Gegendiagnose II

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Als ich ein Kind war, gab es in meiner Welt keine Möglichkeit, seelischen Schmerz auszudrücken. Seelischen Schmerz zu empfinden, war verdächtig. Damit kam die Möglichkeit auf, die Dinge könnten nicht gut laufen. Seelischer Schmerz bedeutete in meiner Sozialisation, etwas falsch gemacht zu haben, ein persönliches Versagen, damit ging Scham einher. Denn Traurigkeit, Wut oder Unruhe warfen einen Schatten auf den hellen, freundlichen Alltag, um den sich doch alle bemühten.

Wenn hinter dem reibungslosen Ablauf der Dinge Katastrophen lauern, ist es unheimlich wichtig, diesen Ablauf nicht zu stören – nicht durch Gefühle zu stören.

Wenn das Durchleben des Alltags bereits alle Kraft braucht, ist jede unerwartete oder neue Situation, jedes komplexere Thema, jeder Konflikt, jeder ambivalente oder unklare Kontakt eine potentielle Überforderung. Wenn Gefühle nicht mit einkalkuliert sind, ist ihr Aufkommen eine Belastung. Es ist eine Schuldfrage, Gefühle zu haben, Schmerz auszudrücken oder Bedürfnisse zu äußern.

Als ich ein Kind war, bestand meine Arbeit darin, keinen seelischen Schmerz zu empfinden, nicht wütend, traurig oder gelangweilt zu sein. Ich lernte, dass meine Angst, meine Wünsche nach Liebe und Geborgenheit, meine Unsicherheit und meine Einsamkeit nicht sein sollten. Als Kind lernte ich, fröhlich zu sein. Ich lernte, mich für Dinge zu interessieren, wenn ich wusste, jemand wünschte sich das von mir. Ich lernte mich selbst leer zu machen und davon auszugehen, dass andere meine Präsenz, so klein sie auch sein mochte, als Störung empfinden würden.

Ich lernte, vorauszuahnen, welches Verhalten andere von mir erwarteten. Ich lernte Gesichter und Stimmen bis in die Nuancen zu deuten. Dadurch würde ich den Katastrophen vorgreifen, sie verhindern, mir die Menschen um mich herum – meine Welt – gewogen halten.

Wenn hinter dem reibungslosen Ablauf der Dinge verschiedene Bedürfnisse und einander widersprechende Wünsche sitzen, ist der Knall immer nur wenige Zentimeter entfernt. Mich von meinen eigenen Bedürfnissen auf Distanz zu halten war daher ein Beitrag zum gelingenden Alltag.

Ich weiß heute, dass das nicht aufgeht. Als Kind wusste ich das nicht. Als ich ein Kind war, war Gefühle-Haben etwas Gefährliches, was ich so gut es ging vermeiden und verstecken wollte.

Mit dem Wissen, wie ich meine Gefühle, auch vor mir selbst, verstecken kann, bin ich nicht alleine. Auch mit meinem Schmerz bin ich nicht alleine. Auch das konnte ich als Kind nicht wissen.

Runden drehen

Ich sitze vor meinen Erinnerungen, den verschiedenen zeitlichen und thematischen Ebenen, und stoße an ein altbekanntes Begehren: meinem Sein eine Begründung zu verleihen.

Die Art und Weise, wie ich bin, hinterfrage ich, spüre ein leise schwebendes Nichts, ein bodenloses Fallen hinein in das Wissen, ich werde die Frage nie abschließend beantworten können, ob es denn wirklich so schlimm war. Wirklich schlimm im Vergleich zu was? Schlimm genug, um darüber schreiben zu können? Schlimm genug, um Narben davon zu tragen? Es – was denn genau? Das Aufwachsen, der Leistungsdruck, die sozialen Zwänge, die Zurichtungen in eine Normalität, die mich von mir selbst entfremdet? Mit diesen Spalten sitze ich nun da und versuche alle Teile von mir selbst zu greifen, aber immer wieder entwischen sie mir, weil sich beschwichtigend Sätze in den Weg stellen. Andere hatten es schlimmer, andere sind tatsächlich eingewiesen worden, andere wurden geschlagen, vernachlässigt, hatten weniger Geld und keine Möglichkeit, ihren Interessen nachzugehen. Ich hatte das schon, und das ist Teil dieses Privilegs, dass ich heute darüber nachdenken und schreiben kann, wie mein Aufwachsen geprägt war von diesen Vorstellungen von Normalität, und welche Gewalt in Normalität steckt.

