Gegendiagnose II

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Nachdem ich mich vorübergehend vom therapeutischen System verabschiedet hatte, verlegte ich mich auf das Träumen von einer anderen, nicht allzu fernen Welt. Alle Personen hätten selbstbestimmt und pathologisierungsfrei Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen. Auch könnten Personen, egal wie nah sie binären Vorstellungen wären, durch einen simplen, bürokratischen Verwaltungsakt den Namen und Personenstand ändern. Trans* Personen und Personen jenseits der binären Geschlechterkategorien bekämen in der Therapie endlich die Unterstützung, die sie sich zur Bewältigung ihres (cis- und heteronormativen) Alltags wünschten. Und auch Personen, die mehrdimensional von Diskriminierung betroffen wären, könnten Therapie als einen geschützten Raum erleben, weil es grundsätzlich mehr Vielfalt unter Therapeut_innen gäbe und eine queere Person of color, eine nicht-binäre Jüd_in oder eine Schwarze, trans* Person mit Behinderung eine_r Therapeut_in gegenüber säße, die ihre Positionierung teilt.

Ich möchte mich in den nächsten Jahren dafür einsetzen, dass diese Wünsche nicht nur in Träumen erfüllt werden, sondern diese nicht allzu ferne Welt mit jedem Tag ein bisschen näherrückt.

Die Euphorie am 8.11.2017 in meiner WG ist übergroß, als eine Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht aus dem Oktober veröffentlicht wird. Das Gericht gab Vanja Recht. Bis Ende 2018 muss es eine Änderung im Personenstandsrecht geben und damit eine dritte positive Geschlechtsoption in offiziellen Dokumenten geschaffen werden. Es besteht auch die Möglichkeit, dass das Personenstandsrecht so verändert wird, dass der Geschlechtseintrag komplett gestrichen wird.

»Den Geschlechtseintrag komplett streichen?! Wow!«

Lange hatte ich nicht mehr einen so schönen Tag. Ich grinse die ganze Zeit nur noch vor mich hin. Endlich wurden die Forderung von einer nicht-binären inter* Person nach einer dritten Geschlechtsoption gehört.

Was bedeutete das Urteil für nicht-binäre trans* Personen? Was hieß es für mich? Könnte ich bald ganz einfach meinen Namen und Personenstand ändern? Was hätte das Urteil für Auswirkungen auf das sogenannte »Transsexuellengesetz«(TSG)? Könnte ich bald meine sehnlichst herbeigewünschte Haarepilation ganz ohne Gutachten und Indikationsschreiben bekommen? Könnte mein Gesicht, mein Oberkörper und meine Beine bald ganz frei von Haaren sein? Würde es vielleicht nur noch ein oder zwei Jahre dauern, bis das alles möglich wäre? All diese Fragen wirbeln schnell in meinem Kopf herum und machen mir ein warmes Gefühl im Bauch.

Nachdem die anfängliche Freude verflogen war, klärte sich die Lage in den nächsten Tagen ein wenig. Ja, das Urteil ist super für Sichtbarkeit/Anerkennung von allen nicht-binären Identitäten, auch wenn die Klage von einer nichtbinären inter* Person eingereicht wurde. Die Formulierungen der RichterInnen in Karlsruhe lassen sich so interpretieren, dass das Urteil alle Personen betrifft, die sich als weder nur männlich* oder nur weiblich* einordnen wollen. Das heißt, dass es Bedeutung für nicht-binäre Personen, nicht-binäre trans* Personen, nicht-binäre inter* Personen und nicht-binäre inter* trans* Personen hat. Aber es ist noch ein politischer Kampf, diese inklusive Interpretation durchzusetzen. Wenn dies gelingt, könnte es tatsächlich für alle nicht-binären Personen in Zukunft einfach werden, den Namen oder Personenstand zu ändern.

