Gegendiagnose

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Norm und Normabweichung

Neben dem Aspekt der klinischen Erkennbarkeit kennzeichnet die oben genannte Definition psychischer Störung, dass die ihr zugehörigen Symptome »sowohl individuell als auch im sozialen Bereich mit Behinderungen und Beeinträchtigungen verbunden« seien. Was an dieser Stelle recht vage als individuelle und soziale »Behinderung und Beeinträchtigung« erscheint, lässt sich an der folgenden Vier-Punkte-Definition psychischer Störung deutlicher aufzeigen:

Unter einer Störung werden Symptome oder Symptommuster im Denken, Erleben und/oder Handeln einer Person verstanden, die von der Norm abweichen, zu einer Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/ oder sozialen Aktivitäten führen, durch ausgeprägtes Leiden gekennzeichnet sind und die bei den Betroffenen ein Änderungsbedürfnis hervorrufen. (Renneberg/Heidenreich/Noyon 2008: 21, Hervorh. i.O.)5

Entscheidend dafür, ob ein beobachteter Symptomkomplex als psychische Störung behandelt wird, ist also – neben subjektivem Leiden und Änderungsbedürfnis – die Normabweichung und eine Beeinträchtigung, hier genauer spezifiziert als »Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/oder sozialen Aktivitäten«. Als relevante Normen, von denen ein Verhalten in klinisch relevanter Weise abweichen kann, gelten in der psychiatrischen Diagnostik einerseits die statistische Norm, d.h. der Durchschnitt einer Vergleichsgruppe, meist einer »repräsentativen Eichstichprobe« der Gesamtbevölkerung, und/oder die sogenannte »modifizierte funktionale Norm«, welche »subjektive[s] Wohlbefinden einerseits wie auch […] objektivierbare Leistungsfähigkeit andererseits« (Payk 2007: 51, Hervorh. i.O.) berücksichtigt.6 Normalität in diesem Sinne kennzeichnet psychische Gesundheit als Gegensatz zu psychischer Gestörtheit wie folgt: 1. Die betreffende Person weist eine objektivierbare Leistungsfähigkeit (z.B. im Bereich der Veräußerung ihrer Arbeitskraft) auf, welche sich aus den Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft ergibt. 2. Bei der Anwendung ihrer Leistungsfähigkeit fühlt sich die Person subjektiv wohl. Eine Abweichung von der modifizierten funktionalen Norm bezeichnet also selbst nichts anderes als eine Beeinträchtigung in den als relevant markierten Leistungsbereichen und/oder einen Mangel an subjektivem Wohlbefinden. Die als Kriterium verwendete Norm, nach der entschieden wird, ob eine psychische Störung vorliegt oder nicht, kennzeichnet (zunächst einmal unabhängig vom empirischen Durchschnitt der Gesamtbevölkerung) den Idealtypus des fröhlich funktionierenden bürgerlichen Subjekts in der kapitalistischen Gesellschaft:

Zusammenfassend entspräche psychische Gesundheit am ehesten der individuellen Fähigkeit, sich realistisch den Anforderungen des Lebens ohne erschöpfendes Beanspruchtwerden stellen und ihnen innerhalb der zugehörigen Gesellschaft mit Selbstachtung und Durchhaltevermögen bei persönlicher Zufriedenheit nachkommen zu können. (Payk 2007: 51, Hervorh. i.O.)

