Gottes Sehnsucht in der Stadt

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Katholische Anfänge: den Blick weiten

Die Anfänge unseres Projektes sind ökumenisch. Auf einem Kongress der evangelischen Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste (AMD) in Leipzig begegnet uns Katholiken Stephen Cottrell – ein anglikanischer Bischof, der uns den Emmauskurs vorstellt. Und schon damals wird deutlich, dass es hier gar nicht nur um einen weiteren unter den vielen guten neuen Glaubenskursen geht. Nein, hier wurde weitergedacht: ein Glaubenskurs zum Evangelisieren, ein Glaubenskurs im Blick auf die Menschen, die „frisch“ zum Glauben kommen, provoziert die Frage nach einer neuen Kirchengestalt. Denn eines ist klar, so hören wir aus England: Glaubenskurse eignen sich nicht dafür, Menschen in bisherige Sozialgestalten des Kircheseins zu integrieren. Denn jede Sozialgestalt – und auch die klassische Gemeinde gehört dazu – hat ihren eigenen ekklesiogenen Code: so wie jemand sein Christsein entdeckt, so wird er auch sein Kirchesein entfalten. Eigentlich ganz logisch, aber provozierend: denn es verlangt eine Umkehr von einer lang erlebten Wirklichkeit, war doch Integration in das Bestehende und eine nachhaltige Kontinuitätsfiktion das prägende innere Bild vergangener gemeindetheologischer Jahrzehnte (und beeinflusst bis heute Kritik und Gegenkritik sowohl Progressiver wie Konservativer – wenn es die überhaupt so noch gibt).

Die Anfänge sind ökumenisch. Mit Bischof John Finney trafen wir zusammen, weil das Interesse am Emmauskurs und seinen ekklesiogenen Implikationen uns neugierig machte. Wir trafen auf ein Team, und Felicity Lawson und John Finney lebten deutlich vor, dass das Miteinander gestalten von Kirchenaufbruchsprozessen sich schon abbildet im Zueinander der Protagonisten. Humor, Spiritualität, Vielfältigkeit und Einheit – und faszinierende Inspiration, das kennzeichnet viele Protagonisten dieses Aufbruchs. Das macht nicht nur sprachlos, sondern weckt die Neugierde auf mehr. So durften wir Finney auch in unserem katholischen Kontext einführen – denn hinter dem Glaubenskurs und seinem partizipativen Ansatz steht auch eine Kultur des Kircheseins und Kirchewerdens, die in uns die Leidenschaft für die Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils weckte. Und: der Weg nach England öffnete sich. Hatten die Anglikaner durch ihre evangelisierende Pastoral und ihre erfolgreichen Glaubenskurse den Weg zu neuen Formen der Gemeindebildung gefunden, könnten wir doch von ihnen lernen. Denn die Auflösungserscheinungen milieuhafter Volkskirche fordern den Mut, nach „fresh expressions of church“ Ausschau zu halten …

Die Anfänge sind noch weiter ökumenisch. Schon vor fast 10 Jahren fanden wir – aus dem Fachbereich Verkündigung – uns bei Leitungskongressen der freikirchlichen Willow Creek Association. Trotz aller Warnungen vor Sektengefahr erlebten wir hier etwas, was uns bleibend prägte. Eine tiefe gemeinsame biblische Spiritualität, die gepaart war mit einer Achtung für die jeweilige eigene kirchliche Tradition; eine missionarische Leidenschaft für die Menschen, die Christus noch nicht entdeckt haben, und einen Mut, sich auf diese Menschen einzulassen und mit ihnen gemeinsam das Evangelium zu entdecken und zu leben; eine Kreativität und experimentellen Mut, Kirche dort wachsen zu lassen, wo sie bisher nicht vermutet wird – und in Formen, die zunächst einmal merkwürdig anmuten. Die angloamerikanische Mischung von Pragmatismus, Christusverbundenheit und experimenteller Christusnachfolge sind einfach inspirierend.

Rückkehr nach Deutschland

Das Risiko solcher weltkirchlichen Ökumene ist das Ausbremsen solcher Impulse und das Verglühen des Idealismus an institutioneller Skepsis und Bestandswahrung: „das geht hier nicht, das passt nicht – und wir sind sowieso anders …“, das sind hilfreiche immunisierende Wendungen im Blick auf die Sehnsucht nach Selbsterhalt.