Das ist keine leichte Aufgabe und eine wichtige, um zu Visionen zu kommen, wie Kontakt zu mir selbst aussehen könnte, ein liebevoller Kontakt. Ich stelle mir die Frage, wie ich zu meiner Sozialisation genügend Distanz bekommen kann, um sowohl Kritik als auch Alternativen entwickeln zu können, und dabei tauchen in meiner Erinnerung die Schiebebilder auf, deren kleine Quadrate aus Plastik so lange hin- und hergeschoben werden mussten, bis das Bild zusammenpasste. Es gab nur ein leeres Feld, mithilfe dessen die Quadrate bewegt werden konnten, und manchmal wurde ich ungeduldig, habe mit der Nagelfeile ein oder zwei Teilchen herausgebrochen, und damit ein zweites und drittes leeres Feld geschaffen. Dann lies sich das Bild leichter zusammensetzen.

Ich finde es wichtig, genau zu sein und gleichzeitig sanft zu den Leerstellen, den herausgebrochenen, den bewusst erzeugten Erinnerungsteilen, die Schutzmechanismen langsam und vorsichtig einladen, zurückzutreten, damit sich neue Zusammenhänge ausprobieren lassen.

Ich möchte dich dazu einladen, darüber nachzudenken, was du als normal denkst, und wie du zu deinem Wissen über Normalität gekommen bist. Ich möchte dich einladen, sanft zu dir zu sein, und genau, und assoziativ. Dieser Text ist ein Angebot, und geht hier zurück an den Anfang: die Vision, die sich nach und nach zusammensetzt, in Veränderung begriffen ist, und bereits Atem schöpft.

Wie meine Mutter mich mit Victoria Beckham verwechselte

Nadire Biskin

Liebe Leser_innen,

dieser Brief handelt von mir, meiner Mutter und ihrer Verwechslung. Ich werde erst von unserer Beziehung zueinander berichten, dann von der Verwechslung und anschließend einige Frage stellen.

Verzeihen Sie mir den Umstand, dass ich diesen Brief einer wissenschaftlichen Arbeit ähnlich strukturiert beginne. Dabei bin ich nicht der straightwhite-man mit der Akademikerwampe und den dünnen, langen Beinen, sondern lediglich die Tochter einer Frau, der es manchmal schlechter geht als den Meisten, die ich kenne. Sieben Jahre Studium hinterlassen jedoch in meiner chuzpen Kommunikation ihre unschönen Narben in Form von Strukturiertheit, Hyperliteralität und Nüchternheit.

Nun von mir zu meiner Mutter und mir. Wir gehören zusammen. Sie liebt mich ohne Bedingung. Ich bin ihr Lieblingskind. Sie glaubt, ich bin Superwoman, weiß alles, kann alles. Manchmal glaube ich es auch. Selten stimmt es.

