Grundwissen Psychisch Kranke

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Ganz besonders gilt dies auch in Situationen mit sozialem Bezug, wenn Menschen, die sozial ängstlich und unsicher sind, eher zu aggressivem Verhalten neigen, um bestimmte, von ihnen als angstauslösend bewertete Situationen von vornherein unter Kontrolle zu behalten.

Im Polizeialltag kann dies z. B. auch bedeuten, dass in Konflikt- und Einsatzlagen vorschnell körperliche Gewalt eingesetzt wird, um Unsicherheiten oder Ängste zu überwinden.

Auf einer etwas leichteren Ebene können wir es aber auch mit einem einfach subaggressiven Kommunikationsverhalten zu tun haben, was häufig eine konstruktive kollegiale oder dienstliche Situation unkonstruktiv eskalieren lässt.

Therapeutische Strategien

Dem Bereich Psychotherapie wird ein eigenes Kapitel in diesem Buch gewidmet; deshalb sei für umfassendere Informationen hierauf verwiesen.

Grundsätzlich lassen sich alle Formen der Angsterkrankungen gut behandeln. Bei allen Angsterkrankungen kommen primär Methoden der Konfrontation (oder auch: Exposition) zum Einsatz. Hierbei gilt es, die Patienten dazu anzuleiten, angstbesetzte Situationen (verhaltenstherapeutisch versteht man unter Situationen aber auch interne Auslöser, wie z. B. erhöhter Herzschlag, Schwitzen, körperliche Belast ungen oder auch Grübelgedanken) aufzusuchen, um dann nach einem zwischenzeitlichen leichten Ansteigen der Angstreaktion an einen Punkt zu kommen, an dem die Patienten die Erfahrung machen, dass sie die Angstreaktion gefahrlos aushalten können. Mit wiederholter Erfahrung dieses Angstabfalls auch ohne Flucht- und Vermeidungsverhalten reduzieren sich in aller Regel die Ängste deutlich, sodass insgesamt von einer sehr guten Prognose auszugehen ist.

In Einzelfällen kann es notwendig sein, die verhaltenstherapeutische Behandlung auch mit einer medikamentösen Behandlung zu kombinieren, wobei hier für die Dauermedikation nicht auf die bereits erwähnten Benzodiazepine zurückgegriffen wird, sondern auf bestimmte Medikamente aus der Gruppe der Antidepressiva. Diese haben im Gegensatz zu den Benzodiazepinen kein Abhängigkeitspotenzial und sind auch nach einer kurzen Eingewöhnungsphase von 2 - 3 Wochen, falls sie anschlagen, unbedenklich, was etwa die Fahrtauglichkeit oder überhaupt die Polizeidiensttauglichkeit angeht.

Welche Rollen können Angsterkrankungen im Polizeialltag spielen?

Angesichts der vielfältigen Formen, in denen sich Angststörungen manifestieren und zeigen können, ist es natürlich im Einzelfall schwierig vorherzusagen, welche Rolle Angsterkrankungen im Polizeialltag spielen können. Angesichts der Prävalenzzahlen, die eingangs genannt wurden, muss man aber davon ausgehen, dass sowohl im Kollegenkreis, bei Bürgern, die Hilfe suchen, als auch bei den mutmaßlichen Straftätern, mit denen der Polizist im Alltag konfrontiert ist, ein Prozentsatz von etwa 5 - 10 % an irgendeiner Form der Angststörung leidet. Dabei können die Auswirkungen sehr unterschiedlich sein:

Während jemand mit einer generalisierten Angststörung eher dazu neigt, sich zurückzuziehen, viele Sorgen zu machen, sich möglicherweise mit einem erhöhten dauerhaften Anspannungsniveau im Alltagsgeschäft aufzureiben, kann einer an solcher Art Erkrankter im Kollegenkreis irgendwann zu einer Erschöpfungssymptomatik neigen, mit seiner Arbeit überfordert sein, eine Burn-out-Symptomatik entwickeln oder möglicherweise auch ein Suchtproblem.

