Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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Z serii: EHP-Praxis
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Schlussüberlegungen

Wenn es um die Bedeutung von Friedlaenders Philosophie für die Gestalttherapie geht, stellt sich schließlich noch eine Frage: Was hat Fritz Perls wirklich davon verstanden? Wie gut hat er sich in diesen philosophischen Ansatz von schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung vertieft? Was hat er gelesen? Wenn man einen normalen wissenschaftlichen Maßstab anlegt, dann ist das ausgesprochen dürftig. Perls hat Friedlaender kein einziges Mal wörtlich zitiert. Er hat die meisten Zusammenhänge, die ich anführe, wie den von der 4. Phase im »Fünf-Schichten-Modell« oder des Grundes mit der Schöpferischen Indifferenz, nicht explizit formuliert, geschweige denn ausgearbeitet. Aber das hat er mit seinen anderen Quellen, sei es Gestaltpsychologie, Holismus, Psychoanalyse, Organismustheorie von Goldstein, Phänomenologie, Existenz-Philosophie, Zen, usw. auch nicht getan! An normalen wissenschaftlichen Maßstäben gemessen ist Perls ein oberflächlicher Dilettant. Von Friedlaender hat er wahrscheinlich nur die Schöpferische Indifferenz gelesen. Wie genau, das kann niemand sagen. Was bedeutet es da, dass er sich von seiner ersten bis zu seiner letzten Veröffentlichung einige Male so prägnant und klar zu Friedlaenders Bedeutung für ihn bekennt? »Die Orientierung an der schöpferischen Indifferenz ist einleuchtend für mich. Ich habe dem ersten Kapitel von Das Ich, der Hunger und die Aggression nichts hinzuzufügen.« (1969, 80) Worin besteht der »tremendous impact« (Perls 1969, 74), den Friedlaender auf ihn hatte? Mit normalen wissenschaftlichen Kriterien wird man Perls nicht gerecht. Er war kein Wissenschaftler, kein systematisch gründlich denkender Mensch. Er war vor allem ein psychotherapeutischer Praktiker, ein »Aktionstyp« (Naranjo in diesem Band). Und er hatte ein ausgeprägtes Gespür, einen »Riecher« (Frambach 1996a, 41), »a keen nose« (Stoehr 1994, 81) für fruchtbare geistige Konzepte und Ideen.

»Fritz war ein ungeduldiger Genius. Sein Gründen in Ideen war niemals tief, aber er wusste augenblicklich was er von einer Theorie anderer nutzen konnte. Er vertraute seiner eigenen Intuition um Dinge auszusortieren, und scherte sich wenig darum die Einsichten zu systematisieren, die er aus anderen Gärten gepflückt hatte.« (Stoehr 1994, 52; Übers. LF)

Er hat sich intuitiv, fast möchte ich sagen instinktiv, mit diesen verschiedenen Ansätzen befasst, sie aber nie systematisch durchgearbeitet und integriert. Er ist der Typus eines charismatischen Praktikers, aber durchaus nicht ohne einen breiten intellektuellen Hintergrund. Seine provokativ anti-intellektuellen Äußerungen sind nicht als pauschal grundsätzliche Kritik zu verstehen, sondern sind »gegen eine erfahrungsferne Vermeidungs-Intellektualität gewandt, gegen eine entfremdende, aufgesetzte akademische Sprach- und Denk-Dressur.« (Frambach 1996a, 45) Perls war ein schwieriger Charakter, spannungsreich, widersprüchlich und unruhig. Das spiegelt sich auch in seiner Theoriebildung. Vieles steht relativ unverbunden nebeneinander. Man muss Perls besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Ein Anspruch, der auf den ersten Blick vermessen klingt, auf den zweiten aber schlicht notwendig ist. Alle Gesamtdarstellungen der Gestalttherapie sind in hohem Maße Interpretationen, konstruieren Verbindungen zwischen unverbundenen Theorieaspekten. Für mich besteht die wichtigste Klammer, um diese Theorieaspekte zu verbinden, in Friedlaenders Philosophie schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung. Um Friedlaenders Einfluss auf die Gestalttherapie zu erkennen, muss man strukturell denken, dieses Grundmuster in den Konzepten entdecken. Dass Perls Friedlaender auch in seiner Tiefendimension zumindest ansatzweise erfasst hat, das scheint für mich besonders in seinen Bemerkungen zur Leere und zum Nichts auf, die natürlich auch von anderen Quellen gespeist sind. »Nichts kommt Wirklichkeit gleich.« (Perls 1974, 65) Man kann das natürlich auch anders sehen. Mit seinen eher aphoristischen Äußerungen lässt Perls viel Spielraum für Interpretationen.