Ich wache auf und schaue auf mein Handy, um zu erfahren wie spät es ist. Sechs Anrufe in Abwesenheit von Emilia Galotti. Alle zwischen 5:30 Uhr und 6:00 Uhr. Ich frage mich, welchen Gedanken meine Mutter jetzt hat, der sie nicht schlafen lässt und sie dazu bringt, mich aus dem Schlaf zu reißen. Hat sie einen Brief bekommen, den ich ihr übersetzen soll? Hat sie Angst, dass ich verschlafe und möchte mich viel zu früh wecken, weil ihr Drang nach Pünktlichkeit sie wieder mal unter Kontrolle hat? Mama drückt mich weg. Ich muss schmunzeln. Sie verwechselt immer noch den roten Button mit dem Grünen. Beim zweiten Anruf nimmt sie das Gespräch an. Sie sagt etwas. Aber ich verstehe sie nicht. Sie wiederholt sich. Die Sätze unvollendet, ebenso wie ihre Worte. Das Beben in ihrer Stimme ist sicher und verständlich. Ich möchte, dass das Beben aufhört. Versuche sie zu beruhigen. Alles, was sie sagt, ist: »Ich. Tüt. Du Schlange, ich möchte dich nicht mehr sehen.« Sie legt auf. Ich rufe sie wieder an. Sie antwortet nicht. Ich nehme Schlüssel, Handy und steige aufs Fahrrad, los zu ihr. Ich fühle ihre Angst, ich fühle ihre Verzweiflung. Ich fahre schneller, damit der Wind mich zur Ruhe bringt und ich dann Mutters Wind sein kann. Ich ahne nicht, dass ihr Feuer sich durch den Wind vergrößern wird. Angekommen bei ihr, schließe ich die Tür auf. Ihre Augen verdeutlichen mir: Jemand ist nicht willkommen. Ich schaue mich um und sehe niemanden außer mir. Mutter sagt, ich hätte ihr die Tüte weggenommen. Die HA-EM-Tüte. Ich sage ihr: »Gut, ich habe sie nicht und kann mich nicht an sie erinnern, aber ich besorge dir eine neue Tüte.« Sie möchte diese Tüte, sie wäre unersetzbar. Sechs Anrufe für eine Tüte. Ich frage sie, warum sie die Tüte möchte, wie sie darauf kommt, dass ich in Besitz dieser Tüte bin. Mutter antwortet nicht mehr. Sie möchte nur noch, dass ich weggehe. Sie möchte, dass ich verschwinde. Während die bedingungslose Liebe meiner Mutter sich in eine Liebe, die sich an eine Tüte bindet, verwandelt, verstehe ich, dass die HA-EM Tüte mit Davut Bakalim, also David mal-schauen, die eingetürkischte Version von »H&M Tüte« und »David Beckham« ist. Mutter denkt, ich hätte ihr die Tüte weggenommen. Ich zeige ihr auf Google die Beckhams. Sie sagt, dass ich auf dem Foto die Haare sehr kurz hätte. Sie sagt, sie ertrage das Leben nicht mehr.

Liebe_r Leser_innen,

was soll ich tun? Wie soll ich Mutter davon überzeugen, dass ich nicht Victoria Beckham bin, dass die Beziehung zwischen Mutter-Tochter wertvoller ist, als eine Tüte? Wie soll ich später die Frau von der Krisen-Hotline davon überzeugen, dass ich Mutters Autonomie nicht weiter einschränken möchte, indem ich sie zwinge mit mir ins Krankenhaus zu gehen? Wie überzeuge ich sie davon, dass sie noch autonom ist, während die Frau mir sagt, dass meine Mutter keine Autonomie hat, weil ihr Wahn sie ihr geraubt hat? Wie überzeuge ich später die Assistenzärztin in der Notaufnahme davon, dass wir nicht zurück nach Hause gehen können um am nächsten Tag den Termin beim Psychiater wahrzunehmen, ohne uns vor ihr ausziehen zu müssen? Wie erkläre ich der Assistenzärztin, dass ihre Überforderung im ersten Jahr und die Untersuchung ohne Mentor sowie die daraus resultierende Frage unpassend, verletzend, destruktiv ist? Wie antworte ich meinem Vater am Telefon auf die Frage, wie es uns geht? Wie halte ich meinen Bruder aus der Verwechslung raus? Was sind meine filialen Rechte und Pflichten? Was sind die Rechte und Pflichten einer Frau im Wahn? Was sind die Rechte und Pflichte einer Angehörigen? Wie kann ich diese Situtation in Zukunft vermeiden? Wie hätte ich sie vermeiden sollen? Wie reagiere ich auf die Gaslightingversuche im Krankenhaus? Wie habe ich mehr Stimmmacht? Wie gebe ich all den anderen Müttern und Töchtern eine Stimme? Wie schreibe ich darüber und wie erkläre ich meiner Mutter, warum und wie ich schreibe? Wie reagiere ich auf diejenigen, die mir vorwerfen, dass ich nicht darüber schreiben soll? Wie werde ich in einer Situation allen gerecht, wenn es keine Gerechtigkeit gibt, wenn es um Krankheit geht?

