Große Werke der Literatur XIV

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Literaturverzeichnis
Primärliteratur

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Forschungsliteratur

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Zuberbühler, Rolf: Hölderlins Erneuerung der Sprache aus ihren etymologischen Ursprüngen. Berlin 1969.

Wilhelm Müller und Franz Schubert
Winterreise

Jürgen Hillesheim

Die Winterreise ist der wohl bekannteste und einer der bedeutendsten Liederzyklen deutscher Sprache. Die Gedichte stammen vom stark von den Romantikern Clemens Brentano, Achim von Arnim und Novalis beeinflussten Wilhelm Müller (1794–1827), die Vertonungen von Franz Schubert (1797–1828), und es sei vorausgeschickt, dass sich beide, Dichter und Komponist, niemals kennengelernt hatten.

Die Winterreise besteht in der Fassung Schuberts, die diesen Ausführungen zugrunde liegt, aus insgesamt 24 Liedern, die in zwei Abteilungen zu je zwölf Liedern aufgeteilt sind. Schubert hatte die ersten zwölf Gedichte aus dem Almanach Urania – Taschenbuch auf das Jahr 1823, wo sie unter dem Titel „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12 Liedern“ erschienen waren. Schubert behielt die Reihenfolge bei, vertonte die Gedichte – sein Autograph hat das Datum „Februar 1827“ – und hielt damit den Zyklus für vollendet. Müller allerdings hatte zwischenzeitlich weitere Gedichte geschrieben und die Anlage des Zyklus erweitert. „Die Wanderer-Lieder werden nun zu einer imaginären Wanderung durch eine Winternacht […]. Um dieses Konzept zu verwirklichen, mußte Wilhelm Müller die bereits veröffentlichten Gedichte teilweise umstellen“.1

Die Liedfolge in Schuberts „Erster Abtheilung“ ist also identisch mit der in der Urania-Fassung von 1823. Die weiteren zwölf Gedichte der „Zweiten Abtheilung“ vertonte er dann nach der Reihenfolge der Ausgabe von 1824 unter Auslassung der bereits von ihm komponierten Lieder, wobei er einige Umstellungen vornahm. Wohl im Spätsommer 1827 stieß Schubert auf die ihm bis dahin unbekannten Gedichte und schrieb im Oktober seine Musik dazu. Die Winterreise wurde dann in Wien in zwei getrennten Heften publiziert. Das erste erschien am 24. Januar 1828, das zweite sechs Wochen nach Schuberts Tod, am 31. Dezember 1828. Der Titel lautete: Die Winterreise. Von Wilhelm Müller. In Musik gesetzt für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte von Franz Schubert.2

Der Inhalt der Winterreise scheint rasch erzählt: Das lyrische Ich, das wir im Folgenden auch „der Wanderer“ nennen wollen, verlässt im ersten Lied das Haus seiner ehemaligen Braut, um ohne Ziel in der Winternacht umherzuirren. Immer wieder von Retrospektiven unterbrochen, gelangt er zu verschiedenen Stationen, aber auch Reflexionsstufen. Am Ende, im letzten Lied, begegnet er einem Leiermann, der die Option eröffnet, den Wanderer zu begleiten, ihn mitzunehmen auf seinem Weg.

