Grundwissen Psychisch Kranke

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5. die Impuls- und Selbstkontrolle: Die Kontrolle eigener Impulse kann so weit vermindert sein, dass es zu autoaggressiven, aggressiven oder deliktischen Verhaltensweisen kommt (z. B. Kaufsucht, selbstverletzende Handlungen, suizidale Handlungen oder Drogenmissbrauch bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen; Diebstahl und Gewalttätigkeit bei antisozialen Persönlichkeitsstörungen). Anderen wiederum fehlt die Geduld, Dinge einfach geschehen zu lassen oder widrige Umstände zu akzeptieren (Ärgerreaktionen bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen).

Von einer Persönlichkeitsstörung spricht man – das sei noch einmal betont – nur dann, wenn die oben gelisteten Störungsbereiche zu überdauernden Problemen führen (über Jahre hinweg) und in mehreren Lebensbereichen (also z. B. am Arbeitsplatz und in der Familie) auftreten.

Treten solche Störungen nur vorübergehend auf, etwa als Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis (z. B. depressiver Rückzug nach Todesfall in der Familie) oder als Folge einer Substanzwirkung (z. B. Reizbarkeit nach Alkoholkonsum) oder als Folge eines medizinischen Problems (z. B. Realitätsverkennung nach Hirnverletzung), so darf nicht von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen werden.

Ebenso wird bei Jugendlichen oder Adoleszenten (mindestens bis zum 14. Lebensjahr, bei antisozialen Verhaltensweisen bis zum 18. Lebensjahr) übereinkunftsgemäß nicht von Persönlichkeitsstörungen gesprochen, weil man hier noch von einem erheblichen Entwicklungspotential ausgeht.21

Im Bereich der klinischen Psychologie wird mitunter darauf Wert gelegt, dass nur dann von einer Persönlichkeitsstörung gesprochen wird, wenn der Betroffene selbst (und nicht nur seine Umwelt) unter seinem Verhalten und seinen Folgen leidet. Dies wird durchaus kontrovers diskutiert. Persönlichkeitsgestörte Menschen können sehr lange zufrieden und erfolgreich durchs Leben gehen und verursachen mehr Leid bei ihren Mitmenschen, als dass sie selbst ein Unbehagen spüren. Namhafte Autoren wie Peter Fiedler22 fordern jedoch den subjektiven Leidensdruck als Diagnosekriterium und wollen nur im Falle eines „erheblich eingeschränkten Funktionsniveaus“, d. h. im Falle einer „Kollision mit Ethik, Recht oder Gesetz“, eine Ausnahme gelten lassen.

2.2 Epidemiologische Daten – Häufigkeiten und Verteilung

Die einzige in Deutschland durchgeführte Studie zur Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen in der Allgemeinbevölkerung kommt auf eine Häufigkeit (Prävalenz) von 9,4 %.23 Dies entspricht in etwa der Zahl, die andere, internationale Untersuchungen neueren Datums ergeben haben.

Unter den Patienten psychiatrischer Einrichtungen ist diese Zahl wesentlich größer. Hier leiden 40 - 60 % der Patienten (auch) unter Persönlichkeitsstörungen. Diese Häufigkeit spricht nicht nur für die fehlende soziale Angepasstheit persönlichkeitsgestörter Menschen, sondern vor allem auch für das hohe Risiko, psychische Begleiterkrankungen zu entwickeln. Persönlichkeitsgestörte Menschen leiden häufiger unter Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen. Sie weisen teilweise ein erheblich gesteigertes Suizidrisiko auf.

Die höchsten Suizidraten finden sich bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen mit 4 - 10 % und vor allem bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen mit 14 %.24

Die Geschlechterverteilung ist variabel. Je nach spezifischer Persönlichkeitsstörung findet man andere Verteilungen: Borderline-Persönlichkeitsstörungen betreffen z. B. in 80 % weibliche Patienten, antisoziale hingegen ganz überwiegend Männer.