 

Viele Grüße

Nicht-Marie-Sophie

Mein Ausstieg aus der »professionellen Neutralität« Vom Umgang mit Machtverhältnissen in der psychosozialen Arbeit

Caroline von Taysen

Von der Theorie zur trialogischen Praxis

Ich möchte einige meiner Eindrücke und Erfahrungen schildern, die ich beim Netzwerk Stimmenhören e. V. (NeSt) in den letzten 16 Jahren sammeln konnte und die mich in meiner Identität als klinische Psychologin sehr geprägt haben. Zum NeSt kam ich direkt nach meinem Psychologiestudium. Neben der naturwissenschaftlich geprägten Mainstream-Psychologie wurden auch zwei alternative Denkweisen gelehrt. Zum Einen die marxistisch geprägte Kritische Psychologie: sie kritisiert den Machtanspruch von Psycholog*innen und Psychiater*innen und die hierarchischen Strukturen psychosozialer und psychiatrischer Einrichtungen. Der Einfluss der kapitalistischen Logik unserer Gesellschaft auf individuelle Handlungsfähigkeit und damit verbundenem psychischem Wohlbefinden wird betont. Zum anderen wurde der sozialkonstruktivistische Ansatz vermittelt. Hier wird davon ausgegangen, dass es keine objektiven Wahrheiten gibt. Stattdessen erschaffen wir mithilfe unserer subjektiven Wahrnehmungen unsere eigenen Wirklichkeiten. Auf sozialer Ebene konstruieren Gesellschaften Werte und Normen, die dann zu ›objektiven Realitäten‹ erhoben werden. Diese ›Wahrheiten‹ befinden sich jedoch in stetigem Wandel und sind nicht ›naturgegeben‹. Ich war begeisterte Verfechterin dieser beiden Ansätze (und bin es bis heute) und freute mich darauf, sie nun endlich in die Praxis umsetzen zu können.

Meine Vorstellung war ganz einfach: Die armen Opfer der unterdrückerischen Psychiatrie müssen gerettet werden! Ich positionierte mich auf die Seite der Psychiatrieerfahrenen und wollte für ihre Rechte kämpfen. Ich wusste, man sagt nicht Krankheit sondern Phänomen zu psychotischem Erleben, und die Behandlung durch Psychopharmaka war ein gesellschaftlicher Unterdrückungsmechanismus, der abgeschafft werden musste. Außerdem faszinierten mich diese außergewöhnlichen Wahrnehmungen, wie zum Beispiel das Stimmenhören.

Das war also die Theorie.

Während des Studiums hatte ich kaum mit psychiatrieerfahrenen Menschen zu tun gehabt, konnte mir daher dieses Bild aufrechterhalten und selbstbewusst meine Positionen vertreten. Kaum war das Studium vorbei, sank jedoch mein Selbstbewusstsein. Ich war nun arbeitslos und kannte mich in der psychosozialen Szene in Berlin kaum aus. Ich hatte keine Ahnung, wie und wo ich denn nun gerne arbeiten würde, und welcher Arbeitsplatz meinen Ansprüchen genügen würde. Wie konnte ich denn nun praktisch umsetzen, was theoretisch so gut geklungen hatte? Wie sah denn nun korrektes Verhalten gegenüber psychiatrieerfahrenen Menschen konkret aus?

Zuallererst als Caro

In dieser Phase meiner beruflichen Identitätsfindung kam ich zum Netzwerk Stimmenhören e.V.. Ich erinnere mich an meine ersten Besuche der Trialoggruppe. Relativ verschüchtert saß ich in der Runde und stellte fest, wie wenig Ahnung ich eigentlich hatte.

Was mich aber vor allem wunderte, war, wie unterschiedlich die Leute in der Gruppe waren. Ich war bis dahin nur relativ homogene politische Gruppen gewöhnt gewesen. Hier kamen die Leute aus unterschiedlichsten Berufsgruppen und verschiedensten sozialen Schichten. Sie waren allen möglichen Alters und vertraten unterschiedlichste Meinungen. Was mich dabei sehr beeindruckte, war der respektvolle Umgang miteinander. Die oberste Regel, dass alle als Expert*innen ihrer eigenen Lebenserfahrungen respektiert werden sollen, und dass die jeweiligen Meinungen und Erfahrungsberichte möglichst ohne Bewertung angenommen werden sollen, fand ich gleichzeitig inspirierend und verunsichernd.