Bis heute beeindruckt das von Pein getriebene lyrische Ich der Winterreise, das auf der Ebene der Realität Liebe und sozialen Status verlor und doch eigentlich Metapher ist für die Entfremdung des Menschen von seinem Ich und der Welt. Es scheint als verdichteten sich im Protagonisten der Winterreise, im Topos des Wanderers, alle Gefühlszustände seiner literarischen Zeit. Bereits in der Frühromantik wurde es zum Ziel, das universale Verhältnis zwischen Subjekt und Welt darzustellen, den Menschen in seinen Beziehungen zu dieser Welt zu erfassen. „Progressive Universalpoesie“ nennt Schlegel dies in seinem 116. Athenäums-Fragment; nicht nur der Einzelne solle in seiner Individualität dargestellt werden, sondern Dichtung „Spiegelbild“ der gesamten Welt, die ihn umgebe, sein. Eine metaphysische Ordnung und ein göttliches Maß sollten sich im Kunstwerk spiegeln. Dieses habe, über seine ästhetische Dimension hinaus, in umgekehrter Richtung auf die Vollkommenheit und Harmonie des Weltengesetzes zu verweisen; das literarische Werk wurde so zu einem Medium der Theodizee. Denn Schlegels „Progressive Universalpoesie“ akzentuiert das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Welt und dessen Abbildung im transzendent ausgerichteten Kunstwerk. Vor dem Hintergrund dieser durchaus idealistischen Utopie3 bedient die Winterreise gewiss auch Identifikationsphantasien des Lesers oder Hörers, von der inneren Zerrissenheit der romantischen „gequälten Seele“ bis zu – retrospektiv gespiegelten – Momenten von Zufriedenheit und des Nahekommens der Natur, Gottes und der Welt wie beispielsweise der „unter dem Lindenbaum“.4 Eine weitere beliebte Leseart der Winterreise ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine politische: Das lyrische Ich wird vor den Hintergrund der gesellschaftlichen Situation des frühen 19. Jahrhunderts verortet. In Identifikation des lyrischen Ichs mit Schubert verweist Harry Goldschmidt auf das Schicksal als ausgebeutetes Genie, das im Wanderer der Winterreise sein grausam-realistisches Spiegelbild fände.5 In dieser Tradition steht auch Wolfgang Hufschmidts Interpretation der Winterreise, der diese in gewisser Weise vor den Horizont einer Dialektik der Aufklärung stellt: Der Winter sei, wie in Heines Wintermärchen, Metapher für die Restauration, in der die Keime einer fortschrittlichen Gesellschaft buchstäblich „erfroren“ seien. So könne die Winterreise aus dem Jahr 1827 und das lyrische Ich durchaus Auskunft geben über die aktuellen politischen Verhältnisse Deutschlands.6 Die Winterreise wird so in marxistischer Tradition unter Hanns Eislers Prämisse, dass Musik „angewandt“7 zu haben sei, gestellt.

 

Müllers und Schuberts Wanderer also, so scheint es, befindet sich inmitten romantischer Befindlichkeit, er ist Leitfigur einer literarischen Epoche oder aber Frontmann und Opfer gesellschaftlicher Strukturen, die sich – zunächst einmal – als immun gegenüber aufklärerischer bzw. revolutionärer Ideale erwiesen. Auf jeden Fall aber ist er im Zentrum des Geschehens. Er gilt als Auge des Zyklus, um das sich das Gesamtgebilde dreht, gleich, ob man ihn literarhistorisch oder politisch konnotiert. Dies scheint auch das Werk Schuberts darüber hinaus noch zu akzentuieren, denn der Wanderer ist nicht nur eines der exponierten Motive der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts, sondern bei Schubert bereits vor dem Zyklus derart präsent, dass dies nicht ausschließlich mit dem Hinweis auf die Epoche hinreichend erklärbar ist.8 Nennen wir, um dies zu verdeutlichen, nur einige Beispiele: die Lieder Der Wanderer (D 493, D 649), Der Wanderer an den Mond (D 870), Wanderers Nachtlied (D 224, D 768). Nicht zuletzt sei auf die berühmte Wanderer-Fantasie in C-Dur für Pianoforte hingewiesen (D 760). Zweifellos also handelt es sich um ein Motiv, das dem Schaffen Schuberts zutiefst eingeschrieben ist.