Und nein, das Urteil hat keine direkten Auswirkungen auf das TSG und darauf, die Gutachtenprozesse für geschlechtsangleichende Maßnahmen abzuschaffen. In der gleichen Woche, in der Vanjas Klage stattgegeben wurde, erfuhr das TSG durch das Bundesverfassungsgericht erneute Bestätigung, indem die Klage einer trans* Person abgewiesen wurde. Die Begutachtungspflicht durch sogenannte Sachverständige bei der Namens- und Personenstandsänderung wurde als verfassungskonform erklärt. Obwohl dieses fast 40 Jahre alte Sondergesetz an vielen Stellen schon als verfassungswidrig eingestuft wurde, ist es weiterhin an dieser Stelle wirksam und trägt zu Diskriminierung und Fremdbestimmung von trans* Personen bei. Bevor das TSG und damit der Gutachtenszwang und die Pathologiserung bei Personenstands- und Namensänderung abgeschafft und geschlechtliche Selbstbestimmung für alle Menschen möglich wird, braucht es noch einige Kraft und Mobilisierung von queeren Aktivist_innen und Interessenverbänden, auch wenn es bereits Verbündete in den etablierten Parteien und auf bundespolitischer Ebene gibt.

Ich hoffe, dass es bald abgeschafft wird. Darauf freue ich mich schon jetzt. Bis dahin warte ich und hoffe, dass dann auch der Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen vereinfacht wird. Ich habe Zeit. Ich werde weiter für nicht-binäre Sichtbarkeit und Teilhabe in meinem Alltag und in meiner Bildungsarbeit kämpfen. Ich werde mich an Initiativen wie »Queering Therapy« erfreuen, die Fortbildungen für Psychotherapeut_innen anbieten. Und ich werde erst einmal keine Therapie machen.

Zwischen den Knallen wachsen zarte Pflänzchen Zu Depression und (den Versuchen von) Positionierung

Nello Fragner

Dieser Text thematisiert Depression, Diagnostizierung, Street Harassment, Selbstverletzung, Selbsthass.

Träumen

Die Vision hat viele einzelne Teile, die sich im Lauf der Zeit zusammensetzen werden. Wie sie am Ende aussehen wird, weiß ich nicht.

Ich fange mit der Vision an, weil sie aus dem Jetzt entsteht, aus meinem Lernen, aus den Geschenken, die ich von befreundeten und geliebten Personen um mich herum bekomme. Durch all diese neuen Teile entsteht in mir eine Haltung zu dem Leben, das ich bisher gelebt habe. Ich finde Wünsche, ordne neu ein, gebe mich hin.

So, wie ich gelernt habe, mit mir und der Welt und anderen Menschen umzugehen, möchte ich es nicht weiter machen. Ich mache mich auf die Suche, weil ich es nicht mehr aushalte, so zu leben und zu sein, wie ich es bisher war.

Dieses Unerträgliche ist nicht die Stimme der Depression in mir, die ich betäuben, übertönen, überhören will. Es sind Härte, Schmerz, Traumatisierung, Sehnsucht, Verletzungen, die unrealistischen Anforderungen eines Lebens im Kapitalismus. Es sind die Enge, der Lärm, die vielen Grenzüberschreitungen, die jeden Tag ganz beiläufig ausgeübt werden. Es sind die Machtverhältnisse, die um mich herum und in mir drin sind: sie durchziehen mein Fühlen und Handeln, meine Beziehungen, meine Träume, meine Strategien. Es sind queeres Begehren und eine geschlechtliche Positionierung als trans, nicht-binäre Person, beides Dinge, die beschämt und bestraft werden. Es sind Erfahrungen von Ausgeschlossen-Werden und Ausschließen, Konkurrenz und Angst.

Ich erlaube dem Unwohlsein, das aus dem Wahrnehmen all dieser Dinge kommt, sehr viel Raum und erkenne darin die Stimme wieder, die mich in Veränderung bringt. Aber manchmal bringt sie mich außer Atem und in einen altbekannten Zustand, in dem alles steif wird, mein Herz rast und meine Gedanken austrocknen.