2.3 Ursachen und Entstehungsbedingungen

Fazit

Bei der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen spielen biologische, psychologische und umgebungsbezogene (soziale) Faktoren gleichermaßen eine Rolle.25

Am besten werden die Verhältnisse in dem sogenannten „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ abgebildet26, nach dem ein bestimmtes Temperament oder bestimmte Defizite unter ungeeigneten Entwicklungsbedingungen oder starkem Stressoren-Einfluss schließlich zur Persönlichkeitsstörung führen, die dann nicht selten eine Art „Selbstschutz“ beinhaltet (also z. B. Zwanghaftigkeit zur Abwehr von Verlust- oder Zukunftsängsten, Misstrauen zum Schutz gegen zwischenmenschliche Verletzung, Größenphantasien zur Abwehr von Minderwertigkeitsgefühlen etc.).

Eine Variante des Vulnerabilitäts-Stress-Modells ist das Konzept der „invalidierenden Umgebung“27: Wird z. B. ein Kind mit einem lebhaften und hoch reaktiven Temperament auf Biegen und Brechen „gezügelt“ (z. B. in ein kirchliches Internat gegeben), oder wird ein Kind mit einer durchschnittlichen Intelligenz ständig zu schulischen Hochleistungen angespornt, verknüpft mit herabsetzenden Kommentaren im Falle des „Versagens“ oder verknüpft mit konditionaler Zuwendung („Liebe nur für Leistung“), so drohen daraus tiefer greifende Störungen des Persönlichkeitsgefüges zu entstehen.28

Erblichen und biologischen Faktoren wird bei der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen eine große Rolle zugeschrieben. Torgersen29 schätzt die Erblichkeit für die Gesamtheit der Persönlichkeitsstörungen auf 60 %. Dabei wird nicht unbedingt die Persönlichkeitsstörung selbst vererbt, sondern eben jene Anfälligkeiten (Vulnerabilitäten). Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass man in den Familien persönlichkeitsgestörter Menschen gehäuft auch andere psychische Erkrankungen findet (z. B. Schizophrenien in den Familien von paranoiden und schizotypischen Persönlichkeitsstörungen).30

Die Vulnerabilität liegt häufig im Bereich körperlich-neurophysiologischer Funktionen, beispielsweise in Form einer veränderten Schmerzsensitivität, einer übermäßigen Reagibilität emotionsverarbeitender Hirnzentren oder in Form einer veränderten Wahrnehmung des emotionalen Ausdrucks in Gesichtern.

Über die psychologischen Entwicklungsbedingungen, die zur Ausprägung einer Persönlichkeitsstörung führen, herrscht bisweilen Uneinigkeit. So werden bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung einmal emotional entbehrungsreiche Kindheitsverhältnisse vermutet, ein anderes Mal zu starke Verwöhnung und Idealisierung des Kindes seitens der Eltern, dann wieder eine – abwechselnd forderndstrafende und verwöhnende – Pendelerziehung.31

Besonders bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung werden gehäuft auch traumatische Entwicklungsbedingungen in der Kindheit gefunden (sexuelle Gewalt, Vernachlässigung, Misshandlung).

Bei vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeiten wiederum lassen sich gehäuft ängstliche Vorbilder und/oder ein ambivalent-ängstlicher Erziehungsstil in der Familie identifizieren.

3. Persönlichkeitsstile und Persönlichkeitsstörungen im Einzelnen

Im Folgenden sollen die einzelnen Persönlichkeitsstörungen in Anlehnung an das DSM-IV vorgestellt werden. Dabei soll auf eine möglichst anschauliche Darstellung Wert gelegt werden.

Nach der Darstellung der Kernmerkmale einer spezifischen Persönlichkeitsstörung sollen die jeweils wichtigsten sozialen und gesundheitlichen Probleme geschildert werden, ggf. auch unter Berücksichtigung polizeilich interessanter Fakten.

Anschließend werden die jeweils zugehörigen Persönlichkeitsstile referiert, also die abgemilderten Formen der Persönlichkeitsstörungen, wie sie heute im psychotherapeutischen Sektor als hilfreiche Erklärungs- und Arbeitsmodelle üblich sind.32 Die Eigenarten der betroffenen Menschen werden damit auch in einer wertschätzenden und ressourcenorientierten Form besprochen, denn insbesondere wenn die Auffälligkeiten nicht sehr ausgeprägt sind, finden sich unter den Betroffenen häufig ausgesprochen leistungsfähige und einflussreiche Menschen, die ihre Charaktermerkmale in sozial wohlgelittener, ja wertschöpfender Form zur Geltung bringen.