Auch wenn nicht jedes potenziell traumatisierende Ereignis, wie ein Schusswechsel, schwere Unfälle oder die Konfrontation mit Leichen, eine Angststörung hervorruft oder eine Angststörung durch ein solches traumatisches Ereignis hervorgerufen wird, ist natürlich immer die Möglichkeit gegeben, das Kolleginnen und Kollegen, die solche schwerwiegenden Ereignisse erlebt haben, eine agoraphobe Symptomatik oder eine spezifische Phobie entwickeln können. Zusätzlich ist in solchen Fällen immer auch eine sorgfältige Abgrenzung zur posttraumatischen Belastungsstörung vorzunehmen, die eine spezielle Form der Belastungsreaktion darstellt.10, 11

Natürlich können auch potenzielle Straftäter, die verhaftet werden, an einer Angstsymptomatik leiden. In der Regel wird man dies vorher nicht wissen, aber Agoraphobiker können natürlich in Situationen, wenn sie etwa Handschellen angelegt bekommen, in Autos gesetzt werden oder in eine Gefängniszelle gesperrt werden, heftigste agoraphobe Symptome entwickeln, bis hin zur Agitiertheit, ggf. Aggression.

Auch Menschen mit einer sozialen Phobie, die plötzlich durch eine soziale Situation unter Druck geraten, können sehr überschießend reagieren, insbesondere wenn noch Störungen auf der Persönlichkeitsebene, hier besonders vom narzisstischen oder emotional-instabilen Typus, dazukommen.

In allen beschriebenen Fällen ist zumindest mittelfristig auch an eine psychotherapeutische Behandlung zu denken.

Eine praktische Einführung in die Diagnostik und Behandlung von Angststörungen liefern Meermann & Okon (2006).12

Literatur

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1 Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H. (2008): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F), 6. vollständig überarbeitete Auflage. Bern: Huber

2 Saß, H., Wittchen, H.-U., Zaudig, M., Hauben, I. (2003): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen-Textrevision-DSM-IV-TR. Göttingen: Hogrefe

3 Ausführliches zu dieser Störung findet sich im Buch „Grundwissen Eigensicherung” von Lorei, C. & Sohnemann, J. (2011).

4 Bandelow, B. (2001): Panik und Agoraphobie – Diagnose, Ursachen, Behandlung. Wien, New York: Springer-Verlag

5 Schneider, S. & Margraf, J. (1998): Agoraphobie und Panikstörung. Göttingen: Hogrefe Verlag für Psychologie

6 Perkonigg, A., Wittchen, H. U. (1995): Epidemiologie von Angststörungen. In: Kasper, S., Möller, H. J.(Hrsg.): Angst und Panikerkrankungen. Jena: Gustav Fischer Verlag, S. 137 - 177

7 Wittchen, H. U. (1991): Der Langzeitverlauf unbehandelter Angststörungen: Wie häufig sind Spontanremissionen? Verhaltenstherapie, 1, S. 273 - 282

8 Watson, J. B., Rayner, R. (1920): Conditioned emotional reactions. Journal of Experimental Psychology, 3, pp.1-14

9 Lazarus, R. S. (1966): Psychological Stress and the Coping Process, New York. Eine Darstellung findet sich in Hallenberger, F. & Lorei, C. (2012). Grundwissen Stress. Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft.

10 Okon, E. (2003): Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung. In: Zielke, M.; Meermann, R.; Hackhausen, W. (Hrsg.). Das Ende der Geborgenheit? Lengerich: Pabst

11 Okon, E., Meermann, R. (Hrsg.) (2002): Prävention und Behandlung posttraumatischer Störungsbilder im Rahmen militärischer und polizeilicher Aufgabenerfüllung. Schriftenreihe der Psychosomatischen Fachklinik Bad Pyrmont, Band 11, Bad Pyrmont.

12 Meermann, R., Okon, E. (2006): Angststörungen: Agoraphobie, Panikstörung, spezifische Phobien. Stuttgart: Kohlhammer.

Persönlichkeitsstörungen

Jürgen Horn

Leitender Arzt Klinik Berus, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sozialmedizin, Überherrn-Berus

„Mad or bad?” – Eine Ermahnung zur Zurückhaltung

Die Persönlichkeit eines Menschen ist immer komplex und nicht abschließend beschreibbar. Es ist diese Tatsache, die uns von „Individuen“ sprechen lässt, von Menschen, die uns in ihrer Besonderheit liebenswert erscheinen können, die uns dann auch wieder verblüffen angesichts ihrer Unangepasstheit, Widerständigkeit, Undurchsichtigkeit oder Unberechenbarkeit.

Die Persönlichkeit formiert das allzu Menschliche und Abgründige, das Großartige und Unverwechselbare am Menschen.