Die genannten und nicht weiter ausgeführten »Anforderungen des Lebens«, welche je nach Gesellschaft und innerhalb dieser je nach Personengruppe, sozialer Position, Geschlecht usw. stark variieren können, werden als gegeben und unveränderlich gesetzt. Diesen nachzukommen gilt als vernünftiger und nicht weiter erklärungsbedürftiger Lebensinhalt eines und einer jeden. Egal welchen Platz man in dieser Gesellschaft zugewiesen bekommen hat, man soll sich dessen »Anforderungen« (bzw. Zumutungen) nicht nur stellen können (was zu einer »individuellen Fähigkeit« erklärt wird) und wollen, sondern soll sich dabei »persönlich zufrieden« fühlen. Dabei wird dieses »Sollen« nicht als der Imperativ ausgesprochen, der es ist, sondern als im Grunde selbstverständliche Norm gesetzt, als gleichsam erwünschtes, vor allem aber als natürlich-menschliches Verhalten. Die empirische Tatsache, dass diese Norm (durchschnittlich) mehr oder weniger von den meisten Leuten die meiste Zeit über halbwegs erfüllt wird, sich modifizierte funktionale und statistische Norm also in der Regel einigermaßen decken, verleiht ersterer nicht etwa die Weihe einer »neutraleren«, weil rein rechnerischen Norm, sondern gibt lediglich Auskunft darüber, dass es einem Großteil der Bevölkerung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in ausreichendem Maße gelingt, die ihm nahegelegten Anforderungen und Zwänge nicht nur zu erfüllen, sondern sich diese auch als persönliche Lebensaufgabe zu eigen zu machen und damit einzurichten. Die statistische Norm dient also als legitimatorische Absicherung der eigentlich entscheidenden modifizierten funktionalen Norm, was sich besonders anschaulich an Fällen ausweisen lässt, in denen statistische und modifizierte funktionale Norm auseinanderzufallen drohen: So werden etwa Intelligenztests statistisch in regelmäßigen Abständen an repräsentativen Stichproben re-normiert, damit stets eine sogenannte Normalverteilung der Intelligenz in der Bevölkerung vorzufinden ist. Intelligenztests werden so konzipiert, dass stets genau gleich wenig als unter- und als überdurchschnittlich intelligent diagnostizierte Personen sowie eine Ballung im Bereich mittlerer Intelligenz existieren. Während »Intelligenzminderung« nach ICD-10 als psychische Störung bzw. als Symptom verschiedener Störungsbilder gilt, gilt dies nicht für »überdurchschnittliche Intelligenz«, da mit dieser üblicherweise keine Funktionsbeeinträchtigung in den für die Psychodiagnostik interessierenden Bereichen einhergeht. Die modifizierte funktionale Norm liefert also den Maßstab dafür, ob eine statistische Normabweichung als eine psychische Störung oder als ein Symptom einer psychischen Störung gilt, wie »Intelligenzminderung«, oder nicht, wie »Hochintelligenz«. In anderen Fällen spielt die statistische Norm eine stärker untergeordnete oder gar keine Rolle. Die Symptomkataloge der Klassifikationssysteme und die damit korrespondierenden diagnostischen Verfahren zur Depressionsdiagnostik kommen weitestgehend ohne statistischen Vergleich aus und beziehen sich eindeutig auf die modifizierte funktionale Norm.

Psychologie und Psychiatrie sind sich der prinzipiellen Veränderlichkeit, zumindest der empirisch nicht von der Hand zu weisenden historischen Veränderung der modifizierten funktionalen Norm bewusst – »Welche Verhaltensweisen als psychische Störungen bezeichnet werden, ist abhängig von gesellschaftlichen Werten und Normen. Damit unterliegt der Begriff den Einflüssen des kulturellen und geschichtlichen Kontextes und dessen Wandels« (Bastine 1998: 151) –, allerdings hat sie ihrer Funktion für diese Gesellschaft gemäß keinen Begriff davon, um welche diffusen »Einflüsse des kulturellen und geschichtlichen Kontextes« es sich dabei handeln könnte bzw. wie und vor allem in wessen Sinne diese abstrakt bleibenden »gesellschaftlichen Werte und Normen« zustande kommen – womit sie ihrer Parteilichkeit für die jeweils herrschenden Normen entspricht.