Auf den ersten Blick poetisch wie musikalisch wesentlich unspektakulärer als das durch die Welt und deren politischen Verhältnisse getriebene lyrische Ich kommt da jener „Leiermann“ daher, obwohl der Liederzyklus auf ihn hinausläuft. Dies sei vorweg genommen: Das Werk gipfelt in ihm, und sei es auch nur, um von ihm in den Mechanismus einer, wenn man so will, frühen, pessimistischen Entwicklungsstufe der Lehre der „ewigen Wiederkunft“ Nietzsches gewiesen zu werden. Nach der Vorgabe seiner Leier vollzieht sich, wie der Hörer am Schluss erkennen sollte, der Zyklus, aber auch das Menschsein. Zwar gebührte dem Leiermann in der Forschung seit jeher eine gewisse Aufmerksamkeit, seine genauere geistige Verortung im frühen 19. Jahrhundert, die seine Bedeutung außer Zweifel stellt, steht jedoch noch aus. Es soll hier gerade nicht um seine Positionierung innerhalb der romantischen Tradition gehen. Betrachtet man nämlich das letzte Lied der Winterreise für sich, ergeben sich erstaunliche Entsprechungen zu prononciert pessimistisch bzw. fatalistisch orientierten Weltsichten und literarischen Werken, die ihren anti-aufklärerischen Impetus mit der Romantik gemeinsam haben, offensichtlich unabhängig voneinander, in großer, geradezu erstaunlicher zeitlicher Nähe zum Liederzyklus entstanden bzw. erstmals veröffentlicht wurden und als Interpretationsgrundlage oder auch nur -hilfe des gesamten Zyklus dienen können: Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, erschienen 1819, und, wenige Jahre nach der Winterreise, das Werk Georg Büchners, fokussiert im Drama Dantons Tod (1834/35). Betrachtet man die Winterreise vom Blickwinkel ihres letzten Liedes, lässt sie sich schlüssig vor dem Horizont dieses Pessimismus deuten, in den sie im Folgenden eingebettet werden soll. Dass dieser poetisch durch höchst romantische Bilder realisiert wird, ist eine der großen Besonderheiten der Winterreise.

Nach Schopenhauer ist der von ihm so genannte „Wille“ das „Ding an sich“, die Antriebskraft, die das Weltprinzip bestimmt. In polemischer Abgrenzung zur Aufklärung und der Philosophie Hegels versteht er jenen „Willen“ als blinde, irrationale Kraft, die Planbarkeit des menschlichen Lebens und der Geschichte, sowie Ideale wie Mündigkeit und intellektuelle Selbstbestimmung als Illusionen – in seiner Diktion als „Vorstellung“ – erscheinen lässt. Den Menschen versteht Schopenhauer als Objektivation des Willens in der Kausalität, im principium individuationis. Lediglich den Kategorien von Zeit und Raum verdankt der Einzelne seinen singulären Charakter.9 Er ist determiniert und hat nur die „Vorstellung“, moralisch, altruistisch handeln zu können und zu wollen, tatsächlich jedoch bringt er in seiner Existenz nichts anderes zur Geltung als den in ihm objektivierten Willen als blinden Lebenstrieb. Dies erscheint als ontologische Gesetzmäßigkeit, der nicht zu entrinnen ist. Bestenfalls bestehe die Möglichkeit, dieses Prinzip zu durchschauen und sich dem „Leben“ als nicht steuerbare Dynamik zu enthalten, um so, asketisch, ein „Quietiv des Willens“10 zu erreichen. Nur so wäre die „Welt als Wille und Vorstellung“ für den Menschen mit dessen Tod, mit der Auflösung der Kategorien von Zeit und Raum, zu Ende; nur so könnte die Hoffnung bestehen, im Nichts zu verharren – Nietzsche nennt Schopenhauer den „Philosophen des Nihilismus“ – und ähnlich der einer aus dem Buddhismus bekannten Wiedergeburt, einer neuerlichen Objektivation des Willens im principium individuationis, zu entgehen und im nunc stans zu verbleiben.11

