Geist & Leben 4/2017

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In dieser Erfahrung kommt das Göttliche als pauvreté, als „Loslassen“ oder „Leere“ aus der „auf uns zukommenden“ Welt entgegen. Wir entdecken es, wenn wir selber Mensch werden: auf der Klaviatur der Triebkräfte und Leidenschaften, mit denen wir in dieses kosmische Drama der Evolution hineingeworfen wurden. In diesem Denken kommt uns das Menschsein nicht kraft unserer Geburt zu. Wir haben unsere „Existenz“ als Person erst zu erschaffen. Für diese „zweite Geburt“ erfahren wir die „schöpferische Leere“ als Sog des Geistes über uns hinaus, als Ruf zur Freiheit. Die Erfahrung des Göttlichen deckt sich mit Selbsterfahrung. Wir sind die Schöpfer von uns selbst und unserer Welt. Das führt zur Kurzformel: „Gott ist in uns der schweigende Raum, in dem unsere Freiheit zu sich selber kommt.“ So spricht Zundel auch, wie Meister Eckhart im Mittelalter, vom Werden Gottes in der menschlichen Person, die sich auf das Unendliche hin öffnet. Schöpfung „geschieht“. Die Nähe zur Negativen Theologie wie auch zur Prozesstheologie springt ins Auge.

„Die Durchsichtigkeit der Dinge, das ist mein Beten“

Zundels denkerische Pfade rütteln auf: Wir bitten nicht einen Pharao-Gott um dies und jenes, sondern wir „erhören“ die rufende Sehnsucht, die wir in uns und in der Welt wahrnehmen. Nicht „Gott“ erhört uns – wir erhören ihn, indem wir auf das Geheimnis des Lebens und der Welt hören. Zundel empfahl drei Wege, diesem „heimlichen Geschehen in uns“ Raum und Kraft zu geben: die Betrachtung des Schönen in der Begegnung mit der Kunst, die Suche nach dem Wahren in der Wissenschaft, die Erfahrung des Guten in den mitmenschlichen Beziehungen. Schöpfung geschieht. In einem Vortrag aus dem Jahr 1963 zeigt er anschaulich, wie dieser Weg, Gott zu erfahren, für jede und jeden zugänglich ist. Man kann diese Aussage als Zusammenfassung seiner Theologie und Spiritualität lesen. Es ist mystischer Realismus: „Wir sollten uns täglich die Muße schenken, Freuden des Menschseins, des Denkens, der Zärtlichkeit und der Freundschaft zu pflücken. Regelmäßig dieses schweigende Innewerden pflegen, dann beginnt unsere innere Landschaft fast wie von selbst wieder zu blühen (…) Jede und jeder erreicht das auf eigene Weise: der Physiker, indem er im Labor ins Staunen kommt; der Musiker, indem er sein Instrument spielt; der Kunstmaler, indem er seine Schöpfung auf Leinwand bannt; die Mutter, indem sie beim Strahlen ihres Babys in Entzückung gerät; die Verliebten, indem sie im Andern sich selbst entdecken; der Bergsteiger, indem er Gipfel erobert; wir selber, indem wir etwa eine Schallplatte auflegen und innerlich mit der Musik übereinklingen. Oder ganz einfach, indem wir beim Blumenladen vorbeigehen und das Licht wahrnehmen, das uns ein Blumenstrauß zuwirft. Wir nehmen unsere Vorlieben, Neigungen und Bedürfnisse ernst und gehen still darauf ein, wie es gerade geht. Das Geschaffene wird auf das Unendliche hin durchsichtig. Die Durchsichtigkeit der Dinge, das ist mein Beten.“21

1 M. Zundel, Quel Dieu et quel homme?, in: Présence de Maurice Zundel. N° 57. Supplément. Paris 2007. Die folgenden Zitate aus diesem Text. – Alle Übersetzungen aus dem Französischen stammen von Alois Odermatt.

2 Die biographischen Auskünfte und entsprechende Zitate allgemein nach B. De Boissière / F.-M. Chauvelot, Maurice Zundel. Nouvelle édition revue et augmentée. Paris 2009 (ohne Seitenangabe in einzelnen Fällen).