Die tautologische Erklärung des Nicht-Funktionierens

»Psychische Gesundheit« im oben genannten Sinne meint somit nicht zu jedem Zeitpunkt und für jede Person unbedingt dasselbe, jedoch bedeutet sie immer die Anforderung und unterstellte Selbstverständlichkeit des fröhlichen Mitmachens der Menschen bei dem, was derzeit von ihnen gefordert und verlangt wird. Ist dieses fröhliche Mitmachen bei einer Person nicht (mehr) in ausreichendem Maße der Fall, bekommt sie eine entsprechende Diagnose verpasst, die in einem griffigen Terminus die konkret beobachtete, spezifische Art des Nicht-Reibungslos-Funktionierens auf objektiver und/oder subjektiver Ebene zusammenfassend beschreibt. Im Moment der Diagnosestellung spielen dabei die mutmaßlichen Ursachen für die so diagnostizierte Störung, wie sie in der Ätiologie verhandelt werden, keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle (z.B. als persönliche »Krankheitsgeschichte« in der Anamnese). Insbesondere aber kommen die tatsächlichen individuellen Gründe für das Nicht-Funktionieren bzw. Nicht-Mitmachen(-Wollen) und die damit verbundenen subjektiven Bewusstseinsinhalte der diagnostizierten Person im diagnostischen Prozess kaum vor: Nicht der Inhalt eines als depressiv eingestuften Gedankens ist der primäre Gegenstand der Untersuchung, sondern die akut festgestellte Abweichung von der Norm.

In diesem Moment kommt es zur eigentlichen diagnostischen Tautologie: Wie eben gezeigt werden konnte, handelt es sich bei einer beliebigen, anhand der jeweiligen akut beobachteten Normabweichung diagnostizierten Störung um nichts anderes als um eine Ein-Wort-Beschreibung der beobachteten Normabweichung. Diese Ein-Wort-Beschreibung (»Depression«) wird dann entweder vom psychiatrisch-psychologischen Personal oder vom betroffenen Subjekt und seinem sozialen Umfeld selbst als Ursache für ebenjenes Nicht-Mitmachen(-Wollen) hypostasiert, welche sie eigentlich ja nur in einem Wort beschreibt. Eine Depression wird also daran festgemacht, dass eine Person morgens nicht aus dem Bett kommt, der Job plötzlich und unerwartet keinen Spaß mehr macht und sie sich »grundlos« traurig fühlt, und all diese Gefühle, Gedanken und Handlungen, die die Depression sind, werden im Anschluss als durch ebendiese Depression verursacht erklärt. Dann heißt es, die Depression als im Kopf oder in der Seele hausende Störung halte einen ursächlich davon ab, morgens früh aufzustehen, zu arbeiten und das Leben einfach zu genießen. Erklärungsbedürftig erscheint nicht das freiwillige und fröhliche Funktionieren im kapitalistischen Normalbetrieb, welches die modifizierte funktionale Norm und in den meisten Fällen deskriptiv auch die statistische Norm in der Bevölkerung darstellt, sondern das Nicht-Funktionieren(-Wollen), welches als dermaßen unbegründet und absurd erscheint (und erscheinen muss), dass es sich dabei in dieser Logik folgerichtig nur um einen Defekt in der betroffenen Person handeln kann. Paradoxerweise wird aber nun dieses als erklärungsbedürftig markierte Verhalten gerade eben nicht erklärt, sondern lediglich zusammenfassend beschrieben (klassifiziert) und anschließend als seine eigene Ursache verkauft.

 