Persönlichkeitsvarianten, Persönlichkeitsstile, Persönlichkeitsstörungen begegnen uns tagtäglich in Alltag und Beruf. Ihre Kenntnis bedeutet nicht zuletzt Menschenkenntnis, die vor allem im polizeilichen Kontext stark gefordert ist. Auch aus diesem Grunde soll eher anschaulich-erzählend berichtet werden, statt Symptomkataloge referierend.

Fazit

Das DSM-IV unterscheidet drei Hauptgruppen (sogenannte Cluster33) von Persönlichkeitsstörungen, die jeweils gemeinsame Merkmale haben. Sie sind in Tabelle 2 dargestellt.

Tabelle 2


Cluster nach DSM-IVA sonderbar-exzentrische PersönlichkeitenB dramatisch-emotionallaunische PersönlichkeitenC ängstlich-furchtsame Persönlichkeiten
paranoidschizoidschizotypischantisozialborderlinehistrionischnarzisstischvermeidend-selbstunsicherdependentzwanghaftpassiv-aggressiv

Dabei finden sich in Cluster B diejenigen Persönlichkeitsstörungen, die am ehesten polizeilich relevant sind, weil sie einen riskanten Lebensstil führen und emotional zumindest in kritischen Situationen oft unterreguliert sind. Dies bringt besonders häufig selbstschädigende Verhaltensweisen und kurzschlüssiges, autoaggressives oder aggressives Handeln mit sich.

Aus Cluster A sind vor allem die paranoiden und mit Einschränkungen auch die schizotypischen Persönlichkeitsstörungen forensisch relevant.

In Cluster C finden sich diejenigen Persönlichkeitsstörungen, die das höchste Viktimisierungsrisiko tragen. Sie werden in bestimmten (auch beruflichen) Kontexten am häufigsten ausgenutzt, finden sich z. B. als Opfer häuslicher Gewalt und geraten ebenfalls häufiger in suizidale Krisen.

 

3.1 Das Cluster A: Die sonderbar-exzentrischen Persönlichkeiten

Im Cluster A der sonderbar-exzentrischen Persönlichkeiten finden sich die introvertierten und ungeselligen Menschen. Es sind Persönlichkeiten, die sich aus den mitmenschlichen Bezügen mehr oder weniger herausgelöst haben, im Affekt kühl oder fremd wirken, in ihrem Denken verschroben oder extrem. In der Realitätswahrnehmung und im Verhalten sind sie mitunter so exzentrisch und eigen, dass sie von anderen als Einzelgänger, Sonderlinge oder „Spinner“ wahrgenommen werden.

3.1.1 Die paranoide Persönlichkeitsstörung34

Die paranoide Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch ein situations-übergreifendes Misstrauen aus. Sie neigt dazu, selbst neutrale oder freundliche Handlungen der Mitmenschen als verächtlich, herabsetzend oder feindselig fehlzudeuten.

Möchte der Partner alleine ausgehen, vermuten sie Untreueabsichten dahinter (Eifersucht); hat die Tochter einen neuen Freund, so ist das höchstwahrscheinlich ein Lump, den man besonders überprüfen muss; gibt es eine Neuerung im Beruf, so wird dahinter grundsätzlich eine „Machenschaft“ der Vorgesetzten zum Nachteil der Mitarbeiter gewittert; bittet ein Kollege um einen Gefallen, fühlen sie sich rasch ausgenutzt.

Hinter der übermäßigen Wachsamkeit und kontrollierenden Dominanz paranoider Menschen verbirgt sich eine starke Kritikempfindlichkeit; sie hegen oft anhaltenden, nachtragenden Groll gegen Menschen, von denen sie sich beleidigt, ausgenutzt oder missachtet fühlen. Sie können weder verzeihen noch vergessen.