Aber dann wurden wir wieder überrascht: an der evangelischen Fakultät von Greifswald kamen wir mit Professor Michael Herbst in Kontakt. Eine Freundschaft und Gemeinschaft im Geiste entwickelte sich schnell, denn die Anliegen und die spirituelle Verwurzelung verbanden uns. Und so entdeckten wir, dass sich gerade im Blick auf die Frage nach Evangelisierung und Missionarische Pastoral und ihre Konsequenzen eine ökumenische Konsonanz ergibt, die ohne Konkurrenz, sondern in gegenseitiger Achtung und geistlicher Verbundenheit ein gemeinsames Suchen nach neuen Wegen ermöglicht. Uns ging immer mehr auf: Ökumene ist gerade im Bereich der missionarischen und evangelisierenden Bemühungen kein Kann, kein Darf, sondern ein Muss: wir beschenken uns wechselseitig, wir inspirieren einander, wir evaluieren miteinander – wir lernen miteinander in dem gemeinsamen Anliegen, dem Evangelium, Jesus Christus einen Raum zu öffnen.

Und dies gilt besonders für unsere Zusammenarbeit mit dem Haus Kirchlicher Dienste der Landeskirche Hannover. Im Laufe der vergangenen Jahre verdichteten sich die Kontakte und schufen eine erstaunliche, frohmachende und fruchtbare missionarische Ökumene, deren schriftliche Erstfrucht hier vorliegt.

Mit Kollegen wie Burkhard Merhof, Philipp Elhaus, Martin Römer, Hans Christian Brandy, Dirk Stelter und Andreas Risse verbindet uns die gemeinsame Sehnsucht nach einer missionarischen Kirche. Was ganz einfach anfing mit regelmäßigen Treffen zum Thema Hauskreise und Kleiner Christlicher Gemeinschaften, mit gemeinsamem Nachdenken über Glaubenskurse, mündete ein in gemeinsame Fahrten nach England – und zu Projekten gemeinsamer Kongresse zum Thema einer Kirche, die kommt. Wenn im Februar 2013 der geplante Großkongress „Kirche 2.0“ in Hannover stattfinden wird, dann ist das nicht eine punktuelle Aktion, sondern das Ergebnis ökumenischer Konvivenz und Konvergenz, spiritueller Suche und visionärer Gemeinschaft.

Es begann auf unserer Seite mit dem Projekt „Kirche für Suchende – Evangelisation auf katholisch“: Minikundschafterfahrten nach Braunschweig zur Friedenskirche, zur Freien Evangelischen Gemeinde in Hildesheim und zum Expowal nach Hannover mündeten ein in einen Studientag mit Michael Herbst.

So entstand in den Gesprächen mit unseren evangelischen Brüdern und Kollegen die Idee einer gemeinsamen ökumenischen Reise nach London, um „fresh expressions of church“ zu studieren.

Evangelische Anfänge – Gottes Sehnsucht nach den Menschen

In den letzten 20 Jahren haben sich gesellschaftliche Umbrüche zunehmend auf die Kirche ausgewirkt und unterschiedliche Spuren hinterlassen. Der christliche Glaube ist angesichts der Vielfalt von Lebensoptionen und religiösen Überzeugungen nur eine Möglichkeit unter anderen. Kirche ist in Konkurrenz geraten. Die Bindekraft der kirchlichen Institution nimmt ab. Individualisierung und Pluralisierung führen zu einer Verschiebung von kulturgestützten zu personalgestützten Formen des Christentums. Glaube wird immer weniger generativ im Rahmen geschlossener konfessioneller Milieus weitergegeben, sondern biografisch angeeignet. Die Muster der Kirchenzugehörigkeit verwandeln sich zunehmend vom Erbe zum Angebot. Die Regie im Verhalten zu Kirche und Gemeinde liegt längst bei den einzelnen Menschen und wird nur durch weiche soziale Faktoren begleitet.

Die Wiedervereinigung hat die westlichen Bundesländer mit Konfessionslosigkeit – oder besser gesagt Konfessionsfreiheit als Normalstatus und einer Minderheitssituation konfrontiert, die sich langfristig als gemeinsame kirchliche Zukunft am Horizont abzeichnet. Die Milieuforschung macht darauf aufmerksam, dass Gemeinden mit ihren Angeboten nur einen geringen Teil der unterschiedlichen Lebensstilgruppen der Gesellschaft erreichen.