Machen wir nun von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung einen nur kleinen zeitlichen Sprung von ca. fünfzehn Jahren, um einen Blick auf das Werk Büchners zu werfen. Zwar erscheint im wohl in der zweiten Märzhälfte 1834 entstandenen Hessischen Landboten Gewalt in konkreter Situation offensichtlich als legitimes Instrument politischer Auseinandersetzung; doch kommt Büchner bereits zuvor, Ende Januar 1834, in seinem bekanntesten Brief zu der Erkenntnis, dass die Französische Revolution geprägt von einem „grässlichen Fatalismus“ und die Geschichte ein „ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich“12 sei. Dies ist nichts anderes als eine wohl unwissentliche, dafür aber ausgesprochen präzise Komprimierung der Philosophie Schopenhauers und ein vom Autor vorgegebener Deutungshorizont seines Werkes; obwohl die politisch eher links orientierte Büchner-Forschung niemals müde wurde zu betonen, dass man diese Aussage nicht wörtlich nehmen dürfe und „dieses Schreiben keinesfalls als resignative Absage an revolutionäre Tätigkeiten zu verstehen“13 sei. Doch dagegen wehrte sich der Autor selbst, gewissermaßen antizipierend. Denn Büchner setzte seine Erkenntnis in Szene, vor allem mit Dantons Tod. Der Protagonist, eine der Leitfiguren der Französischen Revolution, der „Geschichte gemacht“ hat, muss erkennen, dass er sich dies nur einbildete, er Opfer von Eitelkeit und Trugschlüssen – um mit Schopenhauer zu sprechen: der „Vorstellung“ – geworden war. Danton bestimmte nicht den Verlauf der Geschichte, sondern sie rollte über ihn hinweg. Dies wird ihm in einem Traum bewusst, in einem Zustand, der die Kausalität aufhebt, in dem die Kategorien von Zeit und Raum ineinanderfließen:

Unter mir keuchte die Erdkugel in ihrem Schwung, ich hatte sie wie ein wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt’ ich in ihrer Mähne und preßt’ ich ihre Rippen […] So ward ich geschleift. (WB 36f.)

Leitmotivartig, in verschiedenen Variationen, macht Danton dann deutlich, dass er die „Welt als Wille und Vorstellung“, das „eherne Gesetz“, nach der sie sich vollzieht, wie es im Fatalismus-Brief heißt, „erkennt“: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen“ (WB 37). „Aber wir sind die armen Musikanten und unsere Körper die Instrumente“ (WB 64). Dies sind Bilder, die nicht neu sind, durchaus auch in der Romantik Verwendung finden; deutlich erinnern sie an die Nachtwachen des Bonaventura.

Dass dies nicht nur die Befindlichkeit eines gescheiterten Revolutionärs, sondern Einsichten in allgemeine Gesetzmäßigkeiten widerspiegelt, zeigt die Komödie Leonce und Lena, nach Wolfgang Martens ein „Reflex auf die Sinnlosigkeit der Existenz“:14 Hier heißt es, in wieder einem anderen Bild, aber genau entsprechend: „Bin ich denn wie die arme, hülflose Quelle, die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muß?“ (WB 103). Der Mensch reagiert auf Kräfte, die er nicht beeinflussen kann; Selbstbestimmung ist eine Chimäre. Was heißt es anderes, wenn Müllers und Schuberts Wanderer sich fragt: „Mein Herz, in diesem Bache erkennst du nun dein Bild“ (SW 138)? Übrigens ist auch Leonce und Lena die Vorstellung des Wanderns durch eine absurde wie ausweglose Welt eingeschrieben:

Soll denn dieser Pack mein Grabstein sein? […] Ich schleppe diesen Pack mit wunden Füßen durch Frost und Sonnenbrand, weil ich abends ein reines Hemd anziehen will und wenn endlich der Abend kommt, so ist meine Stirn gefurcht, meine Wange hohl, mein Auge dunkel und ich habe gerade noch Zeit, mein Hemd anzuziehen, als Totenhemd. (WB 105)

Und weiter: Für „müde Füße“, so resignierend Leonce, sei „jeder Weg zu lang“. Valerio hält dem entgegen, dass er doch den heraus aus der Welt – allerdings gänzlich unromantisch – den ins Irrenhaus nehmen möge. Dieser sei „nicht so lang, er ist leicht zu finden“ (WB 108).