Paranoide Persönlichkeiten beharren sehr stark auf ihren eigenen Rechten und Meinungen. Sie kennen keine Grauzonen: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!“ Dadurch geraten sie in eskalierende Streitsituationen, die mitunter auch in gerichtliche Prozesse münden. Vereinzelt überhäufen sie Behörden und Gerichte mit Anzeigen oder Petitionen, klagen bis in die letzte Instanz oder kämpfen für ein – aus ihrer Sicht – übergeordnetes Recht, hinter dem sich zumindest für Außenstehende oft gut sichtbar Selbstgerechtigkeit verbirgt. Viele Querulanten gehören dementsprechend zu den paranoiden Persönlichkeitsstörungen.

Durch die Neigung, ihre Umwelt als feindselig zu betrachten, liebäugeln manche paranoide Persönlichkeitsstörungen mit Verschwörungstheorien. Sie konstruieren „Achsen des Bösen“, gehen von einer Einsickerung feindlicher Elemente in die Gesellschaft aus, erwarten die gesellschaftliche Großkatastrophe, wappnen sich oder bewaffnen sich sogar.

Viele politische und religiöse Fanatiker, Attentäter oder Amokläufer gehören deshalb in diese Kategorie der Persönlichkeitsstörung.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung drohen leicht in ein soziales Abseits zu geraten. Sie verbreiten in der Regel eine Aura kühler Sachlichkeit oder Strenge und unterhalten unbefriedigende zwischenmenschliche Beziehungen, u. a. weil sie selbst Freunde und Ehepartner leichtfertig der Illoyalität oder Untreue bezichtigen.

In Führungspositionen pflegen sie einen eher autokratischen und kontrollierenden Stil, greifen nicht selten zu repressiven Maßnahmen, unterstützen Zuträgermentalität oder installieren Spitzelsysteme.

In zugespitzten Krisensituationen kommt es mitunter zu kurzen wahnhaften Episoden mit der dann nicht mehr zu korrigierenden Überzeugung, beneidet, beobachtet, abgehört, verfolgt oder sonst wie beeinträchtigt zu werden.35

Selten kommt es dann auch zu Gewaltdelikten (bis hin zu Amoktaten), die ideologisch überhöht oder als Notwehr verbrämt werden.

Der wachsam-scharfsinnige Persönlichkeitsstil36

Menschen mit einem wachsam-scharfsinnigen Persönlichkeitsstil (also der abgeschwächten, nicht pathologischen Form der paranoiden Persönlichkeitsstörung) stehen fest zu ihren eigenen Absichten und Vorstellungen. Davon abweichende Meinungen oder Gewohnheiten werden gerne hinterfragt und ergründet, um den Wurm darin zu entdecken oder eine hintergründige Motivation zu entlarven. Kurz: Sie sind gute Beobachter und lassen sich kein X für ein U vormachen; sie sind unabhängig in ihrer Meinungsbildung, lassen sich nicht einschüchtern und verteidigen ihre Positionen.

Man findet wachsame Persönlichkeiten dementsprechend dort, wo es um die Überwachung von Normen und Konventionen geht, etwa in Tätigkeitsfeldern wie Jurisprudenz, Kriminalistik37 und Parteiarbeit. Dort leisten sie wertvolle Arbeit.

3.1.2 Die schizoide Persönlichkeitsstörung38

Das herausragende Merkmal der schizoiden Persönlichkeitsstörung ist die Distanziertheit in sozialen Beziehungen. Schizoide Menschen sind Einzelgänger ohne enge Freunde oder Bekannte, scheu, verschlossen, ohne Bedürfnis nach Nähe. Für ihre Mitmenschen wirken sie unzugänglich und kühl; sie drücken kaum je warmherzige Gefühle oder Freude aus. Sie beschäftigen sich gerne mit Tätigkeiten, die alleine ausgeübt werden können, und sind relativ gleichgültig gegen geltende Konventionen und Umgangsformen. Diese werden aber nicht absichtlich (etwa im Sinne der Provokation) verletzt, sondern eher aus Desinteresse oder Unkenntnis heraus ignoriert. Gehen sie ein sexuelles Verhältnis ein, so nur aus der Not heraus – zur Triebbefriedigung. Die Betroffenen kultivieren in ihrer Introvertiertheit nach innen eine mehr oder weniger reiche Phantasiewelt.