Als Kind besaß ich einige Setzkästen. Das sind unterschiedlich große Rahmen aus Holz mit kleinen, verschieden förmigen Unterteilungen, meistens rechteckig. Für Mineralien sind sie gedacht, für Glastiere, Murmeln, Münzen, Glücksbringer aller Arten, Kakteen, Kiesel, Holzstücke, Gräser und kleine Bilder.

Ich setzte all die Dinge hinein und beschäftigte mich immer wieder damit, sie einzeln herauszunehmen, zu entstauben und in einer neuen Ordnung wieder hineinzusetzen. Ich befühlte die Oberflächen, schnupperte an ihnen und leckte an Salzsteinen und samtüberzogenen Tierchen. Manche hatten ähnliche Farben oder Strukturen, manche kamen im gleichen Strandurlaub zu mir, manche stammten aus dem gleichen Erdzeitalter.

Vor einigen Jahren hatten sich Selbsthass und Verzweiflung so dicht in mir zusammengeballt, dass Teller zerschlagen, schreien und ins Kissen boxen nicht mehr reichten. Für einen Moment zerstob die Wut in diesen nach außen gerichteten Gesten, und blieb zugleich als bedrohlicher Unterton einer deutlicher werdenden Gewissheit: ich muss etwas ändern, wenn ich nicht immer wieder an den Punkt gelangen will, an dem ich es nicht mehr aushalte ich selbst zu sein. Es nimmt mir den Atem und den Schlaf, lässt meine Haut rot und trocken werden, dreht mir den Magen um und lässt den Migränekopfschmerz wie einen Blitz in mich fahren.

Ich saß vor dem Kissen, in das ich geboxt hatte, und dachte an die lange Reihe von Erlebnissen, die in diesem Selbsthass stecken. Ich dachte über Vereinzelung nach und Bilder von Glück, Stärke und Erfolg. Ich dachte darüber nach, ob es mir irgendwann möglich sein würde, mich als liebenswert zu denken, fähig dazu, für mich einzustehen und mich um mich selbst zu kümmern. Ich fragte mich, ob ich es mir irgendwann erlauben könnte, Grenzen zu setzen, Unwillen zu äußern, mich in meiner begrenzten Energie wahrzunehmen und meine Tage dementsprechend zu gestalten. Ich überlegte, ob ich in Beziehung treten könnte zu all den Verletzungen, die ich mit mir herumtrug, anstatt die verletzten Bereiche möglichst gründlich von allen anderen Bereichen, die ich zum Funktionieren brauchte, abzuschneiden. Ich stellte mir die Frage, ob ich mich, mit all meinen bisherigen Erfahrungen, annehmen könnte.

Und ich dachte an die Setzkästen, erinnerte mich an meine Sorgfalt und die Begeisterung, mit der ich sammelte und anordnete, die kleinen Objekte pflegte und mit ihnen in Beziehung blieb, auch wenn sie schon länger bei mir waren; wenn die Steine ihren Glanz verloren oder von den getrockneten Blättern Teile abbrachen. Ich habe nie eines der Objekte aussortiert. Aber plötzlich habe ich keinen Setzkasten mehr, die gesammelten Dinge sind nicht mehr bei mir, einzelne habe ich über die Jahre behalten, andere müssen wohl verloren gegangen sein.

 

Fallen lassen

Küche

-If there’s nothing missing in my life, then why do these tears come at night?

-Ich weiß auch nicht. Ich mache ja alles auch mit, weißt du? Ich gehe auf Parties und ich mache mir die Haare und studiere tagsüber. Ich gehe einkaufen und koche. Wenn es nur jemanden gäbe, der alles von mir sehen könnte. Diesen Teil von mir, der nach Hause kommt, die Einkaufstaschen abstellt und weint. Zwei Stunden. Immer wieder, einen ganzen Tag lang. Und dann wieder aufsteht und Essen macht. Wenn es jemanden gäbe, um das zu sehen. Dann würde es vielleicht realer werden, diese Teile.