2. … mit Aussicht auf Heilung
Über die Ursachen für die Ursache

Diese Vorstellung über die Entstehung von psychiatrisch relevanten Symptomen orientiert sich an der medizinischen Erklärungsweise für die Entstehung von körperlichen Erkrankungen, unterscheidet sich von dieser jedoch erheblich.7 In der Medizin werden die vorhandenen Symptome als Ausdruck einer nachweisbaren Ursache begriffen, beispielsweise einer Virus- oder bakteriellen Infektion, deren Vorliegen und Schädlichkeit für den menschlichen Organismus unter Zuhilfenahme naturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse bestätigt werden (kann), um dann durch die entsprechende Behandlung beseitigt zu werden. Der Zusammenhang zwischen den festgestellten Symptomen und den sie verursachenden Bakterien/Viren lässt sich wissenschaftlich beweisen. Die heutige Medizin ist trotz vieler Unklarheiten in der Lage, einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen einer Ursache und ihren Folgen zu beschreiben. Die Zerstörung von Helfer-Zellen beispielsweise durch das HI-Virus im Blut führt zur einer Schwächung des Immunsystems, was den Körper anfälliger macht für andere Erreger. Die Diagnose heißt dann Humanem-Immundefizienz-Viruskrankheit, und diese Krankheit verursacht verschiedene Symptome. Die Diagnose HIV kann demnach durch den Nachweis der Viren im menschlichen Körper abgesichert werden.

Der Unterschied zwischen der psychiatrischen und der medizinischen Diagnose besteht darin, dass die Psychiatrie ein den psychiatrischen Symptomen äußerliches Kriterium anführt, welches den inneren Zusammenhang zwischen den Symptomen herstellen soll. Ob es wirklich die Depression ist, welche die Symptome hervorbringt, oder etwas anderes, ist nicht überprüfbar. Die Psychiatrie hält hingegen fest: Die psychische Störung ist die Instanz, die dafür sorgt, dass die Menschen nicht so sein können, wie sie sollen. Der Ätiopathologie fällt nun die Aufgabe zu, zu erklären, was die diagnostizierte Ursache hervorgebracht haben könnte – bislang jedoch ohne wissenschaftlich haltbares Ergebnis. Um dem Nicht-Mitmachen auf die Sprünge zu helfen, kommen verschiedene Behandlungsmethoden zum Einsatz. Je nach gewähltem Verfahren sieht die Behandlung der diagnostizierten Störung verschiedene Handlungsschritte vor, die wiederum auf verschiedenen Erklärungsmodellen ihrer Entstehung beruhen. Obwohl die jeweiligen Modelle höchst unterschiedliche und sich widersprechende Vorstellungen über die Ursachen beinhalten, ist ihnen eins gemeinsam: Alles, was ein Mensch so tut und denkt, muss von inneren oder äußeren Ursachen hervorgebracht worden sein. Die Auswahl, welches der vorhandenen Verfahren zum Zuge kommt, hängt von der jeweiligen Fachrichtung der behandelnden Expert_innen ab. Durch verschiedene Studien versuchen die jeweiligen Behandlungsrichtungen die Wirksamkeit ihres Verfahrens und die Richtigkeit ihrer Annahmen damit zu beweisen, wie erfolgreich diese die klinischen Symptome reduzieren konnten, d.h. wie erfolgreich die (Wieder-) Anpassung des Individuums an die widrigen Umstände gelang. Dass mit der Reduzierung von Symptomen durch eine Behandlung gleichzeitig die Richtigkeit der dieser zugrunde liegenden theoretischen Annahmen bewiesen wäre, ist nicht zutreffend. Die Richtigkeit einer Theorie entscheidet sich daran, ob diese in der Lage ist, ihren Gegenstand mit stimmigen Argumenten auf den Punkt zu bringen. Keines der hier aufgeführten Verfahren kann dies für sich in Anspruch nehmen. Sollte es tatsächlich durch eine angewandte Behandlung zu einer Symptomreduzierung kommen, so wäre immer noch der inhaltliche Nachweis notwendig, dass diese die angenommene Ursache beseitigt hat und die Reduzierung nicht auf ein Drittes zurückzuführen ist.