Der wachsenden Unkenntnis gegenüber Glaubenswissen und dem praktischen Atheismus in der Gesellschaft steht eine neue Sehnsucht nach Spiritualität gegenüber, die sogar an Kirchentüren klopft. Offene Kirchen werden verstärkt aufgesucht, Pilgern boomt.

Diese holzschnittartigen gesellschaftlichen Umbrüche und ihre kulturellen Auswirkungen führten in evangelischer wie katholischer Kirche zu Rückfragen nach Wesen und Auftrag der Kirche. Der Begriff der Mission wurde wiederentdeckt. Fristete er in den evangelischen Kirchen bis Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eher ein Randdasein als Adjektiv im „missionarischen“ Gemeindeaufbau, so wurde er nun vom Streit- zum kirchlichen Leitbegriff. „Die evangelische Kirche setzt das Glaubensthema und den missionarischen Auftrag an die erste Stelle … Weitergabe des Glaubens und Wachstum der Gemeinden sind unsere vordringlichen Aufgaben“, heißt es in der Kundgebung der EKD-Synode Leipzig 1999. Ausgehend von der Einsicht, dass Gott selbst ein missionarischer Gott ist (missio Dei), wird Mission eine gemeinsame Zukunftsaufgabe und ein Querschnittsthema kirchlicher Arbeit. Mit „Zeit zur Aussaat“ legte die katholische Bischofskonferenz ein Jahr später eine Anregung zu einer missionarischen Pastoral vor, die eine große Schnittmenge mit evangelischen Erklärungen aufwies. Das Wort „Mission“ wurde in beiden Kirchen wieder salonfähig. Wegen des Schwundes an Kirchenmitgliedern, argwöhnten die einen. Aus geistlich-theologischer Erkenntnis, meinten die anderen: Was lebt, will wachsen. Wer liebt, will teilen und weitergeben. Dies gilt primär für den Ursprung und das Ziel von Mission: Gott hat Sehnsucht nach seinen Menschen – und diese Sehnsucht sucht die ganze Schöpfung in das Lob der Herrlichkeit Gottes einzubinden. Kirche hat nicht nur eine Mission, Kirche ist Mission. Das so verstandene Wesen der Kirche ist nicht konfessionell teilbar. Eine missionarische Kirche ist nur als ökumenische Vision zu beschreiben.

Mission als Herzschlag der Kirche

In den Strom der neuen missionarischen Bemühungen innerhalb der evangelischen Landeskirchen münden unterschiedliche Einflüsse von missionarischem Gemeindeaufbau mit Zweitgottesdiensten, Glaubenskursen und Hauskreisen, die wiederum durch Impulse aus Amerika und England bereichert wurden bis hin zu kirchlicher Reformbewegung mit Ladenkirche und Zielgruppenveranstaltungen. Ganz bei Gott und ganz bei den Menschen – so lautete das Motto. Pluralität der Formen wurde zum Programm. Dem Christus im Singular entspricht eine Mission im Plural. Rückblickend auf das vergangene Jahrzehnt sagte Altbischof Wolfgang Huber, ehemaliger Vorsitzender des Rates der EKD Ende September 2009: „Die Verbesserung der Kirche als Organisation hat ihr Gewicht. Strukturmaßnahmen und Ressourcenmanagement mögen Entlastungen und Verbesserungen bewirken; aber eine Erweckungsbewegung entsteht daraus nicht. Strategische Entscheidungen und operative Initiativen haben einen hohen Nutzen; aber sie treffen noch nicht den Kern. Ihm nähern wir uns an, wenn wir den Lebensrhythmus der Kirche von der Liebe Gottes zu den Menschen bestimmen lassen. Deshalb bildet die Hinwendung zu den Menschen, also die Mission den Herzschlag der Kirche. Dann aber hat eine Kirche, die missionsvergessen ist, Herzrhythmusstörungen – wie Eberhard Jüngel 1999 auf der Missionssynode in Leipzig gesagt hat. Auch nach zehn Jahren haben wir diese Herzrhythmusstörungen noch keineswegs überwunden. Gottes Wort ist nicht gebunden; deshalb haben wir das Unsere zu tun, damit es die Menschen erreicht.“2

 

Im Westen was Neues?