3 A.-M. Carré, La Sainteté. Paris 2004, 78.

4 Vgl. D. Maertens, Paula von Preradovic. Eine neuromantische Gestalt. Ein Leben und ein Schaffen zwischen Kroatien und Österreich (Dissertation). Gent 1956.

5 K. Rudolf, Weckrufe zu Gott. Ein liturgisches Morgenbuch. Wien 1934.

6 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tyrolia_Verlag (Stand: 7. April 2017).

7 M. Zundel, Die Innenseite des Evangeliums. Augsburg 1995.

8 Ebd., 139 f.

9 Ebd., 141.

10 Ebd., 55–64.

11 Zu den Übersetzungen vgl. A. Odermatt, Welchen Menschen und welchen Gott meinen wir? Der Westschweizer Theologe Maurice Zundel (1897-1975) und die schwierige Kommunikation zwischen französischem und deutschem Sprachraum, in: U. Fink / R. Zihlmann (Hrsg), Kirche – Kultur – Kommunikation. Peter Henrici zum 70. Geburtstag. Zürich 1998, 647–670; bes. 661–665.

12 In Anspielung auf Also sprach Zarathustra, wo Nietzsche im vierten Stück der Vorrede den Vergleich zieht: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.“ Zundel las Nietzsches Zarathustra auf Deutsch, wie es sich in der Universitätsbibliothek Neuenburg nachprüfen lässt.

13 Im Vorwort zu P. Descouvement, Dieu souffre-t-il? Paris 2008, 13.

14 B. De Boissière / F.-M. Chauvelot (Hrsg.), Maurice Zundel, 17 [s. Anm. 2].

15 Associação Cultural MONTFORT, S. Paulo, Brasil (Hrsg.), L’abbé Maurice Zundel: Un hérétique scandaleux et effronté, abrufbar unter: www.montfort.org.br/fra/lettres/zundel1.html (Stand: 11.4.17).

16 C. Dalla Costa, Maurice Zundel, un mistico contemporaneo. Torino 2008, 14.

17 R. Habachi, Quatre aspects de Maurice Zundel. Paris 1992, 41.

18 M. Donzé, La pensée théologique de Maurice Zundel. Pauvreté et libération. Genève 1980/81. Zweite ergänzte Auflage, Saint-Maurice – Paris 1998.

19 Maurice Zundel – Un réalisme mystique. Actes du Colloque organisé à l’Institut catholique de Paris. 30-31 mai – 1er juin 1986, Paris 1987, in: ThRv 84 (1988), 502–503.

20 M. Donzé, L’humble présence. Inédits de Maurice Zundel. Tome I. Genève 1985, 77.

21 M. Zundel, Émerveillement et Pauvreté (Collage). Saint-Maurice 1990, 196–198.


Egbert Ballhorn | Dortmund

geb. 1967, Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments

egbert.ballhorn@tu-dortmund.de

Wer hört, der rufe: Komm!

Die O-Antiphonen als Israel-Gebet der Kirche

Albert Gerhards in Dankbarkeit gewidmet

Die O-Antiphonen mit ihrer sehnsüchtigen Erwartungsstimmung bilden einen Höhepunkt der Adventsliturgie; sie finden als Magnificat-Antiphonen in den sieben Tagen vor Weihnachten, vom 17.–23. Dezember, und in der jetzigen Messliturgie auch als Ruf vor dem Evangelium Verwendung. Alle sieben Antiphonen beginnen mit einem sehnsüchtigen Anruf „O“, der an Jesus Christus gerichtet ist und sich in der Anrufung Christi mit einem biblischen Bildnamen fortsetzt. Die jeweils zweite Strophenhälfte setzt die Anrufung in die Form der Bitte „veni“ hinein fort.