Wenn wir die Persönlichkeit eines Menschen als „gestört“, „abnorm“ oder „krank“ bezeichnen, wenn wir das nicht abschließend Beschreibbare also mit einem bewertenden Etikett versehen, so darf dies nur mit besonderer Zurückhaltung geschehen. Das hat verschiedene Gründe:

1. Die Störung der Kommunikation: Kein Mensch lässt sich gerne festlegen – am allerwenigsten in negativer Art und Weise. Es mag sich nur jeder selbst fragen, wie er intuitiv auf ein „Du bist so …!“ reagiert. Viele Ehestreitigkeiten beginnen genau mit diesen Worten. Jedes Personalgespräch, das man mit diesen Worten beginnen würde, nähme wahrscheinlich einen destruktiven Verlauf. Die charakterliche Festlegung eines Menschen, seine Reduktion auf einige wenige Wesensmerkmale fühlt sich einfach nicht gut an und ist oft der Anfang einer Eskalation1.

2. Der Zuschreibungs fehler: Die Festlegung eines Menschen ist nicht nur konfliktträchtig, sondern schlicht irrational: Immer wird dabei etwas weggelassen, immer wird von der konkreten Situation abgesehen (ist doch menschliches Verhalten meistens Antwort auf eine konkrete Erfahrung), immer wird die Polarität des menschlichen Wesens übergangen (selbst der impulsivste Mensch kennt auch Phasen geduldigen Verharrens), immer kommen subjektive und willkürliche Bewertungen hinein (was der eine Beobachter schon für Geiz hält, ist für den anderen noch Sparsamkeit). In der Sozialpsychologie wird die Tatsache, dass Menschen den Einfluss von einzelnen Persönlichkeitsfaktoren auf das Verhalten gemeinhin überschätzen, als „fundamentaler Attributionsfehler“2 bezeichnet.

3. Labeling und soziale Ausgrenzung: Nicht selten wird unter dem Hinweis auf die „Krankhaftigkeit“ und Andersgeartetheit eines Menschen auch seine soziale Ausgrenzung betrieben. Soziale Probleme, Missverständnisse oder Konflikte lassen sich vordergründig leicht lösen, wenn man einzelnen Menschen die Schuld dafür zuweist und sie ausgrenzt, indem man sie als „verrückt“ oder bösartig definiert. Die diesbezüglichen „Sprachspiele“ oder „Diskursformationen“3 sind unheimlich attraktiv in ihrer Einfachheit und verselbständigen sich rasch. So ist ein sehr alter Begriff für die Persönlichkeitsstörung, die „Psychopathie“, allmählich zu einem Schimpfwort geworden – und sollte heute in der klinischen Psychiatrie und Psychotherapie nicht mehr verwendet werden.4

Fazit

Um vorläufig zusammenzufassen:

Mehr noch als bei anderen psychischen Erkrankungen muss man sich im Falle der Persönlichkeitsstörungen vor einem schnellen Urteil und vor der Stigmatisierung der Betroffenen hüten. Menschen kann man nicht mit einem diagnostischen Etikett versehen. Sehr prägnant wurde das von dem Arzt und Philosophen Karl Jaspers formuliert: „Es ist wissenschaftlich und menschlich unmöglich, unter einen Menschen gleichsam einen Strich zu machen, die Bilanz zu ziehen und zu wissen, was er ist. … Menschlich aber bedeutet die Feststellung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht.“5

Der Leser wird gebeten, sich bei der Lektüre dieses Kapitels dessen bewusst zu sein, wie vorsichtig mit dem „Wissen“ der Psychiatrie/Psychologie im Falle der Persönlichkeitsstörungen umgegangen werden muss.

1. Die Persönlichkeit – Bestimmungsversuche und Perspektiven

Die Persönlichkeit eines Menschen umfasst seine jeweiligen besonderen Eigenschaften, seinen Charakter und sein Temperament. In einer Persönlichkeit finden sich diese Eigenschaften mehr oder weniger überdauernd. Sie erlauben dem Menschen die Anpassung an seine jeweilige Umwelt, die Gestaltung des eigenen Lebens und eine angemessene Reaktion auf alltägliche oder kritische Anforderungen. Die Persönlichkeit wird durch angeborene, vererbte, aber auch durch erlernte Verhaltens- und Erlebensmuster geformt.

