Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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Z serii: EHP-Praxis
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GRÜN – Integration der Polaritäten wird vorbereitet

Mit der GRÜNEN Ebene beginnt man, Vielfalt zuzulassen (Pluralismus), und man ist relativistisch; man verfügt über die kognitiven Möglichkeiten, in Wechselbeziehungen zu denken, und man kann Ereignisse in ihrer Vernetzung aus externer Perspektive wahrnehmen.

Wenn diese Kompetenzen im fortgeschrittenen Stadium von GRÜN tatsächlich umgesetzt werden, dann kommt es zwangsläufig zu einem inneren Konflikt:

Früher oder später kommt man in einen Widerspruch zwischen den Rechten, die man aus der eigenen Selbstverwirklichung ableitet, und dem Wert, allen Lebewesen gleiche Rechte zuzugestehen, denn beide Werte gelten gleichermaßen auf GRÜN. Zum ersten Mal bricht dieser Werte-Konflikt explizit auf einer Ebene auf, ohne dass einer der beiden Werte in den Hintergrund zurückweicht. Auf den vorhergehenden Stufen mussten die Pole sozusagen getrennt zur Reife gebracht werden, bis sie nun auf GRÜN aneinander reifen müssen.

Dieser Reifungsprozess stellt eine enorme Anforderung an das Selbst dar. Etwas, das bis zu dieser Stufe unvereinbar war, prallt nun aufeinander und verlangt eine Lösung, die keine weitere Abspaltung erlaubt. Der Weg der Abspaltung ist nun versperrt: zum einen, weil er sich nach den Werten dieser Stufe verbietet, zum anderen, weil das Bewusstsein entwickelt genug ist, um zu erkennen, dass weitere Abspaltung sinnlos ist, dass darin kein Fortschritt, keine Entwicklung mehr liegen kann.

Aber was dann? In der Theorie ist die Antwort einfach: Es geht um Integration, um Transzendieren und Umfassen, wie es bei Wilber heißt, wenn es um die Drehpunkte die Stufenübergänge geht. Aber was heißt das hier konkret?

Meiner Auffassung nach wird hier auf GRÜN die Integration der Pole vorbereitet, bevor sie auf der nächsten Ebene vollzogen wird. Es ist bereits eine große Leistung, beide Pole gleichwertig nebeneinander auftreten zu lassen, den sich daraus ergebenden Widerspruch zuzulassen und zu versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden. Die GRÜNE Leistung besteht darin, aus dem durch die bisherigen Stufen hindurch praktizierten Weg der Abspaltung der Polarität in Pole auszusteigen und den Konflikt, der sich aus dem Aufeinandertreffen beider Pole ergibt, auszuhalten. Die GRÜNE Lösung dieses Konflikts kann noch nicht die große Integration sein, dafür ist noch eine weitere Transformation nötig. Die Voraussetzung für eine solche Transformation wird jedoch auf GRÜN geschaffen, indem man sich an der Quadratur des Kreises müht: Man versucht, beiden Polen gerecht zu werden, Lösungen dafür zu finden, in Gemeinschaft zu leben und den individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden. Das bedeutet, sowohl dem eigenen Bedürfnis nach Zugehörigkeit nachzugehen als auch dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Oder noch einmal anders ausgedrückt: anderen Menschen Selbstverwirklichung zuzugestehen bzw. sie darin zu unterstützen und eigene Grenzen zu erweitern etc.

Das führt nicht selten zu Formen des Selbstbetrugs der einen oder anderen Richtung, die aufgedeckt und durchlitten werden müssen. Da werden der Gruppenharmonie eigene starke Interessen geopfert, die sich dann andernorts Bahn brechen. Es werden Ideologien von Gleichheit vertreten, die so nicht gelebt werden können (einfach weil sie nicht der Realität entsprechen). Es werden Hierarchien (auch Holarchien) geleugnet, weil sie mit den Werten unvereinbar scheinen etc. Das alles muss ausprobiert, ausgehalten und durchlebt werden, wenn man Polarität nicht mehr verdrängt, sondern die Pole aufeinander prallen lässt.