-Warst du schon beim Arzt?

-Nein, aber ich überlege jetzt schon öfters, hinzugehen. Vielleicht kann der mir was verschreiben. Vielleicht erklärt der mir, was los ist.

Arztpraxis

-Sie können also nicht schlafen?

-Manchmal nicht. Mein Kopf dreht einfach immer weiter.

-Brodelt es in Ihnen? Würden Sie sagen, Sie sind unruhig? Wühlt da etwas?

-Ja, da wühlt was. Ich kann Ihnen nur leider nicht genau sagen, was. Wissen Sie, manchmal fällt mir die Gabel aus der Hand, und ich hasse mich so sehr dafür, dass ich es nicht mehr aushalte, ich selbst zu sein. Manchmal gehe ich ganz geschäftig durch den Tag und nichts passiert, alles läuft so, wie ich mir das vorgestellt habe, und dann wieder bricht es herein, dieses Unvorhergesehene, die Gedanken, die ich nicht stoppen kann, das Gefühl, dass ich mich auflöse. Letztens hatte ich einen Weinkrampf, ich saß auf dem Bett, habe zum Fenster geschaut und konnte nicht mehr feststellen, ob ich hier aufhöre, wo ich sitze und mich festhalte, oder ob ich vielleicht bis zum Fenster reiche. Ob das Fenster ein Teil von mir ist. Wie kann ich das feststellen? Vor zwei Monaten, da hat mir jemand auf der Straße an den Hintern gefasst. Ich habe mich umgedreht und habe gesagt: ich möchte das nicht. Der ist mir gefolgt, an der Ampel musste ich stehenbleiben, und wieder war da die Hand an meinem Po. Ich habe mich umgedreht und ihm eine Ohrfeige gegeben. Er hat zurückgeschlagen. Mit voller Wucht. Ich habe zu schreien begonnen, ich war so fassungslos. Ich konnte kaum stehen, weil ich gezittert habe. Vor Wut und Schmerz. Er hat auch geschrieen. Er hat geschrieen, dass ich verrückt bin. Dass ich schreie wie verrückt. Er hat sich umgedreht und ist gegangen.

Wie soll ich denn feststellen, wo ich aufhöre und wo ich beginne? Wie soll ich denn herausfinden, wie sich mein Körper anfühlt? Es ist so viel leichter auszuchecken. Es ist so viel leichter, auf die Schmerzen nicht mehr zu reagieren. Schicht um Schicht haben sie sie aufgestapelt, ich will ja auch nicht mehr fühlen. Ich stelle mir das schön vor, nichts mehr zu fühlen.

-Ich verschreibe Ihnen was. Und ich gebe Ihnen eine Liste mit Therapeuten. Sie suchen sich einen aus. Medikamente alleine helfen nicht.

Küche

-Und dann hat er mir den Befund in die Hand gedrückt und da stand »mittelschwere Depression«. Ich frage mich, wie er das festgestellt hat. Ich bin froh, dass ich keine »leichte Depression« habe. »Mittelschwer« klingt schon ernster. »Schwer« wäre noch besser. Dann könnte ich.. dann hätte ich kein schlechtes Gewissen mehr, mich ins Bett zu legen und nichts mehr zu tun.

-We never thought that we get caught up, stuck in the teenage waste.

-Aber echt. Weißt du, meine Wohnung sieht jetzt mehr nach Jugendzimmer aus als damals. Ich wusste, ich durfte nicht auseinanderfallen. Ich hätte auch nicht gewusst, wie. Alles war so eng. Auch das Ritzen, darüber haben wir Scherze gemacht, als wir in der Pause Cola kaufen waren. Es gab keinen Ort, an den wir hätten gehen können.