Nach außen pflegen sie manchmal ein cooles, hyperautonomes Image („Clint-Eastwood-Syndrom“39), das über die darunterliegende Scheu und Näheangst hinwegtäuscht.

Die Abgrenzung vom sogenannten Asperger-Syndrom, einer Sonderform des frühkindlichen Autismus, oder von schizophrenen Residualzuständen ist mitunter nur durch eine ausführliche klinische Diagnostik zu leisten.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Die Betroffenen kommen gerade nicht wegen ihres Eigenbrötlertums oder der Zurückgezogenheit in die Behandlung. Sie arrangieren sich gerne in festen Gewohnheiten und Abläufen – und bleiben darin lange stabil. Problematisch wird es allerdings, wenn sie durch äußere Umstände, etwa berufliche Notwendigkeiten oder private Veränderungen, gezwungen werden, mit ihren Mitmenschen in näheren Kontakt zu treten. Sie reagieren dann mit Ängsten und starker Verunsicherung.

Menschen mit einem Bedürfnis nach Einsamkeit sind in unserer hoch kommunikativen Gesellschaft zudem oft nicht gut angesehen: Den Betroffenen wird daher ihr Sonderlingsstatus durch negative Reaktionen der Umwelt manchmal schmerzlich bewusst gemacht, sodass sie depressiv reagieren können.

Der ungesellig-zurückhaltende Persönlichkeitsstil

Es handelt sich um Menschen, die die Einsamkeit der Geselligkeit vorziehen, und die sich gut alleine beschäftigen können. Von Moden oder kurzfristigen Trends lassen sie sich wenig beeindrucken. Da sie weder auf Lob aus sind noch unter der Kritik anderer sehr leiden, können sie ihr Leben in der Regel sehr autonom gestalten.

So anstrengend für sie normale Gespräche sind, so gut können sie sich in bestimmte technische oder philosophische Fragen vertiefen, sich in Literatur oder in die eigene Innenwelt hineinversenken.

Man findet ungesellig-zurückhaltende Menschen daher vor allem in Berufen, die alleine ausgeübt werden. Sie gründen erfolgreiche Ein-Mann-Handwerksbetriebe, sind Informatiker oder Entwicklungsingenieure.

3.1.3 Die schizotypische Persönlichkeitsstörung

Die schizotypische Persönlichkeitsstörung ist eine problematische Diagnosekategorie, weil international noch keine Einigkeit darüber besteht, ob es sich hier wirklich um eine Persönlichkeitsstörung handelt (davon geht das DSM-IV aus) oder um eine Unterform der Schizophrenie (wie im ICD-10, dort als „schizotype Störung“ bezeichnet)40.

Die Betroffenen zeichnen sich durch eine hohe Irritierbarkeit in zwischenmenschlichen Kontakten aus. Sie wirken scheu und empfindsam, beziehen gerne Dinge auf sich, sehen in banalen Ereignissen „Zeichen“ mit einer bestimmten Bedeutung für sie (ohne wahnhaft davon überzeugt zu sein).

Zwischenmenschliche Nähe können auch sie nur schwer zulassen. Während paranoide Persönlichkeiten Nähe mit Schwäche verbinden und für schizoide Persönlichkeiten Nähe schlicht unwichtig ist, verbinden schizotypische Menschen Nähe mit diffusen Ängsten. Auch wenn man sich lange kennt, entsteht kaum Vertrautheit. Es persistieren Argwohn und Angst, z. B. vor Zurückweisung.

Die Betroffenen beschäftigen sich gerne mit esoterischen oder abseitigen Themen, glauben an Hellseherei, Telepathie oder Magie und können sehr überzeugt von entsprechenden Erlebnissen und Wahrnehmungen berichten. Sie sind Anhänger von New-Age-Bewegungen, lesen parapsychologische Literatur, glauben an Karma und Wiedergeburt41 oder forschen über Ufos. Ihr Denken wirkt dabei wenig präzise, eher ungenau, umständlich, metaphorisch. In ihrem Auftreten wirken sie exzentrisch oder merkwürdig.