Gegen Ende von GRÜN hat man erfahren, dass es nicht die Lösung gibt für diesen Konflikt, denn es kann keine klare, inhaltlich eindeutige Anweisung geben, wie man konkret Polarität leben kann. GRÜN hat es mit der Anweisung versucht: Beide Pole sind gleichwertig und stellen keinen Widerspruch dar!

Damit ist es zum ersten Mal möglich, beide Pole bestehen zu lassen – das ist die großartige Leistung dieser Stufe. Die Gefahr dabei ist, dass Unterschiede nivelliert, also Differenzen geleugnet werden (beispielsweise Geschlechterdifferenzen). Im Idealfall jedoch hat man erfahren, dass die Pole gleichwertig sind, also keiner der Pole per se richtig oder falsch ist. (Eine Grundidee, die uns schon im Quadrantenmodell begegnet ist, denn alle Perspektiven sind gleichwertig, keine ist wichtiger als eine andere etc.) Damit ist auch klar, dass die Antwort für einen angemessenen Umgang nicht mehr darin liegen kann, sich ein für alle Mal für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Mit dieser grundsätzlich neuen Einsicht sind nun die Herausforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten von GRÜN umfassend ausgeschöpft und der Prozess der Integration der Pole muss sich auf der nächsten Stufe fortsetzen.

GELB – Integration der Polaritäten – von der ersten zur zweiten Ordnung

Mit GELB, der integralen Stufe, begegnen wir nicht nur in der bei jedem Stufenübergang üblichen Weise neuen Herausforderungen. Dem tragen die Modelle von Wilber Rechnung, indem sie mit Beginn der integralen Stufe (bei Wilber Schau-Logik7 genannt) den transpersonalen Bereich eröffnen, und die Spiral Dynamics von Beck & Cowan sprechen bis zu GRÜN von der »ersten Ordnung menschlicher Entwicklung« (first tier) und beginnend mit GELB von der »zweiten Ordnung menschlicher Entwicklung« (second tier). Dort heißt es:

»Wer aus der ersten Ordnung (First Tier) heraustritt, sieht zu viel und aus zu vielen Blickwinkeln, um eine Einfachheit anzunehmen, die nicht vorhanden ist. Jetzt, da die Lebensbedingungen1-6 [die ersten sechs Stufen oder WMems8] Geschichte sind, beginnen Urteile, welche die gesamte Spirale überblicken, den grünen Relativismus abzulösen. Die Realisierbarkeit von individuellen wie von Gruppenaktionen vergrößert sich, und auch die Fähigkeit des Einzelnen, zugleich mit Vielfalt und Komplexität umzugehen, wächst. Ein bisschen Disharmonie erscheint nun natürlich und die eigene Toleranz für offene Widersprüche nimmt zu. […] Eine ganz neue Denkweise schickt sich an, zu entstehen, während das gelbe WMem die zweite Ordnung (Second Tier) der menschlichen Existenz zum Leben erweckt.« (Beck & Cowan 2011, 434 f.)

An anderer Stelle sprechen sie im Zusammenhang mit der ersten Ordnung (First Tier) der menschlichen Entwicklung von der Phase des »Handlungsmenschen«, die gewissermaßen den »Gipfel unserer Primatennatur« darstelle. (ebd. 436) Und zum Übergang von GRÜN zu GELB führen sie weiter aus:

»Jedes Aufleuchten eines neuen WMems ist ein großer Schritt in der Entwicklung der Menschheit. Doch der Übergang von GRÜN nach GELB ist ›ein bedeutsamer Sprung‹, so Graves9, der uns von den Subsistenzebenen der ersten Ordnung zu den Seinsebenen der zweiten Ordnung (Second Tier) führt. Das ist nicht bloß eine neue Stufe auf der Treppe der Entwicklung. Die grünen Probleme unter den Lebensbedingungen6 [= die ersten sechs WMems) schließen alle der vorhergehenden Welten – Lebensbedingungen1, 2, 3, 4 & 5 – mit ein und schwingen oft gemeinsam mit ihnen. Unter den Lebensbedingungen7 beginnen die WMeme fast wieder von vorn, ähnlich wie ein musikalisches Thema, das in einer anderen Tonart wiederholt wird.