Für mich persönlich ist die Philosophie von Friedlaender eine grundlegende geistige Inspiration. Nicht nur im Blick auf die Gestalttherapie, weit mehr noch für mein Verständnis von Mystik, das für mich zentral ist für das Verstehen von Wirklichkeit überhaupt, nicht nur im religiösen Sinne. Darum habe ich das hier so ausführlich dargestellt. Oder im Blick auf das für Ökologie und gesellschaftliche Entwicklung fundamentale Thema von Maß und Mitte (Frambach 1997).

Friedlaender ist ein eminent auf sein Thema konzentrierter Denker, weil er überzeugt ist, dass es nichts Grundlegenderes gibt als dieses Thema: die schöpferische Indifferenz oder wie er es sonst nennen mag. Und seine Philosophie war für ihn Lebensphilosophie, hat ihn existenziell getragen, sich bewährt in den schwierigsten Situationen, im Exil in Paris, von den Nazis bedroht, krank alleingelassen in seiner kleinen Wohnung. »Meine Philosophie ist gar keine Philosophie mehr, sondern das Leben selber. (F/K 1986, 11).

Friedlaender ist ein Mann des Wortes, ein homme de lettres, als Philosoph, als Literat. Mir waren immer auch andere Formen der Praxis wichtig, wie die Psychotherapie oder die Meditation. Aber dafür hat er Erhellendes gedacht und geschrieben. Besonders sein grundlegendes Verständnis von Polarität als »oppositiv homogen« ist für mich immer wieder geistig anregend und in allen Aspekten des Lebens zu entdecken. »Der starke Mensch vereint in sich eine lebendige Mischung starker Gegensätzlichkeiten.« (M. L. King 1978, 11) Das Prinzip der Polarität ist einfach, aber keineswegs simpel. Oft werden falsche Pole gebildet, wie Ruhe und Bewegung: »Ruhe ist Zero der extremen Bewegung, nicht ihr Gegenteil, das vielmehr in der umgekehrten Bewegung zu finden wäre.« (GS10, 532) Oder Krieg und Frieden:

»Der Friede aber ist kein Gegensatz zum Krieg, nicht dessen anderer Pol, sondern dessen Sinn, Seele, Individuum; das schöpferische Zentrum aller Diametrik. Der Friede bedeutet die Überwindung des Krieges, keineswegs im Sinne von Vernichtung, sondern von gleichsam musikalischer Beherrschung und Besiegung alles Widerstreits.« (GS10, 103)

Oder Gut und Böse:

»Das Echte, Gesunde, Wahre, Schöne, Gute, mit einem Wort: Gott – ist kein Pol, sondern die zentrierende, harmonisierende Macht, von der die Pole, die sonst zwieträchtig, also eben falsch, hässlich, böse disharmonisieren, zur Konkordanz gezwungen werden. Im Gewölbe der menschlichen Spannungen bewirkt erst dieser Schlußstein den vollendeten Halt.« (F/M, Das magische Ich, 142)

Kurz und gut: Friedlaenders Philosophie Schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung ist keinesfalls eine »obskure Quelle« der Gestalttherapie (Wheeler 1993, 60), sondern ein ausgesprochen inspirierend-tiefgründiger und vielseitiger philosophischer Ansatz, dessen Bedeutung weit über die Gestalttherapie hinausgeht.

