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 62007, 103–129.

11

Barth, Karl, KD I/2. Zürich 1940, 667.

12

A.a.O., 524.

13

Vgl. die Beiträge in Becker/Scholz, 2012: Ohst, Martin, Aus den Kanondebatten in der Evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts (39–70); Lips, Hermann von, Kanondebatten im 20. Jahrhundert (109–126); Wischmeyer, Oda, Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion. Was die neutestamentliche Wissenschaft gegenwärtig hermeneutisch leisten kann (623–678).

14

Vgl. Klemm, Harald, Zwischen Verheißung und Gefährdung. Die Bibel als Grundlage des Glaubens. Ein Unterrichtsentwurf für die 11. Jahrgangsstufe. Erlangen 1996.

Die Welt des Orients

Michaela Bauks

Die Relevanz des Alten Orients für die Entstehung des ATs

Das AT (Hebräische Bibel) ist nicht nur ein „Kind seiner Zeit“ (ca. 700 v. Chr. bis 300 n. Chr.), sondern in seinem Gedankengut tief im altorientalischen Kulturraum des 2. und 1. Jt.s verwurzelt (insbesondere Mesopotamien, Ägypten sowie Persien und Griechenland). Diesen Kulturraum zu erschließen, trägt daher unmittelbar zum Verstehen des ATs bei. Das AT ist nicht auf einen Schlag entstanden (vgl. die Vorstellungen eines von Gott übermittelten Offenbarungsakts suggeriert, wie es z.B. der Koran – in Analogie zur Toragabe am Sinai – beansprucht). Es ist als Buch, aber auch, was die Vorstellungswelt anbelangt, langsam gewachsen. Seit dem 17. Jh. ist die historisch-kritische Forschung bestrebt, den literarischen Wachstumsprozess zu rekonstruieren (→ Art. [Historisch-kritische] Bibelauslegung). Im ausgehenden 19. Jh. hat die Religionsgeschichtliche Schule, gefolgt von Exegeten und Religionsgeschichtlern der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, die hohe Bedeutung des Alten Orients für die Literatur- und Bildwelt, für das Denken und die Lebenswelt des Alten Israel entdeckt.[1] Zur Erforschung der literarischen Genese des ATs kam also die vertiefte Erforschung der Lebens-, |31|Gedanken- und religiösen Symbolwelt hinzu. Dabei wurde deutlich, wie sehr das AT in den unterschiedlichsten kulturellen Bezügen an der altorientalischen Lebens- und Vorstellungswelt partizipiert. Sowohl Gemeinsamkeiten mit der altorientalischen Umwelt als auch Spezifika des ATs werden durch den altorientalischen Vergleich sichtbar. Darüber hinaus trägt das Vergleichsmaterial dazu bei, eine Brücke zu bauen über den „garstigen breiten Graben“ zwischen Religion/Glaube und Vernunft, zwischen gestern und heute. Und in dieser Hinsicht ist das Themenfeld auch für die Religions- und Bibeldidaktik wichtig. Denn wer kennt nicht den von Kindern wie von Erwachsenen geäußerten Satz: Die Bibel ist Unsinn, weil das, was sie z.B. vom Schöpfungshandeln Gottes erzählt, von den Naturwissenschaften längst widerlegt ist. Der altorientalische Vergleich macht deutlich, wie sehr das AT an dem Weltverständnis und der Weltdeutung seiner Zeit partizipiert. Zwar unterscheidet sich dieses Denken fundamental von modernem Denken, der Unterschied ist aber nicht in den Kategorien „richtig“ oder „falsch“ zugunsten der einen oder anderen Sicht zu entscheiden. Vielmehr fordert und fördert die Wahrnehmung dieses Unterschiedes neben der Sachkompetenz die hermeneutische Kompetenz.[2] Da bei der Erschließung der Vorstellungswelt des Alten Orients auch Bildquellen eine wichtige Rolle spielen, bietet sich Medienvielfalt an.

Themenfelder
Schöpfung

In Curricula wie Religionsbüchern ist der Alte Orient im Kontext der Schöpfungs- und Weltbildthematik präsent.[3] Oft ist Schöpfung im Fokus der Umwelt(schutz)thematik, im Verbund mit Naturwissenschaften, Geographie, Sozialkunde, Deutsch und Geschichte behandelt. Es kommen Überlegungen zu Kosmologie und Weltbildfragen hinzu, die zuletzt durch die Kreationismusdebatte Aufwind erhielten.[4] Diese impliziert nicht nur die Gegenüberstellung |32|von Glauben und Naturwissenschaft, sondern fördert eine Art Schichtenmodell der Wirklichkeit, in dem das Thema Schöpfung neue Zugänge von Weltdeutung eröffnet, wie sie z.B. auch in esoterischen Denkansätzen (z.B. Intelligent Design) populär wurden.[5] „Neue religiöse Bewegungen“ rekurrieren gern auf antike mythische Konzepte unter der Vorgabe, sich von den christlichen Traditionen zu distanzieren, um den „ursprünglicheren“ Formen, die angeblich durch die jüdisch-christliche Gedankenwelt verdrängt worden sind, gebührenden Respekt zu zollen. Diesem Vorurteil beugt der Vergleich alttestamentlicher Motive mit altorientalischen Vorläufern vor. Eine Reihe einschlägiger Mythen sind zuletzt für ein größeres Publikum publiziert worden. Aus Schutz vor religiöser Beliebigkeit ist es religionspädagogisch wichtig, die Zusammenhänge vergleichend zuzuordnen. Deshalb ist das ohne die benachbarten Kulturen nicht angemessen verstehbare theologische Paradigma „Schöpfung“ in Zukunft durch weitere Themenfelder zu ergänzen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich zwei weitere Themen gewählt, um die Bedeutung des Alten Orients für die biblische Gedankenwelt darzulegen und die (bibel)didaktische Relevanz zu verdeutlichen. Der Rückgriff auf „Bilder“ ist mitunter äußerst konkret zu verstehen, da religionsgeschichtliches Verstehen dank des möglichen Rückgriffs auf ikonographisches Material aus dem alten Orient und Palästina wichtige Impulse gibt.[6]