[…] Die Lebensbedingungen7 führen eine Komplexität ein, die sich jenseits auch noch der besten Denkweise der ersten Ordnung (First Tier) befindet.« (ebd.)

Wilber, der in seinen Ausführungen zur Integralen Psychologie (2006) die Spiral Dynamics rezipiert, ordnet diesen besonderen Stufenübergang folgendermaßen ein:

»… was keines dieser Meme [der ersten Ordnung] von sich aus kann, ist die Existenz der anderen Meme in vollem Sinn wertschätzen […] das beginnt sich mit dem Denken des zweiten Rangs10 zu verändern. Weil Bewusstsein des zweiten Ranges sich der inneren Stufen der Entwicklung ganz bewusst ist – auch wenn es sie nicht in technischer Weise artikulieren kann –, tritt es zurück und erfasst das große Bild, und so kann das Denken des zweiten Ranges die notwendige Rolle, die alle diese verschiedenen Meme spielen, wertschätzen. Indem das Bewusstsein des zweiten Ranges das benutzt, was wir Schau-Logik nennen würden, denkt es in Begriffen der Gesamtspirale der Existenz, und nicht nur in denen einer jeweiligen Ebene … das Denken des zweiten Ranges [geht] einen Schritt weiter und beginnt, diese pluralistischen Systeme in integrale und holistische Spiralen und Holarchien zu integrieren (Beck und Cowan selbst sagen von diesem Denken des zweiten Ranges, es operiere mit ›Holonen‹).« (ebd. 69)

All dies wird in der folgenden Abbildung 4 noch einmal zusammengefasst dargestellt.


Abb. 4: Polarität Zugehörigkeit/Eigenständigkeit in holarchischer Selbstentwicklung.

© Gremmler-Fuhr 2012

Friedlaenders Verständnis von Polaritäten bzw. schöpferischer Indifferenz und der Integrale Gestalt-Ansatz

Für den Gestalt-Ansatz hat, wie bereits erwähnt, Ludwig Frambach mehrfach verdeutlicht, wie sich der Einfluss von Friedlaenders Philosophie bemerkbar macht. So setzte er beispielsweise auch das Fünf-Schichten-Modell der Neurose unter Zuhilfenahme des Figur-Grund-Konzeptes in Beziehung zu Polaritäten und schöpferischer Indifferenz (Frambach 2001, 304 f.).

Aber auch in Versuchen der Weiterentwicklung der theoretischen Konzepte des Gestalt-Ansatzes griffen beispielsweise Reinhard Fuhr und die Autorin auf die Idee der Polaritäten zurück, so unter anderem bei der Darstellung der Kontaktfunktionen (z. B. Fuhr & Gremmler-Fuhr 1995, 119–133), bei der Darstellung der Dimensionen dialogischer Beziehung (Gremmler-Fuhr 2001, 406–416), bei Überlegungen zu einer Ethik im Gestalt-Ansatz (Gremmler-Fuhr 2001a, 545–561) oder Erläuterungen der Praxisprinzipien des Gestalt-Ansatzes (z. B. Fuhr 2001a, 417–437).

 

Mit der Darstellung der Polarität von Zugehörigkeit und Eigenständigkeit, wie sie sich durch die Stufen oder Memes der Entwicklungsholarchie manifestiert und transformiert, ist auch ein Prozessverlauf angedeutet, der nun mit Friedlaenders Verständnis von Polarität und schöpferischer Indifferenz in Beziehung gesetzt werden kann.