Die Versuche, Persönlichkeiten zu kategorisieren, reichen bis in die Antike zurück. Hier gab es erstmals in der sogenannten „Säftelehre“6 den Versuch, vier Persönlichkeitstypen zu unterscheiden, deren Verschiedenheit man auf eine jeweils andere Zusammensetzung der Gallenflüssigkeit (griechisch: „cholé“) zurückführte. Dieses Modell hatte über viele Jahrhunderte hinweg bis in die Renaissance hinein Bestand und wirkt bis heute nach in Begriffen wie „Choleriker“ (= aufbrausender Mensch, Hitzkopf) oder „Melancholiker“ (griechisch „melas“ = schwarz, Krankheit der schwarzen Galle, schwermütiger Mensch).

1.1 Dimensionale Persönlichkeitsmodelle

Mit Beginn der Wissenschaftsära favorisierte man unter dem Einfluss einer akademischen Psychologie, die sich mit statistischen Methoden dem Problem näherte, sogenannte dimensionale Modelle zur Bestimmung der Persönlichkeit.

Dabei werden bestimmte Grundzüge der Persönlichkeit in ihrem Ausprägungsgrad zu erfassen und zu quantifizieren versucht. Ein Mensch kann demnach mehr oder weniger introvertiert, mehr oder weniger emotional erregbar, mehr oder weniger verträglich usw. sein. Bei der dimensionalen Modellierung geht man in der Regel davon aus, dass es kontinuierliche Übergänge von gesund nach krank und auch zwischen den einzelnen Persönlichkeitsstörungen gibt.

Als Beispiel sei das psychobiologische Persönlichkeitsmodell des amerikanischen Psychiaters und Genetikers C. Robert Cloninger7 genannt. Er unterschied vier angeborene bzw. vererbte Temperamentsdimensionen (nach Neuem suchen, der Bestrafung entgehen, Belohnung nötig haben, ausdauernd sein) von drei, eher auf Lernerfahrungen und biographische Prägungen zurückgehenden Charakter-Dimensionen (Selbstkontrolle, Kooperativität, Selbsttranszendenz).

Ein weiteres, sehr einflussreiches dimensionales Modell ist das „Big-Five-Modell“8, nach dem sich Menschen in den Merkmalen „Neurotizismus“ (emotionale Labilität), „Extraversion“ (Begeisterungsfähigkeit), „Offenheit für Erfahrungen“ (Interesse/Neugier/geistige Beweglichkeit), „Verträglichkeit“ (Konformität) und „Gewissenhaftigkeit“ (Rigidität) unterscheiden. Das Modell hat vor allem in der Persönlichkeitsforschung und psychosomatischen Forschung eine weite Verbreitung gefunden. Die einzelnen Merkmale sollen jeweils zu ca. 50 % auf vererbte Faktoren zurückgehen.

1.2 Kategoriale Persönlichkeitsmodelle

Die klinische Psychiatrie bevorzugt seit jeher sogenannte kategoriale Modelle der Persönlichkeitsstörungen, die in der Tradition der Psychiater Emil Kraepelin und Kurt Schneider9 hervorstechende Eigenschaften zur Definition von Persönlichkeiten heranziehen (Typologien). Dabei wurden früher – recht unsystematisch – einmal vorherrschende Gefühle (z. B. betriebsame Heiterkeit oder Traurigkeit), ein anderes Mal auffällige soziale Verhaltensmuster (z. B. Selbstunsicherheit), volitionale Merkmale (z. B. Fanatismus oder Willensschwäche) oder die gefühlsmäßige Ansprechbarkeit (z. B. Überschwänglichkeit oder Explosibilität) zur Bezeichnung der Wesensart genutzt.

Mitunter wurden auch körperliche Merkmale zur Unterscheidung herangezogen (Konstitutionstypen); die Nähe zu den alten humoralpathologischen Modellen war dabei oft spürbar. So sollten nach Kretschmer10 explosible Psychopathen häufiger einen athletischen Körperbau aufweisen, während pyknische, also untersetzte Menschen, eher gemütvoll bis depressiv seien. Diese konstitutionstypologischen Unterteilungen ließen sich durch moderne wissenschaftlich-statistische Verfahren selten nachvollziehen.

1.3. Persönlichkeitsdiagnostik in der klinisch-psychotherapeutischen Praxis

In der klinisch-psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis werden bis heute Persönlichkeitskategorien genutzt, die nun aber in Merkmalskatalogen, sogenannten Diagnose-Manualen, möglichst nachvollziehbar beschrieben werden (s. Abschnitt 2).