„O komm!“, das ist eine starke, intensive Sprache. Gelernt hat die Liturgie sie aus der Bibel, die mit dieser Bitte endet. „Der Geist und die Braut aber sagen: Komm! Wer hört, der rufe: Komm!“ (Offb 22,17). Es gibt also eine eigene Aufforderung, dass es recht ist, „Komm!“ zu rufen. Und vor dem Rufen steht das Hören. Nur wer den Aufruf selbst gehört hat, der kann auch rufen. Ein bemerkenswerter Lernprozess wird hier angestoßen. Im Grunde kann man die gesamte Offenbarung des Johannes so lesen, dass man einen furchtlosen Blick auf die gewaltgetränkte Wirklichkeit der Welt tut, sich anschließend vom Boten Gottes die Augen für die Welt Gottes öffnen lässt, in der die Gewalt überwunden ist und schon der große Sieg über die Mächte des Todes gefeiert wird, um am Ende zu lernen, dass es darauf ankommt, die Ankunft des Erlösers herbeizurufen. Damit endet dann auch das letzte Buch der Bibel – mit dem Ruf: „Amen, Komm, Herr Jesus!“ (Offb 22,21).

Dass das letzte Wort der Christen eine Bitte ist, ist bedeutsam. Von Gott her muss alles kommen, nicht vom Menschen. Der, der noch nicht da ist, kann und will aber angerufen werden – über alle Abgründe hinweg. Er hört, er ist anrufbar. Die Menschen müssen lernen zu hören, um dann sprechen zu können, was nottut und den herbeizurufen, der die Zeit wenden kann. Menschen verfügen gern über vollmächtige Worte, über wirksame Worte. Sie erfahren aus der heiligen Schrift: Das letzte Wort ist eine Bitte, eine Kontaktaufnahme, die zugleich Selbstentäußerung ist. Wer so bittet, ohnmächtig-vertrauensvoll, gibt sich selbst dahin: „Komm!“ Zugleich ist der Ruf Zeichen eines tiefen Vertrauens. Wer so ruft, weiß, dass der Angerufene hört, dass er in Bereitschaft steht, und dass er wirklich kommen wird.

Dass die Adventsliturgie – vermutlich seit vorkarolingischer Zeit – sich diese Haltung zu eigen gemacht hat, hat großes Gewicht. Was im Credo noch im Modus des Bekenntnisses ausgesagt wird, erhält in der Form der Bitte eine ganz andere Gestalt. Die Form der Bitte ist mehr als die Kundgabe des eigenen Glaubens und das Ablegen eines Zeugnisses, sie ist direkter Ausdruck der Beziehung.

Vor die Bitte hat die Tradition jedoch zwei andere Elemente gestellt: Das „O“ der Eröffnung und die Anrufung Jesu unter einem biblischen Symbolnamen. Das „O“ ist Ausruf reinen Staunens, es ist entzückte Wortlosigkeit und Sprache in einem. Es kommt aus tiefster Brust. Mit dem Halleluja hat es gemeinsam, dass es einen Ausdruckscharakter trägt und zugleich ein Lallwort ist. Das hebräische Lexem halal malt das orientalische Jubeltrillern aus, das im Wort hallelu-Jah nachklingt, und das „O“ gibt dem Staunen und der Bitte einen unmittelbaren Ausdruck.

 

Und dann wird der, der kommen soll, mit immer neuen Namen gerufen. Auch darin liegt eine besondere Zärtlichkeit und Intensität: Der, der da kommen soll, wird mit immer neuen (sieben!) Namen angerufen, die je und je ein Stück seines Wesens offenbaren.

Die Reihenfolge der „Strophen“ ist keineswegs willkürlich oder austauschbar. Aus ihr lässt sich eine Chronologie der Geschichte Gottes mit den Menschen von den Uranfängen bis hin zum Eschaton herauslesen. Alle Stationen von der Schöpfung über die Erwählung des Gottesvolkes bis hin zur Geschichte Israels mit seinem Gott werden durchlaufen.

Die erste Antiphon O sapientia rühmt die Weisheit, oder mehr noch: Gott als Weisheit, der in der Bibel Präexistenz zugesprochen wird (vgl. Sir 24,5). Die zweite Antiphon handelt vom Exodusgeschehen, sodann folgt die Wurzel Jesse als Ursprung der Davidsgenealogie, bevor mit dem Schlüssel Davids (Ant. 4) der große König Israels selbst in den Blick kommt. Die Zeit der Propheten wird durch die beiden Antiphonen O Oriens und O Rex Gentium vertreten. Den inneren Abschluss bildet die letzte Antiphon, die im Gegensatz zu den vorhergehenden volltönend mit der Gottesanrede Domine Deus noster schließt. Hier ist auch mit dem Jesustitel „Immanuel“ der einzige zarte Hinweis auf das Weihnachtsgeschehen gegeben (Mt 1,23).