Auf der Suche nach inspirierenden Erfahrungen machten sich engagierte Christen aus zahlreichen evangelischen Landeskirchen auf den Weg über den Ärmelkanal. Denn dort hatte sich seit den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine missionarische Aufbruchsbewegung ereignet, die nicht nur zur Belebung ortsgemeindlichen Lebens, sondern auch zur Gründung neuer gemeindlicher Formen führte. Finanzkrise – „Money talks“, meinte John Finney dazu – und eine massive Relevanzkrise in einer säkularisierten Gesellschaft hatten diese Reaktion provoziert, die über Gemeindeneugründungen („church planting“), eine Dekade zur Evangelisierung bis hin zu den fresh expressions of church reicht, deren kirchliche Gestalt oft noch im Werden ist. Gemeinsam ist diesen vielfältigen Initiativen ein Paradigma, das die englische Programmschrift „Mission shaped church“ 2006 so formulierte: „Starte mit der Kirche, und die Mission wird verloren gehen. Starte mit der Mission – und du wirst die Kirche finden.“ Nicht kirchliche Bestandswahrung, sondern Gottes Sehnsucht nach den Menschen wurde zum Leitmotiv intensiver kirchlicher Reformbemühungen. Spirituelle Ausstrahlung, nüchterne Analyse, risikofreudige Experimente und vielfältige Formen beeindruckten die deutschen Besucherinnen und Besucher. Der Funken sprang über.

Doch so begeistert die Englandtouristen auch zurückkehrten, auf deutschem Boden wollten die Samen der neuen Gemeindeideen keine tiefen Wurzeln schlagen. Die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste (AMD) sammelte Erfahrungen mit Pilotprojekten und stellte bei allen ermutigenden Erfahrungen nüchtern die Grenzen fest. Es fehlt der Humus einer missionarischen Kultur, die von geteiltem Leben und Christuszeugnis auf Augenhöhe geprägt ist. Unter dem Bodendecker der flächendeckenden Versorgung und der pfarramtliche Zuständigkeiten können sich neue Gemeindeformen mit ihrem unklaren kirchenrechtlichen und finanziellen Status nur schwer entfalten. Hauptamtliche zeichnen sich eher durch eine Siedler-, denn durch eine Pioniermentalität aus, die mutig und risikobereit Grenzen überschreitet und auch im Neuland aussät.

Mit anderen Augen sehen – eine ökumenische Vision

In dieser Situation lernten wir die Geschwister aus dem Bistum Hildesheim kennen: Christian Hennecke, Matthias Kaune, Annette Reus und Gregor Wessels – und kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wo wir noch mit der Revierförstermentalität von Ortsgemeinden kämpften, dachte man dort längst in pastoralen Räumen. Wo wir die Zukunftsfähigkeit von Regionalisierungsprozessen mühsam zwischen Kröte und Märchenprinz lokalisierten, entdeckte man dort bereits die sozialräumliche Verortung von Nachbarschaftskirche neu. Wo wir mit Qualitäts- und Freiwilligenmanagement die Formen und Abläufe verbesserten, rief man dort auch die inhaltlichen Bestimmungen wie Berufung und Auftrag stärker ins Gedächtnis. Mit einem provokanten Bild gesprochen: wo wir noch einen Schritt vor dem Abgrund standen, war man dort den berühmt-berüchtigten Schritt weiter und flog bereits – zumindest manchmal, wie man uns ehrlich im Blick auf die Krisenszenarien zu verstehen gab.

Im Spiegel der konfessionell anders geprägten Perspektive entdeckten wir die eigene kirchliche Wirklichkeit neu. Wir erfuhren ein „Reframing“ der besonderen Art durch einen katholischen Rahmen, der sich offensichtlich ähnlich auch auf katholischer Seite im Spiegel unserer evangelischen Wahrnehmung vollzog. Auf diese Weise fielen noch einmal ganz neue Blicke auf die Situation des kirchlichen Wandels und formierten ein verheißungsvolles neues, ökumenisches Bild. Alte kirchliche Bilder und theologische Sprachspiele kamen in Fluss, zwischen sich scheinbar ausschließenden Alternativen taten sich neue Möglichkeiten auf, an die unterschiedliche Frömmigkeitsstile und theologische Ansätze andocken konnten. Jenseits der unterschiedlichen Begrifflichkeit und Frömmigkeitstraditionen stellte sich jener gemeinsame Herzschlag ein, der Kirche als Mission prägt. Dass wir mit der anglikanischen Kirche in England einen dritten Ort als gemeinsames Lernfeld wählten, liegt in der Konsequenz des ökumenischen Ansatzes.