Betrachten wir kurz die „Gegenseite“ in Dantons Tod, die Revolutionäre, konkretisiert in Robespierre: Auch er ist, mit Schopenhauer, Objektivation des Willens im principium individuationis. Als Verkörperung der Moral schlechthin dient sein Tugendrigorismus nichts anderem als der rücksichtslosen Behauptung der eigenen Existenzform, was seinen Höhepunkt in der Beseitigung Dantons findet. Auch Robespierre wird von der Erdkugel geschleift, im Gegensatz zu Danton weiß er es aber nicht. So skizziert Büchner ein Bild von der Revolution als einer Misere: Sie widerlegt ihr Programm, die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, indem sie das Leid der Menschen nicht mindert, sondern potenziert. Bleibt nur die Flucht ins Nichts, in das „Quietiv des Willens“, mit dem sich der melancholische Hedonist Danton in seinem Leben allerdings ein wenig schwer tat. Dennoch sehnt er sich nach Ruhe, nach einem Ende, und er fürchtet, dass der Schnitt der Guillotine dieses nicht bringen wird. Denn alles ist „Wille“, alles „elan vital“: „Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet […] Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere organisierte Fäulnis“ (WB 55). Möglicherweise geht also weder Dantons noch Lenas Wunsch in Erfüllung: „Auf dem Kirchhof will ich liegen / Wie ein Kindlein in der Wiegen“ (WB 103),15 geborgen im nunc stans, befreit von allen Leiden des principium individuationis, sondern abermals als Willen objektiviert.

Dies sind Analogien, die die Forschung immer wieder bewogen, Büchners Werk pauschal mit Schopenhauers Pessimismus in Verbindung zu bringen, vor allem nach dem Naturalismus16 und in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts.17 Exemplarisch sei hingewiesen auf Maurice Benn, der Leonce und Lena als „abgrundtief pessimistisches“ Werk betrachtet, das an Schopenhauer erinnere.18

Begleiten wir also vor diesem Hintergrund Wilhelm Müllers und Franz Schuberts Wanderer. Die Winterreise wird nicht selten und sehr mit Recht als Fortsetzung der Schönen Müllerin betrachtet, gleichfalls ein ca. vier Jahre zuvor entstandener Liederzyklus Schuberts auf der Basis von Gedichten Müllers. Dessen lyrisches Ich, das Gülke in seiner poetisch-romantischen Stimmung explizit von der Knappheit und Nüchternheit des Wanderers abhebt,19 erobert frohgemut die Welt, und auch die „geliebte Müllerin“ scheint ihm zunächst gewogen. Dann allerdings folgt die Ernüchterung, Abweisung, Konkurrenz durch den Jäger, schließlich der Selbstmord im Bach; doch nach wie vor ist der junge Müller aufgehoben in der Natur: der Bach, sein bester Freund, behütet den nun ewig Schlafenden. Der Wanderer der Winterreise nun sieht sich einer gänzlich neuen Realität gegenüber. Aus Frühling und Sommer mit seinen strotzenden, überbordenden Lebenskräften, der Sphäre der Schönen Müllerin, ist bitterkalter und -ernster Winter geworden. Warum vertonte Schubert gerade diese Texte Wilhelm Müllers? Diese Frage wird sich, wenn überhaupt, nicht mit wenigen Zeilen beantworten lassen, gewiss jedoch spielte dabei die Ironie des Autors, die in Trostlosigkeit münde, eine wesentliche Rolle.20 Diese Ironie zeigt sich bereits vor dem Anfang des Zyklus, nämlich schon im Titel seines ersten Liedes: „Gute Nacht“ heißt es. Gewiss, dieser Gruß, den der scheidende Wanderer an die ehemalige Braut richtet, ist Bestandteil des Liedtextes und insofern formal geeignet, titelgebend zu werden; aber inhaltlich geht es darum nicht, sondern um das Vertriebenwerden eines Menschen aus seinem vermeintlichen emotionalen und sozialen Gefüge. Schließlich spielte nicht nur Liebe eine Rolle, sondern die potenzielle Schwiegermutter sprach „gar von Eh’“ (SW 110). Nun wird das lyrische Ich, eher ein Habenichts als wohl situiert, aus, wie es im zweiten Lied heißt, seines „Liebchens Haus“ (SW 115) getrieben; explizit handelt es sich um eine „reiche Braut“.(SW 116). „Gute Nacht“ also ist, vom Aspekt des lyrischen Ichs betrachtet, selbstreferenziell gemeint; es ist das ironische valet, das es sich selbst gibt, in Einsamkeit, Kälte und wirtschaftliche Bedürftigkeit, die unmittelbar bevorstehen. Des Wanderers Nacht, „seine“ Nacht, in die er hinaus muss, ist nicht die romantische: Er wird nicht entlassen in Wogendes, Schwebendes, in nebelumhüllte Landschaften, die an Caspar David Friedrich erinnern, auch nicht in geheimnisvolle Schlossruinen, sondern, sehr gegenständlich, in karge und öde Winterlandschaft, deren Abschreiten ihm Wunden zufügt, und bestenfalls in die Ärmlichkeit von „eines Köhlers engem Haus“ führt (SW 148f.). Diese Nacht hat auch wenig mit der Ernst August Friedrich Klingemanns zu tun, obwohl der Nihilismus seiner 1804 erschienenen Nachtwachen in mancherlei Hinsicht Aspekte der Philosophie Schopenhauers antizipieren und der Befindlichkeit des Wanderers und der „Lehre“, die der Leiermann am Schluss erteilen wird, recht nahe kommen mag. Doch nicht einmal der Friedhof hat in der Winterreise etwas Schauerliches, er atmet keine „schwarz-romantische Atmosphäre“, sondern wird wieder verlassen, weil er schlicht „besetzt“ (SW 183) ist.