Als ein Symptom für die Depression gelten »Schlafstörungen jeglicher Art«. Durch die Einnahme von Diazepam kann in vielen Fällen dieses Symptom für eine bestimmte Zeit zum Verschwinden gebracht werden. Bekanntlich beeinflusst dieses Medikament bestimmte Neuronenaktivitäten im Gehirn. Dass jedoch diese Aktivitäten die Ursache für die Schlafstörungen gewesen sind, ist nicht ausgemacht. Es werden eben nur die Symptome reduziert und damit auch das, was als vermeintliche Ursache diagnostiziert worden ist – die psychische Störung, die, wie oben beschrieben, nichts anderes ist als eine Ein-Wort-Beschreibung der Symptome. Dass die Mittel mehr oder weniger ihren Zweck erfüllen, ist das Kriterium ihres Einsatzes, und tatsächlich gelingt es bei einigen Patient_innen, ihre Symptome zu reduzieren. Die Frage ist nur: Was genau ist der Inhalt der jeweiligen Methode und welchem Zweck dienen die verabreichten Mittel? In der modernen Psychiatrie gelten momentan u.a. die pharmakologische Behandlung und die kognitive Verhaltenstherapie als die Mittel der Wahl. Beide Verfahren können auf ähnliche Erfolgsquoten (Reduzierung der Symptomschwere um mindestens 50% bei 40-50% der Patient_innen) verweisen, trotz der erheblichen Unterschiede in ihren Vorgehensweisen.