Das Projekt „Soul side Linden“ in Hannover

Es ist erstaunlich. Mit dem Reifen dieser Ideen und dieser ökumenischen Visionsgemeinschaft öffnete sich ein katholischer Kairòs: es wurde möglich, in hohem Konsens mit allen Beteiligten eine Projektstelle für ein innovatives Projekt in Hannover-Linden zu schaffen. Dass das Experiment einer „Kirche für Suchende“ – so der „schräge“ Projekttitel – so viel positive Fantasie weckt, macht die Dringlichkeit für solche Aufbrüche deutlich. Evangelisierung begibt sich auf neue Wege.

Denn die vergangenen zwei Jahre lassen eine erstaunliche Wende erkennen. Wenn auf der einen Seite der Missbrauchsskandal innerhalb der katholischen Kirche zum einen deutlich machte, dass der Verlust der Glaubwürdigkeit die schleichende Auflösung einer klassischen Kirchenkonfiguration immens beschleunigt, wird zugleich ein wachsendes Interesse an kirchlichen Aufbrüchen und Experimenten deutlich: was bislang eher Exoten und spirituellen Charismatikern in geduldeten Randgebieten kirchlicher Normalität vorbehalten war, rückt in den Fokus des Interesses: wie kann Kirche ohne die bisher für selbstverständlich gedachten Prämissen gegebener Volkskirchlichkeit wachsen?

Im katholischen Bereich werden an dieser Stelle die Charismen und Orden neu in den Blick rücken, wie auch die im deutschsprachigen Bereich bislang problematisch empfundenen geistlichen Gemeinschaften und kirchlichen Bewegungen. In evangelischer Perspektive gilt es, sowohl die Bewegungen und freien Werke innerhalb der Kirche als auch unterschiedliche Netzwerke wahrzunehmen, die sich um kategoriale Arbeitsbereiche wie z. B. das Frauenwerk bilden. Die Frage nach der notwendigen Erneuerung der kirchlichen Landschaft ist gewiss ein pneumatisch-charismatischer Prozess, der hoffentlich durch die Strukturmaßnahmen deutscher Bistümer ermöglicht und nicht verhindert wird. In der Tat: Nebenwirkungen der größeren pastoralen Räume könnte die Ermöglichung einer größeren Vielfalt kirchlicher Sozialgestalten sein – und eine Kultur des Kircheseins, die sowohl die katechumenale Gestalt kirchlicher Orte wie auch die Taufberufung und das mit ihr verknüpfte gemeinsame Priestertum der Gläubigen neu in den Fokus rückt. Dies ist auch eine verheißungsvolle Perspektive für evangelische Regionalisierungsprozesse, wenn sie die entsprechenden Umstrukturierungen in religionssoziologischer und theologischer Perspektive begreifen.

Soul Side Linden – das Experiment in Hannover-Linden lebt durch seine Protagonisten. Mit der Leidenschaft und Energie von Annette Reus und ihrer Mitstreiterinnen – viele Namen wären hier zu nennen – entstanden Erfahrungsräume und erste Werkstücke einer Kirchengestalt, die tatsächlich erst anfänglich sind: „Seht ich schaffe neues, schon sprosst es auf – merkt ihr es nicht“, so fragt Jahwe durch den Propheten Jesaja (vgl Jes 43,18 f). In der Tat: man muss nicht, aber man kann erkennen, wie Gemeinde sich bildet und wie Kirche ein neues Antlitz gewinnt. Eine Kirche, die präkonfessionell zu nennen ist, eine Kirche, die sich im Stadtteil inkulturiert, eine Gemeindeform, die koexistiert mit der klassischen Gemeindegestalt – viele Fragen, anstrengendes und begeisterndes Abenteuer des Geistes.