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Die Probleme, die sich aus dieser Störung ergeben, ähneln denjenigen der schizoiden Persönlichkeitsstörung. Zudem leiden diese Patienten besonders unter ihrer Empfindsamkeit und treffen – aus dem Bauch heraus – wenig rationale Entscheidungen, die sie in Schwierigkeiten bringen können.

Mitunter verlieren sie sich an ein magisches Weltbild und pflegen schrullige Hobbies. Die Bewährung in einem Beruf fällt ihnen manchmal schwer. Auf emotionale Probleme und affektgeladene Situationen reagieren sie mit sehr starkem Unbehagen, weswegen sie aufwühlenden Erfahrungen aus dem Weg gehen.

Beispiel

Frau M., eine 40-jährige Patientin mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung, alleinerziehende Mutter von drei Kindern, sagt von sich selbst, sie sei eine „HSP“ (hochsensible Person) mit schamanistischer Veranlagung.

Alltägliche Lebensprobleme führt sie auf „atmosphärische Störungen“ zurück, die sie oft zu einem kurzschlüssigen

Handeln verleiten: Als ihr mittleres Kind im Trotzalter schwierig wird, führt sie das auf „negative Schwingungen“ in der Wohnung zurück – und zieht um.

Am nächsten Wohnort machen die Nachbarn eine kritische Bemerkung; sie fühlt sich danach anhaltend beobachtet und nicht mehr sicher – und zieht wieder um. In der nächsten Wohnung vermutet sie eine Wasserader, die zu Schlafstörungen führt. Sie ist so allmählich in finanzielle Nöte und in eine soziale Isolation geraten.

Schließlich wendet sie sich auch an das Jugendamt, weil sie sich mit der Erziehung des ältesten Kindes überfordert fühlt, das wie sie „hochsensibel und medial begabt“ sei.

Als sie in Therapie kommt, plant sie bereits den nächsten Umzug. Von bestimmten traumatischen Erfahrungen mag sie in der Therapie nicht berichten: Die Aufregung wäre zu viel für sie, sie „tille“ dann, sie habe große Angst vor den gesundheitlichen Folgen.

Vor einer Therapiesitzung muss sie stets 2 - 3 Minuten durch das Zimmer gehen und „den Raum fühlen“.

Der ahnungsvoll-sensible Persönlichkeitsstil

Es handelt sich um sensible Menschen, die sich gut in bestimmten gesellschaftlichen Nischen einrichten können oder sogar (etwa als Sektengründer) zu Ruhm gelangen können. Sie sind in der Regel warm, gutherzig und treu mit einem „sechsten Sinn“ für Gefahr und für kritische Verhältnisse, ausgestattet mit einer kreativen Ader.

Sie fungieren daher gerne als esoterische Berater oder religiöse Lehrer, widmen sich der Malerei oder Schriftstellerei.

3.2 Das Cluster B: Die dramatisch-emotional-launischen Persönlichkeiten

Im Cluster B der dramatisch-emotionallaunischen Persönlichkeiten finden sich Menschen, die labil in ihren Gefühlen und unstet in der Beziehungsgestaltung sind. Obwohl sie oft aufgeblasen und rücksichtslos gegen sich selbst oder andere wirken, obwohl sie gerne „Heldengeschichten“ über sich selbst erzählen (Mythomanie), haben sie dennoch ein schwaches Selbstwertgefühl, das sich besonders häufig aus den invalidierenden oder traumatisierenden Sozialisationsbedingungen heraus verstehen lässt.

3.2.1 Die antisoziale Persönlichkeitsstörung

 

Die antisoziale Persönlichkeitsstörung42 ist in hohem Maße forensisch und polizeilich relevant. Sie findet sich unter Männern dreimal häufiger als unter Frauen. Zu ihren Kernsymptomen und -verhaltensweisen gehören nicht konformes bis gesetzwidriges Verhalten, manipulative und betrügerische Manöver, Impulsivität, Reizbarkeit und Aggressivität, riskantes und die Sicherheit anderer gefährdendes Verhalten.