O Adonai

Besonders auffällig ist wohl die zweite Antiphon, die hier in das Zentrum der Auslegung gestellt werden soll. In ihr lautet der Christustitel „Adonai“. Dieser Name ist in der christlichen Tradition eigentlich kaum gebräuchlich, und auch in der lateinischen Überlieferung der Bibel kommt er fast nicht vor (nur in Ex 6,2 f.; dazu in Judit 16,16). Umso wichtiger ist dieses Wort jedoch in der synagogalen Liturgie von hellenistischer Zeit über die Zeit Jesu ununterbrochen bis heute. Weil man im Judentum den kostbaren Gottesnamen nicht (unbedacht) ausspricht, wählt man ein Ersatzwort, das immer dann gesprochen wird, wenn in der Tora das Tetragramm JHWH steht. Die jüdische Tradition liest es dann als „Adonai“, was so viel heißt wie „mein Herr“. Daraus hat sich in der griechischen Bibeltradition (der Septuaginta und im Neuen Testament) die Übersetzung ins Griechische hergeleitet, so dass Gott mit Kyrios, deutsch: der Herr, wiedergegeben wird (und im Lateinischen entsprechend mit Dominus). Aber immer sind dies Ersatzformulierungen, um den kostbaren Gottesnamen zu gebrauchen und ihn zugleich ehrfürchtig zu schützen. Die revidierte Einheitsübersetzung steht in der Folge dieser Tradition. Sie verwendet ebenfalls das Platzhalterwort Adonai/Kyrios/Dominus in der deutschen Übersetzung, und zudem schreibt sie es in vier Großbuchstaben „HERR“, so dass angesichts des Textes den Lesenden augenfällig in Erscheinung tritt, dass hier das Tetragramm seinen Platz hat. So wird man beim Lesen an den kostbaren Gottesnamen erinnert. Die zweite O-Antiphon holt diesen großen Zusammenhang bibeltheologisch ein, denn sie spricht vom Gottesnamen im Kontext des Exodusgeschehens:

O ADONAI

und Führer des Hauses Israel,

der du dem Mose in der Feuerflamme des Dornbuschs erschienen bist und ihm auf dem Sinai das Gesetz gegeben hast:

Komm, um uns zu erlösen

mit ausgestrecktem Arm.

Am brennenden Dornbusch hat Gott dem Mose seinen Namen offenbart (Ex 3,14). Der Name Gottes bedeutet: Ich bin da, ich kenne euer Leid, ich höre euer Rufen, ich reiße euch heraus aus der Knechtschaft; so war ich, und so bin ich. Wesen und Wirksamkeit Gottes lassen sich nicht voneinander trennen. Mit der Kenntnis dieses Namens ausgerüstet, kann Mose vor das Volk treten und ihm den Auszug aus der Sklaverei verkünden. Unter diesem Namen kann und will Gott angerufen werden, weil dieser Name das Wesen Gottes selbst offenbart und anrührt. Ist der Name einmal dem Gottesvolk geschenkt, kann es ihn immer und immer wieder anrufen. Die ganze Bibel ist voll davon und auch der weihnachtliche Jesustitel „Immanuel“ kann als Variation dieses einen Gottesnamens verstanden werden.

Erstaunlich bleibt nur die Tatsache, dass die in lateinischer Sprache verfassten O-Antiphonen dann gerade nicht den Normalgebrauch der Schrift, sprich der Vulgata, übernehmen, sondern das im Christentum kaum gebräuchliche, synagogale „Adonai“ verwenden. Als Lösung erscheint wahrscheinlich, dass man dezidiert die biblisch-jüdische Tradition, nicht allein in ihrer Bedeutung, sondern auch in ihrer Klanggestalt einholen wollte. Man wusste, unter welchem Namen Gott in der jüdischen Liturgie angerufen wird. Und so ist in Gestalt dieser Antiphon die jüdische Sprach- und Gottestradition als kostbares „Fremdwort“ zu einem „Eigenwort“ der christlich-lateinischen Tradition geworden.