Martina Gremmler-Fuhr
Die Idee von Polarität im Integralen Gestalt-Ansatz (INTEGA)
Einführung

Die philosophische Idee der Polarität hat eine lange Geschichte und fand Eingang in den Gestalt-Ansatz1 über Salomo Friedlaender.2 Sie ist heute in vielen Gebieten der Wissenschaften zu finden und natürlich auch in psychologischen Konzepten vertreten. So basiert zum Beispiel in dem Klassiker von Fritz Riemann (1981), Grundformen der Angst, die Grundstruktur der Typologie auf Polaritäten, aber auch in verschiedenen entwicklungspsychologischen Ansätzen, beispielsweise Robert Kegans Entwicklungsstufen des Selbst, ist eine polare Grundstruktur wesentlich (vgl. Kegan 1986). Im Gestalt-Ansatz ist beispielsweise das Figur-Hintergrund-Konzept polar, und auch die Kontaktfunktionen lassen sich – auch um ihrer Prozesshaftigkeit oder Dynamik gerecht zu werden – in Polaritäten ausdifferenzieren, indem man sie beispielsweise der Grundpolarität Eigenständigkeit und Zugehörigkeit (z. B. Kegan ebd.) zuordnet (vgl. Fuhr & Gremmler-Fuhr 1995, 119–129). Als Grundprinzip der Darstellung ist es aber auch beispielsweise in den Praxisprinzipien der Gestalttherapie verwendet worden (vgl. Fuhr 2001a).

Eine polare Grundstruktur spielt auch in der Integralen Philosophie eine besondere Rolle, die ich zusammen mit Reinhard Fuhr auf der Grundlage von Ken Wilbers Arbeiten, vor allem Eros, Kosmos Logos und Integrale Psychologie (Wilber 1996, 2006) mit dem Gestalt-Ansatz zum INTEGA (Integraler Gestalt-Ansatz) verbunden habe. Besonders zentral ist dabei zum einen die Holarchie der Entwicklung, zum anderen das Quadrantenmodell. Beide zusammen ergeben bei Wilber das AQUAL-Modell (all quadrants all levels), ein umfassendes Orientierungssystem für Entwicklung, das westliche und östliche Erkenntnisse zusammen zu führen versucht.

Beim Quadrantenmodell handelt es sich um ein Konstrukt, das versucht, vier gleichwertige Perspektiven von Realität metatheoretisch abzubilden. Die vier Perspektiven ergeben sich aus den Polen von Innen und Außen, sowie den Polen Individuell und Kollektiv. So ergeben sich vier Quadranten, mit den Perspektiven Innen-Individuell (der obere linke Quadrant, OL), Innen-Kollektiv, (unterer linker Quadrant, UL), Außen-Individuell (oberer rechter Quadrant, OR) und Außen-Kollektiv (unterer rechter Quadrant, UR).


Abb. 1: Quadrantenmodell I, (nach Wilber 1996)

© Gremmler-Fuhr 2008

Jeder dieser Quadranten hat aufgrund seiner Perspektive auf ein Phänomen seine spezifische »Erkenntnismethode«, so zum Beispiel OL die dialogische Interpretation, OR die empirische Untersuchung. Entsprechend gibt es für jeden Quadranten einen spezifischen »Erkenntnisgegenstand«, z. B. für OL innere subjektive Prozesse und für OR beobachtbares Verhalten und Sachverhalte. Und schließlich gelten auch für jeden Quadranten spezifische Wahrheitskriterien, beispielsweise für OL Wahrhaftigkeit und für OR Objektivität. In Abbildung 2 ist ein vollständiger Überblick für alle vier Quadranten3 dargestellt.