Einige meiner so politisch korrekten Ansichten fingen an zu bröckeln: da gab es stimmenhörende Menschen, die positiv von ihren Medikamenten erzählten, und welche, die die Psychiatrie gerne als Schutzraum aufsuchten. Wie konnte das denn sein? Es gab auch diejenigen, die darauf beharrten, krank zu sein und die damit, dass ihre Stimmen eine Bereicherung für ihr Leben sein könnten, gar nicht einverstanden waren.

Dieser respektvolle Umgang miteinander und das Achten der jeweiligen Grenzen der einzelnen Personen war für mich innerhalb eines Gruppenzusammenhangs keine Selbstverständlichkeit. Auf niemanden wurde Druck ausgeübt, es wurden keine Positionierungen verlangt und vor allem ging es nicht um das Aufstellen von Theorien, sondern um ganz persönliche Erfahrungen. Es ging darum, sich gegenseitig kennen und die verschiedenen Sichtweisen besser verstehen zu lernen.

Was mich berührte, war, dass mit mir als relativ ahnungsloser Psychologin genauso umgegangen wurde. Als ich einmal eine Meinung kundtat, ermahnte mich Hannelore Klafki (psychiatrieerfahrene Stimmenhörerin und Gründerin des NeSt), ich solle doch bitte deutlich machen, dass das meine persönliche Sichtweise sei und keine allgemeingültige Aussage. Das war mir peinlich… Hannelore hatte hier die Funktion einer Professionellen und sicher nicht ich! Ich wurde wohlwollend und akzeptierend aufgenommen. Ich hatte das Gefühl, in erster Linie als Mensch gesehen zu werden, als Caro, und unter anderem auch als Psychologin. Ich hatte auch das Gefühl, genau so viel Platz und Raum zu bekommen, wie ich es brauchte, um im NeSt anzukommen und meinen Platz zu finden. Diese Art des Umgangs miteinander habe ich als sehr heilsam erlebt.

Wer empowert wen?

Ein weiterer Grundsatz des Netzwerkes hat mich geprägt: einer der Hilfen beim Umgang mit problematischen Stimmen ist es, zu lernen, wieder ›Herr*in im eigenen Hause‹ zu sein, also die Kontrolle und Eigenverantwortung über das eigene Leben zu erlangen, und sich nicht den Stimmen unterzuordnen. Als Studentin hatte ich das Prinzip des Empowerment kennengelernt. Dabei ging es allerdings eher darum, als professionelle Person den Betroffenen ihre Machtposition wiederzugeben, sie sozusagen aus ihrer Opferrolle zu befreien. Nun stellte ich fest, was für eine arrogante Haltung das eigentlich ist. Ich hatte noch nie eine betroffene Person gefragt, ob sie überhaupt empowert werden wollte. Wie soll das funktionieren, von außen irgendjemandem sozusagen gnädiger Weise eine Machtposition zuzusprechen?

Heute glaube ich, dass es hier wichtig ist, zwei verschiedene Ebenen zu unterscheiden: die gesellschaftliche, politische, strukturelle Ebene und die persönliche, individuelle Ebene. Auf politischer Ebene macht es meines Erachtens Sinn, hierarchische Strukturen zu kritisieren, festzustellen, welche Gruppen stigmatisiert und benachteiligt werden, Selbstorganisierung zu unterstützen und Forderungen an die Politik zu stellen. Auf einer zwischenmenschlichen bzw. persönlichen Ebene funktioniert das jedoch nicht, da das in eine neue Bevormundung bzw. Anspruchshaltung mündet. Hier müssen wir die menschliche Diversität anerkennen. In einem System, in dem es privilegierte und weniger privilegierte Menschen gibt, ist es logisch, dass der ›Einfluss der Mächtigeren‹ steigt, wenn sie den angeblich ›Schwachen‹ helfen. Damit gehe ich ja implizit davon aus, dass sie meine Hilfe brauchen und das alleine nicht schaffen würden, zementiere damit also die strukturell gegebenen Rollen noch zusätzlich. Bis heute muss ich mich immer wieder neu darum bemühen, nur dann zu helfen, wenn ich darum gebeten werde…