Kirche neu entdecken und denken

Nicht nur Neugier und vielerlei Fragen löst dieses kleine anfängliche Projekt in Hannover aus, sondern auch eine massive theologische Herausforderung. Der Start dieses Projektes fiel zusammen mit den intensiven Vorbereitungen zur ersten Londonreise, die wir gemeinsam mit unseren evangelischen Mitstreitern im Herbst 2009 unternehmen wollten. Diese theologischen Fragen standen im Mittelpunkt der beiden Studientage, die im Januar 2009 und im Frühjahr 2010 die Reise umrahmten. Die Beiträge von Bischof Finney, Professor Gerhard Wegner, Volker Roschke und Professor Medard Kehl versuchten, die weiße Landkarte wenigstens von ihren theologischen, soziologischen und praktischen Eckfahnen zu beschreiben – die Erfahrungen aus England kolorieren und präzisieren das unbekannte und verheißungsvolle Land der Evangelisierung.

Immer deutlicher wird aber, dass diese Aufbruchsbewegung zu einem neuen Hinschauen auf die geistvolle Kirchenentwicklung jenseits der alle Aufmerksamkeit raubenden Umstrukturierung der deutschen Kirche führt.

Denn auf einmal wird deutlich, dass wir uns schon mitten in einem massiven Umformatierungsprozess befinden, und dass die Erfahrungen mit eigenen Projekten wie Soul Side Linden und der Blick auf anglikanische Aufbrüche in London und „elsewhere“ neu sehen lässt, wie Kirche sich hierzulande entwickelt und dabei die eigene Ekklesiologie in ein neues Licht rückt. Das ist die eigentliche Pointe der eigenen Bemühungen um ein neues – deutsches – Antlitz der Kirche: vieles ist schon unbemerkt da – und Ekklesiologie wird plötzlich zu einem erregenden Abenteuer: endlich nämlich wird nicht nur theoretisch eingeholt und wiederholt, was eine vergangene Gemeindetheologie sein sollte und nicht mehr ist – schon gar nicht normativ, endlich wird gelebte Spiritualität und Ekklesiopraxis zum Ausgangspunkt einer Ekklesiologie, und endlich wird die prophetische Dimension nicht rezipierter konziliarer Ekklesiologie erfahrbar, greifbar und formulierbar sowie das Gestaltungspotential der grundlegenden evangelischen Bekenntnistexte für unterschiedliche soziale Formen von Gemeinde ausgeschöpft.

Aus der theologischen Perspektive konziliarer Ekklesiologie gilt ja: wenn Lumen Gentium 1 davon spricht, dass die Kirche in Christus „gleichsam Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug der Einheit Gottes mit der Menschheit und der Menschen untereinander ist“, dann ist im Blick auf eine existenzielle Wendung dieser Ekklesiologie zu sagen, dass Kirche dann erfahrungsorientiert und praktisch überall dort erfahrbar wird, wo dies geschieht. Aus evangelischer Sicht ist hinzuzufügen: Da die Confessio Augustana das Wesen und die Identität der Kirche an den grundlegenden Vollzügen von Evangeliumsverkündigung und Sakramentsverwaltung festmacht (CA 7), bietet dieses weite ökumenische Kirchenverständnis einen entsprechenden hermeneutischen Rahmen für unterschiedliche soziale und liturgische Formate, in denen sich Kirche ereignet. Den ekklesiologischen Status solcher Kirchenwirklichkeiten tiefer zu durchdenken – das ist das Thema einer erfahrungssatten Lehre von der Kirche der Zukunft.

Die sakramentale Mitte der Kirche steht hier nicht in Frage – die Eucharistie ist Mitte, Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens. Dies gilt in gleicher Weise für die protestantischen Alleinstellungsmerkmale von Wort und Sakrament, die ihrerseits Ausdruck der verborgenen Christuswirklichkeit sind. Wohl aber ist angesichts der evangelisierenden und katechumenalen Gestalt vieler dieser neuen und schon bewährten Kirchenbildungen zu fragen, wie die Mitte des Kircheseins und die sakramentale Fülle des Kircheseins nicht auf Kosten ihrer katechumenalen und evangelisierenden Dynamik zu denken ist: es geht um die klassisch gewordene Hierarchisierung, die vom vermeintlichen Mittelpunkt der klassischen Kirchengemeinde ausging und diese faktisch identifizierte mit dem Ganzen des Kircheseins, wie es sich in der Feier der Eucharistie bzw. in Wort und Sakrament zuhöchst darstellt. Dies aber ist eine Verwechselung: auch die Gemeindebildungen klassisch geprägter Christen sind eine, aber lediglich eine der vielen Sozialgestalten, die zusammen mit anderen Formen und Gestalten der Kirche die eine Kirche in der Vielfalt darstellen.