-Dann hast du die Zeit vielleicht verpasst, um es dir mal richtig schlecht gehen zu lassen. Jetzt bist du erwachsen. Ich dachte, Erwachsene kommen klar. Meinst du, Erwachsene kommen gar nicht klar?

-Wenn alle Leute das so machen, dass sie erst zu weinen beginnen, wenn die Wohnungstür hinter ihnen zugefallen ist, dann kann man das ja nicht sagen.

-Hast du mit deiner Mutter gesprochen?

-Ja, sie hat mich gefragt, ob ich mein Medikament regelmäßig nehme. Als ich das letzte Mal zu Besuch war, hat sie mir Geld gegeben, damit ich mir neue Sachen zum Anziehen kaufe. Ich habe ganz schön viel eingekauft. Ich dachte, ich kann ja wenigstens gut aussehen, wenn ich schon depressiv bin. Danach war ich irgendwie leer. Ich habe geweint, als ich im Zug zurück saß.

Schlafzimmer

-Hallo?

-Hey. Sorry dass ich anrufe. Ich kann nicht schlafen. Du hast bestimmt geschlafen.

-Ja. Was ist denn los bei dir?

-Ich weiß nicht. Ich kann nicht schlafen. Ich gehe in der Nacht verloren. Ich habe Angst, dass ich nicht wieder ich bin, wenn ich einschlafe. Dass ich aufwache und ein wichtiger Teil von mir verloren gegangen ist. Ich spüre mich nicht mehr. Ich würde dir auch noch gerne erzählen, dass mein Schlafzimmer alles ist, was es noch gibt, und dass ich mich in dem Zimmer verirrt habe, auch wenn es nur eines ist, mit 15 Quadratmetern. Ich würde dir sagen, dass ich nicht mehr weiß, was hier drin zu mir gehört. Ich würde dir erzählen, dass ich darauf warte, dass die Antidepressiva zu wirken beginnen, denn der Arzt hat gesagt, dann kann ich schlafen. Ich versuche an Fight Club zu denken, denn die Hauptfigur da kann ja auch nicht schlafen. Daraus entsteht Tyler Durden und daraus entsteht diese revolutionäre Truppe, das ist doch was Gutes. Den Film haben wir zusammen geschaut, und du hast meine Haare mit einer Häkelnadel gehäkelt, weißt du noch? Wir waren 15. Ich war so verliebt in dich und ich glaube, du wusstest es und hast darum getrauert, dass du nicht in mich verliebt warst, nie.

-Das klingt, als wärst du traurig. Ich bin ganz müde, ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Vielleicht kannst du versuchen zu schlafen. Wir sehen uns bald, okay?

-Ja. Sicher.

Straße

-Klopf klopf. Die Welt ist zurück!

-Und was soll ich jetzt machen?

-Setz einen Fuß vor den anderen. Der Gehweg ist stabil, da schwankt nichts.

-Das bedeutet, ich schwanke. Bist du dir sicher mit ›einen Fuß vor den anderen‹? Schau mal, der Baum schwankt ja auch.

-Komm, du hast gerade zehn Stunden geschlafen. Vielleicht ist das einfach so, wenn die Antidepressiva wirken.

-Ich habe gestern… ich habe gestern… ich habe mit meiner Mutter telefoniert und sie sagte, eine Bekannte hat ihr erzählt, dass ist wie in Watte gepackt sein. Ganz weich eingepackt. Nichts dringt so richtig durch. Ich frage mich, ob das bei mir auch so… und jetzt? Ich stehe unter dem schwankenden Baum. Ich weiß nicht mehr, was ich hier wollte.