 

Es ist nicht die Nacht Novalis’ oder Eichendorffs „Mondnacht“, nicht zuletzt konnotiert als überhöhter Topos der Liebe, der später, im zweiten Akt von Wagners (übrigens gleichfalls von Schopenhauer genährter) Oper Tristan und Isolde einen seiner großen Triumphe feiern wird, sondern des Wanderers Nacht ist geradezu von ihr befreit: Liebe existiert nur noch in der Erinnerung, in der wehmütigen Reminiszenz, nicht einmal mehr als Sehnsucht. Zwar fragt sich das „lyrische Ich“ im Lied Die Post, wie es wohl der ehemals Geliebten gehen werde, doch die Wanderschaft ist nicht darauf ausgerichtet, sie zurück zu gewinnen – „vergebens“ sucht er nicht sie, sondern lediglich „ihrer Tritte Spur“ (SW 120). Er möchte nicht rückwärts gehn, sondern lediglich „noch einmal rückwärts sehn“, „vor ihrem Hause stille stehn“ (SW 144), trotz gelegentlicher emotionaler Rückfälle nichts weiter also als in der Erinnerung an seine Vergangenheit verharren. Nur nach einem Traum, noch schlaftrunken, in entrücktem, realitätsfernen Zustand stellt er sich noch einmal die Frage: „Wann halt ich mein Liebchen im Arm?“ (SW 154). Auch ist er weit davon entfernt, eine neue Braut erobern zu wollen. Der Wanderer weiß es wohl nicht; aber damit befindet er sich in erstaunlicher Nähe zu Schopenhauers Willens-Quietiv, der Einsicht, dass es nicht das oberste Ziel des Menschen sei, Glück zu erstreben, sondern Leid zu vermeiden.