Israel-Gebet der Kirche

Hierin liegt eine tiefe Bedeutung. Den O-Antiphonen ist klar, dass es der Gott Israels ist, der von Juden und Christen gemeinsam, wenn auch in unterschiedlichen Sprachen, angerufen wird. Und sie bekennen, dass es der Gott Israels ist, der sein Heilshandeln in Jesus Christus zugunsten aller Völker der Welt fortsetzt.

Dabei ist bemerkenswert, dass die christliche Sprachtradition die synagogale Praxis nicht nur ehrfürchtig zitiert, sondern sich zu eigen macht – und in den Kontext der eigenen Erwartung stellt. Es findet sich keinerlei Spur eines Schemas von „Verheißung – Erfüllung“, dessen Verständnis als dichotomer Struktur eine verheerende Spur durch die christliche Theologie gezogen hat. Vielmehr wird das in der Geschichte geschehene Heil zugleich als für die Gegenwart noch Ausstehendes erfleht.

In der Theologie der Antiphon sind somit zwei Glaubenserfahrungen enthalten. Zum einen ist ausgedrückt, dass die Vollendung der Erlösung noch aussteht; zum anderen ist gesagt, dass Gottes Taten keine reinen Vergangenheitstaten sind. Das ist die Überzeugung auch des christlichen Glaubens. Was Gott im Exodus gehandelt hat, muss er noch in die Vollendungsgestalt führen und in Gegenwart und Zukunft wirksam machen. Darin ist implizite Israeltheologie enthalten: Weil auch wir auf Vollendung hoffen, stehen wir Seite an Seite mit Israel, beten wir mit Israel und mit den Worten Israels; nicht nur mit dem biblischen Israel, auch mit dem heute existierenden. Was hier beispielhaft anhand der zweiten Antiphon gezeigt wurde, gilt für den gesamten Duktus der sieben Antiphonen.

Die in ihnen enthaltene implizite Israeltheologie ist gleichzeitig die Stärke und Schwäche dieser Texte. Stärke, weil dieses Israel in den Antiphonen durchaus existent ist und damit nicht nur zum abstrakten Glaubensgut gehört, sondern in der Liturgie doxologisch zum Klingen kommt. Schwäche, weil diese Israeltheologie sich nur dem geschärften Blick und dem geöffneten Ohr erschließt und dadurch im Laufe der Jahrhunderte trotz jährlich-zyklischen Gebrauchs der Antiphonen unbeachtet bleiben konnte. Es ist wohl anzunehmen, dass der Dichter der Antiphonen bei seiner impliziten Israeltheologie nur das biblische, das vorchristliche Israel im Blick hatte. Welchen heilsgeschichtlichen Stellenwert er dem zu seiner eigenen Zeit existierenden Israel gab, lässt sich nicht ermitteln. Aber dies ist wiederum auch ein Vorteil der Antiphonen: Sie sind in dieser Hinsicht ein offener Text, der eine Leseweise auch in Richtung auf das heutige Israel zulässt, ja in gewisser Weise sogar erfordert; denn wenn die diese Antiphonen singende Kirche sich als in eschatologischer Erwartung lebend begreift, umso mehr weiß sie sich an die Seite des biblischen und des jüdischen Gottesvolks gestellt. Von der gemeinsamen Erwartungshaltung her lassen sich keine Grenzen zwischen biblischem und heutigem Israel und der Kirche ziehen.

Was der jüdisch-christliche Dialog erst mühsam in den letzten Jahrzehnten in reflektierter Form eingeholt hat, ist in den O-Antiphonen schon Glaubensgut der lateinischen Kirche seit ältester Zeit. Aus ihnen ist ein Stück sensibler Israeltheologie zu lernen: Die Texte kreisen um Jesus Christus, aber sie müssen seinen Namen nicht nennen. Wohl aber gebrauchen und benötigen sie die ganze Erfahrungs- und Bildsprache des Alten Testaments, um überhaupt über Jesus Christus sprechen zu können. Dabei wird die Erwartung des Heils nicht einfach christologisch „aufgelöst“. Der Christus, der gekommen ist, ist zugleich derjenige, der noch kommen muss.