 

Abb. 2: Quadrantenmodell II, vier Perspektiven der Wirklichkeit und ihre spezifischen Erkenntnisweisen, Erkenntnisgegenstände und Wahrheitskriterien (nach Fuhr & Dauber 2002, 22)

© Gremmler-Fuhr 2012

Neben dem Quadrantenmodell führte ich als zweites wichtiges Modell, das wir aus der Integralen Philosophie in den Integralen Gestaltansatz eingefügt haben, die Holarchie der Entwicklung an.

Aus der westlichen Welt sind darin beispielsweise Systeme von Jean Gebser (Kultur), Abraham Maslow (Bedürfnisebenen), Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan (moralische Entwicklung), Clare W. Graves (Persönlichkeitsentwicklung) und Don Edward Beck und Christopher C. Cowan (Werte, Führung und Wandel) eingeflossen. In der Terminologie zum Integralen Gestalt-Ansatz nehmen wir Bezug auf Gebser mit dem Ebenenmodell zu Weltsichten, beginnend mit archaisch, weiter über magisch, mythisch, mental bis zur integralen Weltsicht, aber vor allem auch auf die farbliche Bezeichnung und Erläuterungen, wie sie von Beck und Cowan in Spiral Dynamics (2011, s.u.; vgl. auch Abbildung 3; vgl. auch Anmerkung 4) benutzt werden.

Wie nicht nur oben auszugsweise erwähnt, sondern darüber hinaus in diesem Buch in anderen Beiträgen hinreichend ausgeführt, hat also die polaristische Philosophie in den Gestalt-Ansatz Eingang gefunden. Daher werde ich mich im Folgenden schwerpunktmäßig auf das konzentrieren, was Reinhard Fuhr und ich aus der Integralen Philosophie für den Integralen Gestalt-Ansatz übernommen und für unsere Zwecke aufbereitet haben. Und natürlich werde ich dabei besonders herausarbeiten, welch wichtige Bedeutung der philosophischen Grundidee der Polaritäten zukommt.

Zur Rolle von Polaritäten in der Holarchie der Entwicklung und im Quadrantenmodell

Die Holarchie der Entwicklung, auf die ich mich hier beziehe, ist ein Ebenen- oder Stufenmodell, das holarchisch aufgebaut ist und in das eine Vielzahl von östlichen und westlichen Forschungen und Traditionen eingeflossen sind. Wilber hat eine beeindruckende Arbeit geleistet, indem er in vielen Veröffentlichungen seine Forschungsergebnisse dazu dargestellt hat (vgl. 1996, 2006). Die Holarchie der Entwicklung ist ebenso wie das Quadrantenmodell ein komplexes Konstrukt mit vielen Implikationen, die hier nicht im Einzelnen hergeleitet oder dargestellt, ja nicht einmal erwähnt werden können, wenn ich noch zum eigentlichen Gegenstand dieses Beitrags kommen möchte4 – der Idee von Polaritäten!

Das Phänomen Polarität ist für die Holarchie der Entwicklung und auch für das Quadrantenmodell (dessen Perspektiven ja nichts anderes sind als Pole von zwei grundlegenden Polaritäten) ein wesentliches Charakteristikum. So ist beispielsweise bereits der Grundbaustein der Entwicklungsholarchie, das Holon, mit seiner ›Doppel-Identität‹ vom Ganzen/Teil-eines-größeren-Ganzen von polarer Struktur. Aber auch in einem inhaltlichen Charakteristikum weist die Entwicklungsholarchie (sei es bei Wilber oder auch beispielsweise bei Kegan oder nicht zuletzt bei Beck & Cowan, die von einer Spirale sprechen) eine sehr interessante Polarität auf, auf die ich hier näher eingehen möchte:

Ich spreche von der Ur-Polarität von Eigenständigkeit und Zugehörigkeit, wie sie sich durch die Kulturgeschichte der Menschheit zieht und in vielen Arbeiten so oder in ähnlichen Begriffen erwähnt wird. Sie trägt dem Phänomen Rechnung, dass Menschen ebenso das Bedürfnis nach Zugehörigkeit wie nach Eigenständigkeit haben – etwas, was wie ein Widerspruch anmutet, jedoch bei genauerer Betrachtung eine Polarität darstellt!