Die medizinisch-organische Deutung der psychischen Erscheinung

Auf der Suche nach einer möglichen Heilung psychischer Störungen tendiert die Psychiatrie dazu, deren Ursache in einem Defekt des Gehirns auszumachen, ganz so, als würde es sich bei einer Depression um eine Hirnverletzung handeln. »Die Theorien, die einen Zusammenhang zwischen Neurotransmittern und psychischen Störungen annehmen, gehen davon aus, dass eine bestimmte Störung durch eine zu große oder zu kleine Menge von Neurotransmittern verursacht wird« (Davison/Neale/Hautzinger 2007: 20). Dementsprechend kommen neben der heute nicht mehr so häufig angewendeten Elektroschock-Therapie verschiedene Medikamente in Betracht, die direkt in den Stoffwechsel des Gehirns eingreifen. Mit dem Eingriff in die physiologische Grundlage des Bewusstseins durch die Verabreichung diverser Stoffe gelingt es bei circa der Hälfte der Patient_innen die Symptomschwere zu reduzieren. Dieser Erfolg wird als Indiz dafür genommen, dass in der grauen Substanz auch die Ursache für die diagnostizierte Störung läge. An dieser Annahme wird trotz des verhältnismäßig geringen Behandlungserfolges festgehalten. Denn selbst nach Maßstäben dieser medizinischen Herangehensweise könnte sich Skepsis gegenüber dieser Ursachenvermutung einstellen. Keine behandelnde Psychiaterin weiß genau, welches der zur Verfügung stehenden Medikamente in welcher Dosis bei einem depressiven Patienten einzusetzen ist. Hier bestimmen Versuch und Irrtum den Einsatz der Mittel. Viele der Medikamente lösen schwer wiegende Nebenwirkungen aus. In bestimmten Fällen werden weitere Medikamente gegeben (Schlafmittel, Angstlöser etc.), die ihrerseits in den Stoffwechsel eingreifen und die ungewollten Begleiterscheinungen reduzieren sollen. Am problematischsten für die Annahme, Depressionen hätten ihre Ursache in gestörten Stoffwechselvorgängen, ist die Tatsache, dass anhand der Wirksamkeit nicht unterschieden werden kann, welche Behandlungsmethode zum Einsatz kommen sollte. Sowohl die pharmakologische Therapie als auch die kognitive Verhaltenstherapie erzielen bis auf bestimmte Ausnahmefälle ähnliche Resultate. Damit ist die Annahme, wonach die Depression von gestörten Stoffwechselvorgängen verursacht würde, diese also notwendig die Wirkung haben, depressive Symptome hervorzubringen, nicht haltbar, da die psychologische Behandlung nicht auf den Eingriff in den Stoffwechsel beruht.8 Grundsätzlich lässt sich der Zusammenhang zwischen physiologischen Prozessen und psychischen Inhalten nicht mit der Kategorie von Ursache und Wirkung beschreiben. Weder wird das Denken und Handeln von den Notwendigkeiten des Körpers regiert noch kann es ohne seine biologische Grundlage existieren. Die physiologische Erforschung der neuronalen Vorgänge konnte in den letzten Jahrzehnten einige Fortschritte in der Beschreibung der Stoffwechsel- und Neuronenaktivitäten erzielen. Unter Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden untersucht diese Forschungsrichtung die materiellen Funktionen und Gesetzmäßigkeiten des Gehirns, welche die physiologischen Bedingungen dafür sind, dass der Mensch ein Bewusstsein entwickelt, sich denkend mit der Wirklichkeit auseinandersetzt, seine Urteile und Schlüsse zieht. Welche psychischen Inhalte das Individuum auf der Grundlage seiner natürlichen Möglichkeiten selbst realisiert, unterliegt dessen Entwicklung. Durch Verletzungen und Erkrankungen des grauen Substrats können verschiedene Vorgänge nicht mehr so stattfinden, wie sie möglich wären. Die Erkenntnisse, die durch die physiologische Forschung entstanden sind, beispielsweise Verfahren zur Behandlung von Schlaganfällen oder Demenz, sind wichtige Errungenschaften, um deren Auswirkungen auf die psychischen Tätigkeiten durch die Schädigung der natürlichen Grundlage zu verstehen. Umgekehrt kann die psychische Entwicklung nur auf der Basis der physischen Entwicklung stattfinden. Ohne die Entwicklung der Sinne wäre es dem Menschen beispielsweise nicht möglich, die äußere Welt wahrzunehmen und sich dann zu dem Wahrgenommenen denkend in eine Beziehung zu setzen. Diese Fähigkeit zur Reflexion bezieht sich nicht nur auf Sinneseindrücke, sondern auch auf das jeweilige Denken und Handeln. Die Inhalte dieser Gedanken über sich selbst sind nicht die Wirkung einer physiologischen Ursache, sondern verknüpfen sich aufgrund einer eigenen Logik der Denktätigkeit. Gerade weil das menschliche Bewusstsein nicht in seiner biologischen Grundlage aufgeht, nicht von Notwendigkeiten des Körpers regiert wird, ist der menschliche Geist in der Lage, sich über sich selbst und die Welt, wie diese ihm entgegentritt, Gedanken zu machen. Darin liegt die Freiheit des Geistes über den Körper und die Natur. Gleichzeitig ist der menschliche Geist durch seinen Körper bestimmt. Jedes Denken hat seine körperlichen Grenzen, was einem schon dann auffällt, wenn man nach einem langen Tag im Büro vor Müdigkeit kaum noch seine eigentlichen Interessen verfolgen kann. Und auch die von Psychiater_innen verabreichten Antidepressiva greifen in die körperlichen Prozesse ein und verändern diese, was Auswirkungen auf die Art und Weise haben kann, wie der Mensch sich und die Welt erfährt. Weder fallen Geist und Körper auseinander, wie so mancher philosophisch interessierte Mensch behauptet, noch lassen sich die menschlichen Tätigkeiten eines sich Zwecke setzenden und umsetzenden Willens aus den neuronalen Verschaltungen des Gehirns erklären. Die Annahme, die natürlichen Bedingungen seien die Ursache für das menschliche Denken und Handeln und damit auch für jene, die als Abweichung von den erwünschten Denk- und Handlungsweisen diagnostiziert wurden, ist die theoretische Fehlleistung des medizinisch organischen Deutungsansatzes (vgl. Güßbacher 1988).9 Den Mangel, dass für psychische Störungen keine biologische Ursache ausgemacht werden konnte, führen Neurolog_innen auf noch nicht ausreichende Forschung zurück, was sie aber nicht im Geringsten daran hindert, schon einmal davon auszugehen, »dass bei manchen psychischen Störungen die Rezeptoren defekt sind« (Davison/ Neale/Hautzinger 2007: 20) – mit den entsprechenden Konsequenzen für die Behandlung ihrer Patient_innen.