Nur sehr zurückhaltend ist in der Bitte der O-Antiphonen verborgen auch die Antwort mitgegeben: Liest man die Anfangsbuchstaben der sieben lateinischen Anreden rückwärts (Emmanuel, Rex, Oriens, Clavis, Radix, Adonai, Sapientia), so ergibt sich das Akrostichon ero cras, was als lateinische Umsetzung des urchristlichen Rufes Maranatha in eine antwortende Form gedeutet werden kann. Damit wäre im sehnsuchtsvollen Ruf zu Christus selber schon verborgen dessen Antwort mitgegeben.

Die Stimmung der Antiphonen ist die der sehnsüchtigen Erwartung. Es wird flehend um das Kommen Christi gebetet und die eigene Situation als die der Bedrängnis und Gottferne zur Sprache gebracht. Dabei begegnet weder das Wort „Christus“ noch das Wort „Messias“, dafür aber zweimal „Israel“ und ebenso Namen und Begriffe aus der alttestamentlichen Überlieferung: Adonai, Mose, Sinai, Isai, David. Ebenso entstammen die Schriftzitate dem Alten Testament. Und doch erhält die gesamte Dichtung ihren Sinn von einem Brennpunkt her, der weder im Alten Testament steht noch in den Antiphonen beim Namen genannt wird und daher gewissermaßen „exzentrisch“ ist: Jesus Christus. Von dort her hat man eine Relecture der alttestamentlichen Texte unternommen. Und die letzte Strophe mit ihrer Immanuel-Anrede macht deutlich, dass der in den Antiphonen Angesprochene von Anfang an Christus war. Schon in der Schöpfung und in der Erwählung Israels war Gott in seinem Sohn Jesus Christus am Werk, so das Bekenntnis der Antiphonen.

So sind die O-Antiphonen von ihrer Komposition und Sprachgestalt her ein christlicher Text, und als solcher sind sie auch im Laufe ihrer Geschichte rezipiert worden. Aber zugleich machen sie deutlich, dass Christologie nur in Verbindung mit der israelitisch-jüdischen Tradition zu treiben ist. Auch nach Christus stehen Christen in der Erwartung der Erlösung und können sich daher mit dem biblischen und heutigen Gottesvolk Israel identifizieren. Israeltheologie, Christologie und Eschatologie bedingen einander. Die vom biblischen und dem heutigen Israel erwartete Ankunft des Erlösers trifft sich mit der christlichen Erwartung des eschatologischen Adventus Christi.

Das Heilshandeln Gottes an seinem Volk Israel und an Jesus Christus ist Garantie für die kommende Erlösung. In der jüdisch-heidenchristlichen Gemeinsamkeit der eschatologischen Erwartung ist die liturgische Situierung der Antiphonen in der Adventszeit eigentlich eine Engführung, die der Text nicht fordert und die nur dann berechtigt ist, wenn lebendig bleibt, dass die adventliche Erwartung der Christen nicht allein erinnernd auf ein Ereignis in der Vergangenheit gerichtet ist, sondern ihre ständige Situation und Haltung darstellt. Die Eschatologie, wie sie in den O-Antiphonen zum Ausdruck kommt, ist eine Gemeinsamkeit von Judentum und Christentum. Die Erwartung des Kommenden ist das letzte Wort biblischen Glaubens.

Dabei definieren die O-Antiphonen kein Verhältnis zu Israel, sondern sie bieten von Christus her und auf ihn hin eine offene Identifikation mit Israel an. So erschließen sich diese Texte im Vollzug und nicht primär in der Reflexion. Durch den hymnischen Gebrauch werden sie in der Liturgie lebendig, aktuell und existenziell. Wer die O-Antiphonen singend betet, der stellt sich Seite an Seite mit Israel und fleht um die Erlösung, um das Kommen Gottes – eingedenk der Taten Gottes in der Vergangenheit und seiner Wirksamkeit in der Welt in der Gegenwart.1

1 Weiterführend siehe E. Ballhorn, Die O-Antiphonen. Israelgebet der Kirche, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 37 (1998), 9–34; ders., Der Psalter als Haus der Stimmen. Heteroglossie als Schlüssel zu einer christlichen Lektüre der Psalmen, in: BZ 61 (2017), 1–23.

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