In der Praxis ist die Entscheidung, wann eine Persönlichkeit gestört ist und wann Behandlungsbedürftigkeit vorliegt, dennoch sehr schwierig. Es gibt Grauzonen. Es gibt mehr oder weniger deutliche Ausprägungen (Akzentuierungen) von Persönlichkeitsmerkmalen, die mit mehr oder weniger starkem Leidensdruck einhergehen.

 

Was in starker Ausprägung Leid verursacht, ist in eher verdünnter Form kaum störend und manchmal sogar hilfreich. Was unter bestimmten Umständen Probleme verursacht, ist unter anderen Bedingungen funktional: In ruhigen

Tabelle 1


DurchschnittsmenschenVariationen der PersönlichkeitAkzentuierte PersönlichkeitenAbnorme Persönlichkeiten
Eher hypothetisches Konstrukt. Gibt es ihn doch, dann ist er keine „Persönlichkeit“ im philosophischen Sinne (nämlich respektabel, initiativ, sein Leben in die Hand nehmend usw.).Es gibt z. B. spontane, nachdenkliche, ängstliche, genaue, zurückhaltend-vorsichtige Menschen, die alle als „normal“ zu bezeichnen sind.Sehr ausgeprägte Eigenschaften: z. B. impulsiv (statt spontan), grüblerisch (statt nachdenklich), zwanghaft-übergenau (statt genau), misstrauisch (statt vorsichtig) usw.Sie leiden unter ihren Eigenschaften und/ oder ihre Mitmenschen leiden darunter. Kollision mit ethischen/ rechtlichen Normen und Konventionen kommen häufiger vor.
Heute auch als Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Entsprechende Persönlichkeiten bekommen auch ohne ungünstige äußere Umstände Probleme in verschiedenen Lebensbereichen.

* Z. B. Lütz, M. (2009). Irre – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen – Eine heitere Seelenkunde. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

** Kuhl, J. & Kazén, M. (1997). Persönlichkeits-Stil und Störungs-Inventar (PSSI). Göttingen: Hogrefe

Zeiten, wenn alles seinen gewohnten Gang geht, mag z. B. ein übergenauer (zwanghafter) Mensch sehr gut funktionieren, in den Turbulenzen einer beruflichen Veränderung (z. B. im Zuge einer Verwaltungsreform) verliert er möglicherweise leichter als andere den Boden unter den Füßen. Im Beamtenberuf bewährt er sich womöglich als Meister der exakten Ablage und buchstäblichen Gesetzestreue, als Erzieher im Kindergarten verzettelt er sich bei der Beherrschung des Chaos.

Diese Erkenntnis, dass sich weniger auffällige Persönlichkeiten in bestimmten Zusammenhängen und zu bestimmten Zeiten noch gut bewähren, stärker abweichende Persönlichkeiten bei der Lebensbewältigung jedoch immer wieder oder anhaltend scheitern, dabei leiden oder Leid verursachen, hat innerhalb der kategorialen Persönlichkeitsmodelle zu einer Dimensionierung geführt, die bis heute durchgehalten wird und z. B. in der psychoedukativen Arbeit mit Betroffenen genutzt wird.11, 12

In Tabelle 1 wird beispielhaft die Einteilung des Psychiaters Karl Leonhard dargestellt13, der „Varianten der Persönlichkeit“, „Akzentuierte Persönlichkeiten“ und „Abnorme Persönlichkeiten“ unterscheidet. Heute (unterste Zeile der Tabelle) spricht man meistens von „Persönlichkeitsstilen“ und „Persönlichkeitsstörungen“. Dabei ist entscheidend, dass zwischen den einzelnen Kategorien fließende Übergänge bestehen.

2. Die moderne Klassifikation und Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

Aus dem kurzen Überblick zur Geschichte der Persönlichkeitsmodelle wird bereits deutlich, dass die endgültige Definition einer Persönlichkeitsstörung mit zahlreichen Problemen behaftet ist. Der Begriff ist daher theoretisch immer wieder neu definiert worden, war oft mit Spekulationen und Wertungen verbunden und bleibt bis heute umstritten.14

Da man in einer wissenschaftlich fundierten Medizin und Psychologie klare Kriterien und definierte Prozeduren braucht, um zu einer zuverlässigen, nachvollziehbaren und gültigen Diagnose zu kommen, wendet man heute international einheitliche Klassifikationssysteme an, die anhand eines Kriterienkataloges und eines Algorithmus möglichst genau definieren, wann man allgemein von einer Persönlichkeitsstörung sprechen darf, wie die spezifischen Persönlichkeitsstörungen bezeichnet und woran sie erkannt werden. Man nennt dies auch operationale Diagnostik.