Die kognitiv-verhaltenstheoretische Deutung der psychischen Erscheinung

Die kognitive Verhaltenstherapie, deren Wirksamkeit – gemessen an ihrem Erfolg – bei bestimmten Formen der Depression als erwiesen gilt, geht gemäß ihren theoretischen Voraussetzungen einen anderen Weg. Nicht durch eine medikamentöse Beeinflussung der Abläufe im Gehirn soll das depressive Verhalten verändert werden, sondern durch die Einflussnahme auf die situativen und kognitiven Bedingungen, die das unerwünschte Verhalten hervorgebracht haben sollen. Ging noch die klassische Verhaltenstherapie davon aus, dass »innere Zustände« eines Menschen zwar existieren, aber für die wissenschaftliche Betrachtung und besonders für die Vorhersage und Steuerung des menschlichen Verhaltens nicht relevant seien, erhalten diese nun in Form der Kognition einen besonderen Stellenwert im Bedingungsgefüge. Ausgangspunkt dieser Therapieform bildet die Annahme, dass jedes menschliche Verhalten als Reaktion auf die Wirkung von äußeren Bedingungen zurückzuführen sei. Das menschliche Verhalten sei dadurch bestimmt, dass es durch die Umwelt hervorgebracht werde, und die Umwelt habe als Reizauslöser die Bestimmung, menschliches Verhalten hervorzubringen. Damit erscheint der Mensch als reines Vollstreckungsorgan der auf ihn einprasselnden äußeren Reize. Dem offensichtlichen Mangel dieses tautologisch-zirkulären Ansatzes, dass nämlich damit nicht erklärbar ist, wie ein bestimmter Reiz eine bestimmte Reaktionsweise auslösen soll, versucht diese Forschungsrichtung durch die Annahme von Verstärkerreizen zu beseitigen.10 Nicht mehr Umweltreize generell sollen das menschliche Verhalten hervorbringen, sondern diese müssten unterschieden werden nach ihrer Wirkungsqualität. Wie diese denn zu unterscheiden seien, wird in bekannter tautologischer Weise beantwortet: Als Verstärkerreize gelten diejenigen Reize, die verstärkend auf das Verhalten wirken (vgl. Krölls 2007). »Eine geringe Rate verhaltenskontingenter positiver Verstärkung wirkt auslösend für depressives Verhalten« und »[e]ine geringe Rate verhaltenskontingenter Verstärkung hält die Depression aufrecht« (Hautzinger/Stark/Treiber 2000: 7), so lautet die Anfangsthese dieser Therapierichtung. Zum Beginn der Therapie gilt es daher, diejenigen Ereignisse zu identifizieren, welche zu einer niedrigen Rate positiver Verstärkung führten. Diese niedrige Rate gilt es durch die Erhöhung der Anzahl von positiven Verstärkern zu kompensieren, um das sozial erwünschte Verhalten zu fördern. Äußere Bedingungen oder Ereignisse, wie die Trennung von einer nahen Person, Arbeitslosigkeit und Armut, werden als negative Faktoren betrachtet, als mögliche Ursachen für die Entstehung einer Depression, deren negativem Einfluss auf die Gemütslage dahingehend zu begegnen sei, dass zugängliche und machbare Aktivitäten vom Individuum umgesetzt werden sollten. Die Wiederaufnahme von Aktivitäten, die die Anzahl von positiven Verstärkern erhöhen sollen, gilt dementsprechend als ein wichtiges Therapieziel; und da vermutet wird, dass es irgendeinen Zusammenhang zwischen der Aktivitätsrate und der Stimmung eines Menschen gibt, muss diese erhöht werden. Das Mitmachen bei was auch immer wird zur entscheidenden Voraussetzung für die Genesung. Die Wiederaufnahme einer produktiven Tätigkeit, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben als Ausdruck eines gesunden Bewusstseins wird so in den Rang eines positiven Verstärkers erhoben. Schon in diesem ersten Therapieschritt wird das Steuerungsideal dieser Therapieform sichtbar: Es wird versucht, die Auftrittswahrscheinlichkeit einer erwünschten Verhaltensweise zu erhöhen, indem Situationen geschaffen werden, die als positive Verstärker gelten. Es müssen daher nur die richtigen Verstärkerreize vorhanden sein, um das menschliche Verhalten dahin zu bringen, wie es sein soll.11