-Du wolltest zu Penny. Du hast gesagt, einkaufen wäre gut und essen wäre dann auch gut. Irgendwas schnelles, was fertiges, dann legst du dich wieder hin. Du hast dein Handy auch gar nicht eingeschalten. Die Rollos aber hast du zumindest hochgezogen und mal gelüftet. Das Wäsche waschen hast du übrigens auf morgen verschoben. Ich erinnere dich dann daran.

-Ich weiß nicht, ich glaube, die Straße schlägt Wellen. Nicht so große, nur ganz leicht. Warum soll ich das Handy auch einschalten? Niemand ruft an.

-Komm, erst mal einkaufen. Dann hast du den Tag auch schon fast geschafft.

-Ich schmecke nichts, es ist egal, was ich kaufe.

-Einen Fuß vor den anderen. Erstmal schwankt da nichts.

Beratungszimmer

-Ihre Kindheit kommt nie wieder. Sie werden das nicht nachholen können. Diese Liebe, die Sie als Kind nicht bekommen haben, können Sie nicht nachholen. Aber Sie können Ihr Leben so einrichten, dass Sie jetzt Liebe erfahren.

Straßenbahn

-Und das hat er wirklich so gesagt?

-Ja, ich glaube schon. Oder ich sage es mir selbst. Das ist doch ein Werkzeug, um es auszuhalten, oder? Er hat auch noch gesagt, als ich von D. erzählt habe, und dass er Drogen nimmt, da hat er gesagt: »Das machen Sie doch jetzt auch.« Er meinte die Antidepressiva. Er findet das nicht gut. Er sagt, die machen mich unempfindlich und ich bin dann zu betäubt, um meine Muster zu verändern. Ich kann mich einfach nicht erinnern, ob er das gesagt hat, dass ich mein Leben jetzt so gestalten kann, dass es liebevoller wird. Ich meine, ich wüsste nicht, woher ich den Gedanken sonst hätte. Ich dachte immer, das ist mein Schicksal, ein liebloses Leben. Aber erzähl es niemandem, dass ich das denke. Das ist undankbar, das zu denken.

Ich sitze auf der Couch und er in diesem dunkelblauen Stuhl und zwischen uns steht die Uhr mit dem Zifferblatt in seine Richtung, so dass ich nicht sehen kann, wie viel Zeit wir schon verbraucht haben. Er schreibt nicht mehr so viel mit wie am Anfang, aber manchmal sieht er mich so an, als hätte er Mitleid. Ich möchte ihm gern sagen, dass ich es versuche. Ich versuche es wirklich. Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Ich schäme mich für jeden Versuch, der schief geht. Für jede Begegnung, nach der ich mich schlecht fühle. Ich weiß wirklich nicht, wo meine Grenzen liegen. Ich weiß nicht, ob er mich wirklich verstehen kann. Ich kam mir sehr stark vor, als ich die erste Stunde bei ihm hatte und erzählt habe, was gerade bei mir los ist. Ich höre mir selbst beim Reden zu und denke irgendwann, ich habe es immerhin bis hierher geschafft. Ich fand mich mutig. Es tat gut. Aber jetzt geht es mir zu schnell, Muster ändern, Motivationen herausfinden, Strategien finden, Verantwortung übernehmen. Ich bin immer noch müde. Ich bin doch schon froh, dass ich wieder schlafen kann. Wohin soll ich denn die Wut packen, und das Weinen, und die Schreie? Am Ende geht es doch wieder ums Verstecken und Funktionieren.

-Such a funny thing for me to try to explain how I’m feeling and my pride is the one to blame. Du musst dich einlassen, vielleicht kann er dir doch was sagen, was geben, was dir helfen kann. Vielleicht weiß er besser, was du brauchst. Willst du wirklich an dir festhalten?

Stadtstrand

-Ich habe mich dafür entschieden, die Antidepressiva abzusetzen. Im Internet steht, man soll sich beraten lassen, aber ich habe meinen Arzt nie wieder gesehen, nach der Diagnose-Stellung. Ich dachte, ich mache das jetzt einfach, es ist ja Sommer, es ist warm und hell, ich habe den Schlaf nachgeholt, ich will nicht mehr. Ich will wieder.