In der Entwicklungsholarchie gibt es, wie in der obigen Darstellung deutlich wurde, nicht nur eine Stelle, an der Polaritäten auftreten, um dann in einem nächsten Schritt transzendiert zu werden. Dieser Prozess vollzieht sich vielmehr bei jedem Stufenübergang, was nicht zuletzt dadurch evident ist, dass wir nicht ohne Grund von einer Holarchie sprechen: Holarchien sind aus Holons bestehende Hierarchien, und darin ist der polare Charakter per Definition verankert (wie ich zu Beginn andeutete). Beim Stufenübergang geht nun sowohl die alte Teil-Identität im größeren Ganzen auf und ebenso differenziert sich eine neue Teil-Identität heraus.

Im Erleben lässt sich ein solcher Stufenübergang mehr oder weniger ausführlich beschreiben – Wilber spricht bei einem jeden Stufenübergang oder jedem »Drehpunkt« vom 1–2–3–Prozess bzw. sieht darin das Erkennungsmerkmal für einen Stufenübergang, wenn er ausführt:

»Man kann also einen Drehpunkt immer an seiner dreistufigen Struktur erkennen: Identifizierung, Ent-Identifizierung, Integration oder Verschmelzung, Differenzierung, Integration oder Einbettung, Transzendierung, Einschließung.« (Wilber 1997, 191)

Wilber weist darüber hinaus auch auf eine häufige Problematik hin, nämlich auf die Verwechslung von Differenzierung und Dissoziation (Wilber 1997, 217) sowie die von Verschmelzung mit Freiheit (bzw. Integration) (ebd.). So betrachten nach Wilber viele Theoretiker

»… jegliche Differenzierung nicht als Vorbereitung auf eine höhere Integration, sondern als brutale Zerstörung der bisherigen Harmonie […] Damit über-idealisieren sie aber diesen primitiven Mangel an Differenzierung ganz dramatisch. Dass das Selbst noch nichts von Leiden weiß, bedeutet ja nicht schon, dass es umgekehrt in spiritueller Wonne baden würde. Die Abwesenheit von Bewusstsein bedeutet nicht die Anwesenheit des Paradieses!« (ebd.)

Wer den für Entwicklung notwendigen Schritt der Differenzierung mit Dissoziation, also mit Entfremdung bzw. Abspaltung gleichsetzt, der interpretiert jede Differenzierung als Herausfallen aus einem zuvor paradiesischeren Zustand und daher als Entwicklung in die falsche Richtung. Dieses Missverständnis ist nicht zuletzt im GRÜNEN Meme eine Gefahr, da hier, wie bereits erläutert, Harmonie und Gleichheit hohe Werte sind und die Orientierung relativistisch und soziozentrisch ist. Wie Wilber deutlich macht, resultiert aus Verschmelzung alles andere als Freiheit. Vielmehr ist es

»… genau umgekehrt. Verschmelzung ist Gefangenschaft – man wird von allem beherrscht, was man noch nicht transzendiert hat.« (ebd.)