Dies führt zwangsläufig zu der Frage: Verlor das lyrische Ich überhaupt seine Heimat? „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ (SW 110) eröffnet das erste Lied und damit der Zyklus. Das sagt niemand, der überraschend von seiner Braut und deren Mutter vor die Tür gesetzt wird. Und dies passiert ja auch nicht, die Tragik entsteht sukzessiv; es muss nichts Aufsehenerregendes geschehen sein. Der Aufbruch des lyrischen Ichs ist das Ergebnis einer allmählich gewonnenen Erkenntnis oder auch nur Wahrnehmung, die nun dazu führt, dass es sich heimlich des Nachts wegschleicht, bevor ihm tatsächlich die Türe gewiesen wird. Nochmals kurz zur Schönen Müllerin: Inmitten deren frühlingshaften Idylls hat sich allmählich buchstäblich ein Entfremdungsprozess vollzogen, diesen setzt das erste Lied der Winterreise voraus: Fremd, als Unbekannter zog der Wanderer ein, und ein solcher blieb er bis jetzt. Das ist ihm klar geworden. Wir erfahren nicht, ob überhaupt etwas konkret vorgefallen ist; fest steht, dass sich nichts geändert hat, alles Himmelhochjauchzende, zwischenzeitliche Glücks- und Geborgenheitsgefühle oder gar der Habitus des Hausherrn, der ihm zuzukommen schien, Illusion waren. Der Wanderer erkennt, dass er niemals eine Heimat hatte, daraus zieht er nun die Konsequenz. Dies ist der Punkt, an dem deutlich wird, dass abstrahiert wird, dass es nicht um die lyrische Aufarbeitung einer eigentlich doch banalen Liebschaft, sondern tatsächlich um die Fokussierung des Menschen in der Welt geht, die nun als eine kalte erscheint, in die er ausgesetzt ist. Gunzelin Schmid Noerr betont, dass der Verlust der Geliebten zu Beginn nur ein angedeuteter Grund für die Wanderschaft sei; dieser trete immer mehr in den Hintergrund, zugunsten eines „eigendynamisch wirkenden Getriebenseins“.21 Dieses nimmt das lyrische Ich zwar wahr, es kann es sich aber vorerst nicht erklären. Von Beginn an erscheint die Wanderschaft, die nun begonnen wird, als eine solche ohne Ziel. Damit korrespondiert, dass die Musik bereits in den ersten Takten den Charakter des Abschließenden, in sich Kreisenden habe.22 Sie kommentiert, dass Fremdheit das Alpha und das Omega, des Müllerburschen anfänglicher Zukunftsoptimismus und seine Unmittelbarkeit und Welthingewandtheit, der Mut, die Sicherheit, seine Angelegenheiten so zu regeln, dass sie ein glückliches Ende haben könnten Resultat eines, wie es später in der Winterreise heißen wird, „lockenden Irrlichtes“ (SW 145) sind. Noerr resummiert:

Die Möglichkeit subjektiver Verfügung scheint suspendiert zugunsten eines unabänderlichen objektiven Ablaufs. Das subjektive Erleben wird gleichsam eingefroren angesichts des objektiven Lebens, dessen Ziel der Tod ist und als dessen Teil es sich erkennt.23

So bereitet „Gute Nacht“ dem „Leiermann“ den Boden. Nach diesem ersten Lied der Winterreise folgen bis zu ihm zweiundzwanzig weitere, die die Gattungskonstituenten eines Zyklus sprengen, wendet man formal Strenge an. Trotz des fast permanenten stringenten Rekurrierens auf den Anfang hat keineswegs jedes Gedicht im Gesamtgefüge seinen festen Platz, wie man es beispielsweise bei den lyrischen Zyklen Stefan Georges erwartet. Im Gegenteil: Zwar wird im Groben eine Linie eingehalten und beschrieben, die des Wanderers weg aus dem Hause der Geliebten bis „hinterm Dorfe“ (SW 189), zum Leiermann. Doch die Stationen, die der Wanderer bis dahin abzugehen hat, erscheinen gelegentlich durchaus austauschbar, was dem Gesamtgebilde den Charakter des Unruhigen, Unsteten verleiht, der sich wiederum harmonisch in das Ganze fügt, indem er es kommentiert. Geradezu sprunghaft, für den Leser oder Hörer völlig überraschend, wechselt der Wanderer vielfach von einem Lied zum anderen seine Stimmung, oft ist es so, dass ein Lied dem vorausgehenden, von deprimierter Stimmung geprägten widerspricht, um dann im darauf folgenden, wieder in die Lethargie und Despression von einst zurückzufallen. Gelegentlich erscheint die Winterreise eher als ein Thema mit Variationen als ein Zyklus: Das mag man mit dem romantischen Bestreben nach Überwindung strenger, klassischer Formen in Einklang bringen können; in dieser Hinsicht sei abermals an Klingemanns Nachtwachen und deren Fragmentarisches, so der erste Leseeindruck, erinnert. Die Erfahrung der Verlorenheit, die der Wanderer zu Beginn machte, wird nun, schlaglichtartig, aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, seine Psyche wird ausgeleuchtet, auf seinem Weg erscheinen retardierende Momente, solche der Hoffnung und der Zuversicht, die dann, wie die folgenden Lieder in Regelmäßigkeit zeigen, wieder vergehen: so, wie in „Täuschung“, das „Haus und eine liebe Seele drin“ von „Irrlichtern“ gezeitigt war (SW 177).