-Und, wie ist es bis jetzt?

-Mein Herz rast.

Küche

-Zwei, drei, vier. Vier Teller in zwei Jahren, das ist in Ordnung, findest du nicht? Eins, zwei, dort drüben noch zwei. Die großen Scherben sind leicht zu finden. Mit den Gläsern habe ich aufgehört, die zerbersten richtig, da ist es so schwer, alle Scherben einzusammeln.

-Es sollte einfach niemand mitkriegen.

-Niemand kriegt etwas mit. Ich bin richtig gut darin geworden, dass niemand etwas mitkriegt. Auch hier, in den hellen Nächten, bleibe ich für mich. Wenn ich nachts rausgehe und mir das vorkommt wie unter Wasser, dann schreibe ich es auf, speichere das Dokument und klappe meinen Laptop zu. Niemand liest das. Ich räume auf, ich wasche Wäsche, ich koche, ich schneide mich nicht mehr. Ich warte, bis ich alleine bin, um zu weinen. Ich bin viel alleine. Ich schlafe und ich gehe und die ganze Zeit ist es laut in meinem Kopf, aber das hört niemand sonst. Ich mache keine Umstände. Ich habe mich im Griff.

-Kein Wunder, dass M. schon eine neue Beziehung hat. Dass D. sich nie richtig für dich interessiert hat. Du spielst fünfhundert Mal am Tag durch, wie du überraschend zurück kommst und M. erkennt, dass er eigentlich dich liebt, und das erschöpft dich so sehr, dass du keine Energie mehr für die Party hast oder die Ausstellungseröffnung oder das Pizzaessengehen.

-Ich fühle mich ganz schön falsch. Weißt du, seit ich denken kann, schaue ich mir die Pärchen um mich herum an und frage mich, was falsch an mir ist, warum ich nicht Pärchen bin.

-Ich glaube, das wirst du nie herausfinden.

-In einem Tagebucheintrag steht, auch xy ist in einer Beziehung, ich habe es gesehen, sie haben während des Studi-Stammtisches Händchen gehalten, irgendwann werde ich so kalt wie Stein. Hier sind die Steine kalt, der Boden, die Wände, die Hände, die Decken, die Nächte, die Scherben, die Worte. Ich unterscheide mich gar nicht mehr von meiner Umgebung. Ich bin kurz davor, zu verschwinden. Verschwinde ich?

-Du bist noch hier.

Sofa

-Die Socken habe ich lange nicht getragen. Die können auch weg.

 

-Und die Unterhose?

-Kann auch weg, die hat ein Loch.

- Und die hier?

- Die hier. Ja. Die habe ich zusammen mit meiner Mutter gekauft. Sie ist in die Umkleidekabine gekommen, hat meine Wunden gesehen und ist weinend wieder raus. Nein, ich glaube, so war es gar nicht. Vielleicht ist sie mit mir in der Kabine stehen geblieben. Ich glaube, sie hat mich auch berührt. Prüfend, um sich einen Überblick zu verschaffen. Aber an den Blick kann ich mich nicht erinnern. Auch an die Berührung nicht. Vielleicht hat sie mich gar nicht berührt. Aber ich bin mir sicher, irgendwann zwischen der Umkleidekabine und heute, da hat sie gesagt: wenn du das weiter machst, müssen wir dich einweisen lassen. Wenn du das weiter machst, dann müssen wir dich einweisen lassen. In die Psychiatrie.

- Vielleicht ist sie Stein und du bist Stein, weil ihr ja verwandt seid.

- Manchmal kann ich mich nicht so richtig an Sachen erinnern. Sie hat sich sicher Sorgen gemacht. Kontrolle ist so wichtig. Sich im Griff haben.

- Und was ist mit den Socken?

- Die will ich aufheben.