Abgesehen von diesen Zusammenhängen zu Friedlaenders Konzept der Polaritäten und der schöpferischen Indifferenz gibt es m. E. noch einen spezifischeren Zusammenhang. Dies soll an folgendem Zitat von Frambach in Erläuterung von Friedlaender deutlich werden: »∞ zu sein, genügt nicht; man soll es auch (polariter) werden« (Friedlaender 1986, 18). Die Lebenskunst, die aus der indifferenten Mitte erwächst, besteht prinzipiell in einem Balancieren der polaren Gegensätze, einem Äquilibrieren. Es kommt darauf an, sich nicht einseitig und schief von einem Pol vereinnahmen zu lassen, sondern sich frei in deren Mitte zu zentrieren und sie beidseitig gleichsam wir Flügel zu regen. Eine unvoreingenommene »Gleichgern-Bereitschaft« (Friedlaender 1918, 439 u. 479), ein Gleich-Mut, kennzeichnet den Menschen, der in seiner indifferenten Mitte zentriert ist gemäß dem einen Grundgebot des »weltschwangeren Nichts: Es verbietet nichts Bestimmtes, nur das Fehlen des Gleichgewichts zwischen polar Bestimmtem« (ebd. 144). Es geht konkret z. B. darum, dass Zorn und Sanftmut nicht als sich ausschließende Widersprüche voneinander isoliert werden, sondern als polar-differenzierte Gegensatzeinheit gelebt werden, indem man flexibel in ihrer indifferenten Mitte zentriert ist. So kann man »elastisch identisch« (ebd. 195) bleiben und aus einer »Totalität des Erlebens« (ebd. 147) heraus frei beweglich auf die jeweilige Anforderung der Situation angemessen zornig oder sanft reagieren (Frambach 2001, 301).

Zunächst zum Beginn dieses Zitats: Prägnanter kann man wohl nicht deutlich machen, dass es um das Leben und Erleben aller Pole geht. Keiner der Zustände oder Phasen wird als endgültiges Ziel angestrebt, sondern es geht um die Bewegung von einem zum anderen – und nichts anderes ist der Prozess der holarchischen Entwicklung.

In der weiteren Beschreibung liest sich Frambachs Erläuterung Friedlaenderscher Philosophie jedoch im Grunde wie eine exakte Beschreibung des GELBEN Memes: im Selbst so sicher verankert zu sein (»in der indifferenten Mitte zentriert«), dass man über alle Errungenschaften der vorherigen Memes verfügen kann und diese situativ verantwortlich auswählt (»elastisch identisch«) – das ist eine Werteorientierung und ein Denken der zweiten Ordnung – also mindestens die integrale Ebene bzw. GELB!

Woran erkennt man aber eigentlich genau, ob man selbst oder jemand anderes nun aus integraler Bewusstheit heraus Position bezieht, Entscheidungen trifft und zur Handlung kommt oder ob es sich um ein Mem erster Ordnung handelt, von dem aus man all das tut? Oder anders formuliert: Wie macht es sich bemerkbar, dass bzw. ob jemand in der Lage ist, auf eine solche »elastische Identität« zurückzugreifen?

Konsequenzen aus der Integration von Polaritäten

Betrachtet man allein das Verhalten (beschränkt sich also nach dem Quadrantenmodell von Wilber auf die beiden rechten Quadranten), so kann man erkennen, was jemand tut, aber man erfährt nichts über seine Motive. Für eine Zuordnung zu den aktiven WMemen ist jedoch nur letzteres ausschlaggebend, also die Frage nach dem »Warum«? Das gilt, wie gesagt, für alle WMeme (vgl. Beck & Cowan 2011, 64, 67). Entsprechend ist auch beim Umgang mit Polaritäten nicht allein durch äußere Beobachtung zu erkennen, ob jemand dies aus einem gelben WMem heraus tut oder ob dies aus einem WMem erster Ordnung resultiert. Da das gelbe WMem darüber hinaus ja per Definition über alle Möglichkeiten der vorherigen WMems verfügen kann, wäre äußere Beobachtung ohnehin nicht hilfreich.

So bleibt man auf das Erforschen der Motive angewiesen, doch heißt das auch, dass beispielsweise ein Therapeut oder Berater (wenn wir von einem professionellen Kontext ausgehen) selbst mindestens seinen eigenen Entwicklungsschwerpunkt auf GELB haben muss. Denn sonst fehlt die Einsicht in die Phänomenologie gelber WMeme. Es kann daher zusätzlich irritierend und auch verletzend sein, wenn Klienten, die bei einem Therapeuten oder Berater Orientierung suchen, aufgrund bestimmter Entscheidungen oder Verhaltensweisen auf einem WMem erster Ordnung angesiedelt werden und ihnen möglicherweise ein »Rückschritt« attestiert wird, sie tatsächlich aber gerade erste Erfahrungen mit der integralen Ebene machen. Wilber stellt sogar fest,