Als ein entscheidendes Merkmal für eine Persönlichkeitsstörung werden dabei immer wieder das Fehlen jeglicher Reue und ein unterentwickeltes Schuldbewusstsein gesehen. Angesichts des (oft von ihnen selbst verursachten) Leidens anderer Menschen bleiben sie kalt und gleichgültig oder rationalisieren ihre Tat auf eine gefühlsferne Art und Weise. Es findet sich somit ein Mangel an Angst und Mitgefühl.

In ihrem Handeln wirken sie oft ruhelos und planlos, ohne Frustrationstoleranz, immer dem eigenen Vergnügen verpflichtet, ansonsten unzuverlässig und selten loyal.

Die delinquenten Verhaltensweisen treten meistens schon in der Jugend in einer weit über das normale Maß hinausgehenden Häufigkeit und Intensität auf: Schuleschwänzen, Gewalt auf dem Schulhof, früher Drogenkontakt und Alkoholexzesse, Tierquälerei etc.

Beispiel

Ein Mann mit antisozialer Persönlichkeitsstörung bricht in ein Haus ein, fesselt die beiden Eltern und zwei Kinder, die dort leben. Er findet im Haus DM 50, die er entwendet. Bevor er geht, tötet er alle vier Personen mit einem Messer.

Im forensischen Gutachtenverfahren fragt ihn der Gutachter, warum er denn die vier Menschen getötet habe – ohne Not und für einen lächerlich geringen Geldbetrag. Der Proband reagiert darauf sehr verwundert und antwortet ohne Regung: „Die hätten mich doch wiedererkannt, oder? Was hätte ich sonst tun sollen?“

Soziale und gesundheitliche Folgeprobleme

Bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung handelt es sich um eine sehr schwere Form der Persönlichkeitsstörung, was die Folgekomplikationen und Prognose angeht. Sie geraten sehr häufig mit dem Gesetz in Konflikt. In Häftlingspopulationen in den USA und Kanada erfüllen 70 - 80 % der Insassen die Kriterien einer antisozialen Persönlichkeitsstörung43. Die Prognose wird meistens pessimistisch gesehen: Etwa die Hälfte der von dieser Persönlichkeitsstörung betroffenen Männer in Gefängnissen oder in der forensischen Psychiatrie wird nach der Entlassung innerhalb von drei Jahren rückfällig44. Greift man jedoch auf spezifische Behandlungsprogramme zurück, die weit über einfache Sanktionierung und klassische Psychotherapie hinausgehen, erhält man eine bis zu 40 % geringere Rückfallhäufigkeit45.

Im privaten Leben führen antisoziale Persönlichkeiten ausbeuterische Beziehungen; sie pflegen einen hochmütig-manipulativen Beziehungsstil, tyrannisieren ihre Hausgenossen mit Überwachung, Drohungen und Gewalt. Sie haben häufig Suchtprobleme.

Der abenteuerlich-risikofreudige Persönlichkeitsstil

Die ständige Suche nach neuen Herausforderungen und Sensationen, das „Aufs-Ganze-Gehen“ und die Risikofreude sind nach Saß46 „ein besonderer Stoff, aus dem Helden und die antisozialen Persönlichkeiten sind“.

Sind die o. a. Defizite daher nicht sehr ausgeprägt und sind gewisse soziale Kompetenzen erhalten, so bewähren sich solche Menschen mit einer Extraportion Risiko- und Entschlussfreude auf der Suche nach Herausforderungen ganz hervorragend in bestimmten Zusammenhängen: Dort wo „leadership“ gefragt ist, dort wo das Spiel mit der Macht honoriert wird, dort wo Grenzen überschritten und furchtsame Menschen überzeugt werden müssen, da schlägt die Stunde des abenteuerlich-risikofreudigen Menschen.47

Sie finden sich daher sehr wahrscheinlich unter den Entdeckern und Soldaten, unter Politikern und Revolutionären, unter Menschen, die sich umso wohler fühlen, je turbulenter die Zeiten sind.