Diese Klassifikationssysteme sind das DSM-IV15 und das ICD-1016. Beide Klassifikationssysteme wollen auf Spekulationen hinsichtlich der Ursache von Persönlichkeitsstörungen verzichten und wollen statt willkürlicher und diffuser Gesamteindrücke konkrete Verhaltensaspekte zur Grundlage des klinischen Urteils machen. Es gibt darin Listen von Erlebensund Verhaltensmerkmalen, die eine bestimmte Persönlichkeitsstörung ausmachen und zwar immer dann, wenn ein definiertes Minimum an Merkmalen beobachtet werden kann.

2.1 Allgemeine diagnostische Kriterien einer Persönlichkeitsstörung

„Eine Persönlichkeitsstörung stellt ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten dar, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, tiefgreifend und unflexibel ist, seinen Beginn in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter hat, im Zeitverlauf stabil ist und zu Leid und Beeinträchtigungen führt.“17

Den betroffenen Menschen fehlen in der Regel grundlegende Fähigkeiten/Kompetenzen18 in verschiedenen Bereichen. Hierzu gehören19:

1. der zwischenmenschliche Umgang (Interaktionsverhalten): Menschen mit Persönlichkeitsstörungen haben oft unbefriedigende, inkonstante oder ganz fehlende Beziehungen zu ihren Mitmenschen. Dies kann darauf zurückzu führen sein, dass sie nicht vertrauen können (z. B. bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung) oder sich zu sehr an andere anklammern, weil ihnen eigenständige Entscheidungen und das Alleinsein schwerfallen (z. B. bei der dependenten Persönlichkeitsstörung). Andere wiederum neigen zur Manipulation ihrer Mitmenschen, weil ihnen das Mitgefühl fehlt (z. B. die antisoziale Persönlichkeitsstörung). Die Beziehungsstörung ist ein so zentrales Merkmal der Persönlichkeitsstörung, dass sie oft als erstes ins Auge springt und mitunter schon aus den Biographien ersichtlich ist. Persönlichkeitsgestörte Menschen haben häufige Beziehungsabbrüche oder hochfrequente Wechsel der beruflichen Anstellungen (sogenannte „Abbruchsbiographien“)20 oder sie leben in hyperstabilen, aber dysfunktionalen Verhältnissen (z. B. in Gewaltehen).

2. die Regulation des Gefühlslebens (Emotionalität): Menschen mit Persönlichkeitsstörungen haben oft überschießende oder kaum kontrollierbare Emotionen und können sich selbst schlecht beruhigen oder trösten (z. B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Andere stehen unter dem Einfluss eines einzigen dominierenden Gefühls, etwa der Angst (bei der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung). Wieder andere wirken distanziert und können Gefühle kaum ausdrücken (schizoide Persönlichkeitsstörung). Schließlich gibt es Persönlichkeiten, die selbst aus sachlichen Themen einen emotionalen Gehalt gewinnen und theatralisch inszenieren können (hysterische Affektgewinnung).

3. die Genauigkeit der Realitätswahrnehmung (soziale Wahrnehmung): Die äußeren Umstände, die Mitmenschen und die Beziehung zu ihnen werden von persönlichkeitsgestörten Menschen oft verzerrt oder falsch wahrgenommen. Diese Perspektive kann dann kaum oder nur mit Mühe korrigiert werden. So werden etwa gut gemeinte Kommentare als verletzende Kritik wahrgenommen (Kritikempfindlichkeit bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen), oder es wird anderen Menschen generell ein feindseliges Motiv unterstellt (paranoide Persönlichkeitsstörungen).

4. die Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung: Es finden sich Betroffene, die ihre eigene Person stark in den Vordergrund rücken, die eigene Besonderheit/Talente hervorheben und damit sehr auf Bewunderung aus sind (histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörungen); andere wiederum stellen ihr Licht generell unter einen Scheffel und zweifeln fortwährend an ihren eigenen Kompetenzen (vermeidend-selbstunsichere und dependente Persönlichkeitsstörungen).