›Des Glückes Schmied‹

Eine weitere Falle für uns Expert*innen durch Beruf ist die individualistische Brille, die uns während unserer Ausbildungen so gründlich aufgesetzt wird. Verbunden mit einer Haltung, dass ›alle alles schaffen können, wenn sie es nur genug wollen‹ wird sie regelrecht gefährlich. Psychotherapie geht davon aus, dass wir in einer vom restlichen Lebensumfeld isolierten Zweierbeziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in unsere ›störenden‹ kognitiven, emotionalen und Verhaltensmuster ändern und durch ›bessere‹ ersetzen können. Das Ziel ist meist, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft wieder gut (oder noch besser) funktionieren zu können. Der britische Psychologe David Smail beschreibt das sehr schön:

[…] psychology has over the past century invented and sustained a magical theology in which it seems that people may choose themselves and shape their future by eradicating their past. Tragedy may be averted by no more, essentially, than wishing that things might be otherwise, and reality is reduced to a set of stories that may be manipulated to result in happy endings. The only thing that people are called upon to do to realise their dreams is to consume, and psychology has been fundamental to the creation of the perfect consumer. […] The strength and integrity of the subject is determined not (as therapeutic psychology would have us believe) by efforts of free will, but by the adequacy or otherwise of the environment (including, crucially, the public societal structures) in which it is located. (Smail 2005: ii-iv, Hervorh. i.O.)18

Ich möchte das an meinem eigenen Beispiel verdeutlichen: Im Rahmen meiner körperpsychotherapeutischen Ausbildung machte ich auch selbst eine Körperpsychotherapie. In dieser Zeit erlebte ich Phasen, in denen ich das Gefühl hatte, kaum noch klar zu kommen. Ich verbrachte dann diese Tage zu Hause im sicheren Bett und hoffte, die Krise würde bald wieder aufhören. Verschiedene Ängste, düstere Vorstellungen und Auflösungsgefühle tauchten auf und ich war mir manchmal nicht sicher, ob ich da wieder heil herauskommen würde.

Ich wusste aber: wenn es zu schlimm würde, könnte ich jederzeit meine beste Freundin anrufen, die im gleichen Haus wohnte und als Krisenberaterin arbeitete. Ich war finanziell und beruflich abgesichert, hatte von daher genügend Zeit zur Verfügung, mich frei von existentiellen Sorgen meinem Innenleben zu widmen. Mein Freund*innenkreis und das Netzwerk Stimmenhören waren an meiner Seite. Außerdem fanden die Krisen im therapeutischen Rahmen statt, ich konnte neue Ideen zu den Bedeutungen der finsteren Welten, die mir da erschienen, entwickeln und konnte sie in meinen therapeutischen Prozess einordnen. Äußerst günstige Rahmenbedingungen also, um an mir ›erfolgreich zu arbeiten‹. Auch verstand meine Therapeutin ihre Arbeit nicht darin, mich auf die kapitalistische Realität einzuschwingen, sondern sie war mir eine Stütze darin, mich möglichst selbstbestimmt und kraftvoll mit diesem System auseinandersetzen zu können.

Ich glaube, es wird deutlich, wie anmaßend und verletzend es ist, dieses ›erfolgreiche Arbeiten‹ von allen Menschen zu verlangen, und ihnen bei ausbleibendem ›Therapieerfolg‹ fehlende Motivation vorzuwerfen! Der Großteil der Bevölkerung ist nicht so privilegiert wie ich. Immer weiter verbreitete materielle Ängste, soziale Isolation, (Selbst-)Stigmatisierung, pathologische Erklärungsmodelle und der immerwährende Leistungsdruck sind das Gegenteil von hilfreichen Ressourcen zur Krisenbewältigung! Viel hilfreicher ist es, explizit anzuerkennen, wie entkräftigend und einengend diese Umstände sind und wie sehr sie außerhalb des individuellen Wirkungskreises liegen.