 

Die Entdeckung, dass sich auf eine positiv-verstärkende Situation nicht notwendigerweise auch das erwünschte Verhalten einstellt, führt innerhalb dieser Theorie zu der Annahme, dass eine weitere Bedingung am Werk sein muss, die die depressiven Symptome hervorbringt. Den situativen Bedingungen werden kognitive Bedingungen hinzugesellt, die wiederum durch ungünstige äußere Auslösebedingungen verursacht worden seien und nun ihrerseits eine kognitive Störung hervorbringen, die wiederum zu einer fehlerhaften Wahrnehmung der Umwelt führe. »Die auslösenden Bedingungen starten den Prozess der Depressionsentwicklung insofern, dass sie unmittelbare Unterbrechungen oder Störungen (z.B. automatisierte Abläufe) produzieren« (Hautzinger/Stark/ Treiber 2000: 15). So machen es bestimmte Einstellungen und Gedanken einem depressiven Menschen angeblich unmöglich, sowohl sich selbst und seine Zukunft als auch die äußere Welt positiv zu sehen. »Als Ursache depressiver Störungen wird eine kognitive Störung angenommen, die sich darin äußert, dass die Realität nur noch verzerrt wahrgenommen und interpretiert wird« (Wagner 2011: 185). Inhaltlich ist diese Bedingung wieder einmal durch nichts anderes bestimmt, als dass sie Hoffnungslosigkeit, geringes Selbstwertgefühl, andauernde Selbstkritik, Rückzug und Suizidgedanken verursachen soll und das Individuum dazu bringt, sich ausdauernd und automatisch die als dysfunktional eingestuften Gedankengänge zu machen. Diese Gedankengänge, die das Individuum daran hindern, sich produktiv und sozial zu betätigen, müssen unterbrochen, modifiziert, beseitigt werden. In der konkreten Behandlung werden beide Bedingungsannahmen – das Fehlen von positiven Verstärkern und das Vorhandensein von gestörten Kognitionen – zusammengeführt. Durch die Teilnahme an konstruktiven Aktivitäten soll der depressive Mensch sich Situationen aussetzen, die sich positiv auf seine Stimmung auswirken. Den angenommenen Zusammenhang zwischen Situation und Stimmung gilt es selbst zu kontrollieren und hervorzubringen. Gleichzeitig wird an der Bewertung der eigenen Aktivitäten, an den selbstbezogenen Gedankengängen, negativen Vorstellungen und überhöhten Ansprüchen gearbeitet. Die Feststellung, dass depressive Menschen oft die eigene Unfähigkeit als Grund für den ausbleibenden Erfolg angeben und sich selbst die Schuld an negativen Ereignissen geben, wird dahingehend korrigiert, dass niemand all seine Pläne verwirklichen könne und dass das Handeln an sich wichtiger sei als die Erreichung eines Handlungsziels. Es wird also darauf abgezielt, dass die eigenen Ansprüche an die Welt auf ein gemäß der eigenen Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft angepasstes Maß zu reduzieren sind. Da die Welt kein Ponyhof ist, müssen die Zumutungen, die diese bereit hält, nur positiv verarbeitet und der Fokus auf die schönen Seiten des Lebens gerichtet werden. Sich selbst und das Leben im positiven Licht zu sehen, sich selbst bedingungslos wertzuschätzen und die Unzulänglichkeiten des Lebens zu akzeptieren, steht dann am Ende der erfolgreichen Therapie.