»dass die Entwicklung des Denkens des zweiten Ranges mit viel Widerstand von seiten des Denkens des ersten Ranges konfrontiert ist. In der Tat hat … eine Version des postmodernen grünen Mems mit seinem Pluralismus und Relativismus aktiv das Auftauchen von mehr integrativem und holarchischem Denken bekämpft.« (Wilber 2006, 70).11

Was die innere Realität von jemandem auf integraler Stufe betrifft, so stellt sich bald ein deutliches Empfinden von Freiheit ein angesichts der gleichwertigen Wahlmöglichkeiten, die nun zur Verfügung stehen. Damit verbunden ist auch eine wesentliche Transformation, was die Ängste betrifft. Beck und Cowan zitieren dazu noch einmal ihren Mentor Clare W. Graves:

»Nachdem die menschliche Erkenntnis von begrenzten, tierähnlichen Bedürfnissen und den zwingenden Überlebensforderungen [BEIGE], von der Angst vor Geistern [PURPUR] und anderen räuberischen Menschen [ROT], von der Angst, die geheiligte Ordnung zu verletzen [BLAU], von der Angst vor seiner Gier [ORANGE] und von seiner Angst vor sozialer Ablehnung [GRÜN] eingeengt war, ist sie nun plötzlich frei. Da seine Kräfte jetzt frei für eine Aktivierung des Denkens sind, kann sich der Mensch auf sein Selbst und seine Welt konzentrieren [GELB, TÜRKIS usw.].« (Beck & Cowan 2011, 103)

Integration von Polaritäten – eine unendliche Geschichte

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man nun meinen, mit spätestens der integralen Ebene bzw. GELB habe sich mit der Integration von Polarität dieses Phänomen sozusagen ein für allemal erledigt. Das stimmt jedoch nur zum Teil. Denn wenn wir uns an den holarchischen Charakter der Entwicklungsmodelle erinnern, folgt auch eine transzendierte Polarität diesem Prinzip, d. h. auch transzendierte Polarität ist nicht nur Ganzes, sondern wieder Teil eines höheren Ganzen! Man könnte also sagen, dass die Polaritäten erster Ordnung mit Auftreten der zweiten Ordnung (also beginnend mit GELB) transzendiert werden, um auf den Ebenen zweiter Ordnung nun einen Pol einer neuen Polarität einzunehmen. Wäre das nicht der Fall, wäre GELB bereits eine Ebene der vollkommenen Erleuchtung, wovon natürlich nicht die Rede sein kann.

Dass sich auf den Ebenen der zweiten Ordnungen auch die Herausforderungen gewissermaßen wiederholen, um auf den neuen Ebenen wiederum mit neuen Möglichkeiten bewältigt zu werden, dafür stehen auch die grundlegenden Überlegungen von Beck & Cowan über Prinzipien ihres Entwicklungsmodells. So stellen sie fest, dass die WMeme in Sechser-Ordnungen auftreten, und führen dazu aus:

Gelb, die erste Seinsebene (und keine Überlebensebene mehr), eröffnet die zweite Ordnung … der WMeme mit einer Reprise der sechs Grundthemen unserer Geschichte – erneut geht es zuerst ums Überleben, aber diesmal im Kontext der hochmobilen Informationsgesellschaft des globalen Dorfs. Das achte (türkise) System ist eine Wiederholung des zweiten, aber in einer komplexeren Größenordnung – Megastämme, Megatrends und Megaschocks, die mit allem angefüllt sind, was in der ersten Ordnung (First Tier) geschehen ist. Hält dieser eigenartige Sechs-auf-sechs-Aspekt weiter an, dann wird die neunte Ebene (Koralle) eine Version der roten dritten Ebene sein.« (Beck & Cowan 2011, 105).

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