Interessanterweise wurde in jüngster Zeit ausgerechnet in der Arbeits- und Organisationspsychologie der alte Begriff der „Psychopathie“ wiederbelebt, der mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung weitgehend deckungsgleich gesehen wird, allerdings ergänzt um das Persönlichkeitsmerkmal eines glatten, oberflächlichen Charmes. Es wird über die Fragestellung geforscht, inwiefern solche Persönlichkeiten in Manager-Etagen und Politikergefilden großen Schaden anrichten.48

Auch unter Polizisten wird dieser Persönlichkeitsstil bzw. die korrespondierende Störung manchmal angetroffen49. In extremer Ausprägung fällt er allerdings früher oder später als „Widerstandsbeamter“ oder „Schleifer“ auf, noch häufiger durch gewalttätig aufgeladene Beziehungsdramen im privaten Bereich.

Unter den Bedingungen Hollywoods wird ein solcher hyperautonom-männlicher Polizistentyp immer noch gefeiert: Man denke an Mel Gibson in seiner Rolle als charmanter, risikofreudiger, aber eben auch völlig teamuntauglicher und auf die mäßigende Betreuung durch seinen Partner angewiesener Polizist in dem Streifen „Lethal Weapon“50.

3.2.2 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung

Der auf den ersten Blick unverständliche Begriff „Borderline“ wurde 1938 von Stern51 geprägt und sollte einen „Grenzfall“ zwischen Neurose und Psychose bezeichnen. Heute wird darunter die präzise beschriebene Kategorie einer Persönlichkeitsstörung verstanden.

Die polizeiliche Relevanz dieses Störungsbildes ergibt sich alleine aus der Tatsache, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung mit einem Anteil von bis zu 20 % im stationären psychiatrischen Klientel und mit einer erheblichen Suizidproblematik52 zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen überhaupt gehört. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen.

Im Vordergrund der Symptomatik stehen eine Störung der Emotionsregulation, die insbesondere den Umgang mit Wut betrifft sowie eine dramatische Inkonstanz und Anfälligkeit im Bereich enger Beziehungen.

Die Betroffenen haben ein tiefes Bedürfnis nach nahen Beziehungen und tun alles dafür, ein tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu verhindern. Gleichzeitig kommt es nach Phasen der Idealisierung der Bezugspartner – mitunter anlässlich einer Bagatelle – zu einer heftigen Entwertung und Verteufelung des Partners: Es resultieren leidenschaftliche und intensive Affären mit dramatischen und radikalen Brüchen.

In ihrer Identität sind die Betroffenen nicht sicher: Sie haben ein instabiles Selbstbild, sind schwankend in ihren Zielen und Präferenzen (einschließlich der sexuellen Präferenz), erleben sich manchmal als wertlos und ohnmächtig, dann auch wieder als irrational mächtig und böse mit der Fähigkeit, anderen zu schaden.

Es besteht eine Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (z. B. Sexualität, Drogen, Geldausgeben, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle, Kaufsucht) mit wiederholten suizidalen Handlungen, Suizidandeutungen oder Suiziddrohungen und/oder selbstverletzendem Verhalten. Die Patientinnen schneiden oder ritzen sich an den Unterarmen, verbrennen sich mit Zigaretten, stoßen den Kopf an die Wand, halten die Luft an usw., um damit – wie sie sagen – sich selbst zu spüren, Spannung abzubauen oder sich selbst zu bestrafen53.

Borderline-Patienten haben eine ausgeprägte emotionale Labilität; sie sind rasch verdrießlich, mürrisch, dann wieder reizbar oder ängstlich (wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).

Mitunter gibt es Gefühlsausbrüche mit unangemessener heftiger Wut und Verlust der Selbstkontrolle54, mit wiederholten körperlichen Auseinandersetzungen, Risikoverhalten oder Sachbeschädigungen (z. B. Schlägereien, riskantes Fahren, Umkippen von Mülltonnen, Werfen von Geschirr).

Die starke Belastung mit schwer erträglichen Emotionen führt phasenweise zu einer Desintegration von Bewusstsein und Identität. Dieser „Dissoziation“ genannte Mechanismus soll u. a. dafür verantwortlich sein, dass Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ein chronisches Gefühl der Leere oder dissoziative Symptome berichten. Letztere beinhalten die Unfähigkeit, sich an belastende Ereignisse zu erinnern, geistige Abwesenheit bei sexuellen Handlungen, psychogene Ohnmachts- oder Krampfanfälle, medizinisch nicht erklärbare Lähmungen oder Taubheitsgefühle.