Bereits Robert Kegan wies in seinem als Spirale dargestellten Entwicklungsmodell (1986) explizit darauf hin, dass diese Polarität von Zugehörigkeit und Eigenständigkeit eine wesentliche Komponente der Entwicklung darstellt. Er stellt fest, dass diese beiden Bedürfnisse miteinander in Konflikt liegen, dass eine Spannung zwischen beiden besteht (ebd. 150). Auf einer jeden Entwicklungsstufe, so Kegan, wird dieser Konflikt nun neu und entsprechend der Möglichkeiten beantwortet. So weit, so gut – aber es gibt eine interessante Regelmäßigkeit bei dieser wiederkehrenden Lernherausforderung durch die Stufen hindurch. So schreibt Kegan:

»Auf jeder Stufe wird der Konflikt anders bewältigt. Der gesamte lebensgeschichtliche Entwicklungsprozess, den ich verfolgt habe, ist ein ständiger Wechsel zwischen Stufen, in denen der Konflikt zugunsten der Unabhängigkeit gelöst wird und Stufen, die zugunsten der Zugehörigkeit ausfallen.« (ebd. 150)

Für eine Darstellung dieser Abfolge müssen wir nun zu einer Bezeichnung für die Ebenen oder Stufen kommen. Ich wähle eine Mischung aus Benennungen dessen, was die Selbstentwicklung und die Weltsicht auf einer jeweiligen Stufe charakterisiert und verwende darüber hinaus den Farbcode, den Beck & Cowan für ihre Spiral Dynamics5 etabliert haben (Beck & Cowan 2011, 106 f.)

Eine erste grobe Einteilung der Entwicklung kann in die drei Bereiche präpersonal, personal und transpersonal vorgenommen werden, die jeweils noch einmal in drei Stufen oder Ebenen unterteilt werden – ich werde die einzelnen Stufen hier nur kurz skizzieren, damit ich im weiteren Verlauf zeigen kann, wie jeweils stufenspezifisch mit der Ur-Polarität und Polaritäten im Allgemeinen umgegangen wird:

BEIGE: archaisch, instinkthaft, physisches Selbst, es geht ums nackte Überleben; zu finden in der frühen Menschheitsentwicklung bzw. bei Neugeborenen und Demenz im späten Stadium

PURPUR: magisch, glaubt an und folgt Geistwesen, emotionales Selbst, ist abhängig und ergeben gegenüber Autoritäten, versucht durch Rituale das Schicksal zu beeinflussen

ROT: mythisch, es gilt das Recht des Stärkeren, der Respekt von Schwächeren fordert, hochgradig egozentrisch, impulsiv, mentales Selbst grenzt sich ab, präoperatives Denken; z. B. in Trotzphase und bei rebellierenden Jugendlichen;

BLAU: konventionell, Ordnungen, Recht und Regeln sind wichtig, Rollen können eingenommen werden (Rollen-Selbst), konkret-operatives Denken; erste personale Stufe

ORANGE: zweckrational, Leistungs- und Erfolgsorientiert, man handelt strategisch, ist fortschrittsgläubig und konkurrenzorientiert; reflexives Selbst, identifiziert mit eigener Leistung

GRÜN: relativistisch, postmodern, sensitives Selbst; Gemeinschaft, Konsens, Sensibilität, Ökologie und Spiritualität sind wichtig

GELB: integral, autonomes Selbst; Eigenverantwortung in Interdependenz, prozesshafte Entscheidung situativ verantwortet; Kompetenz und Reife werden wichtiger als Rang, Macht und Status

TÜRKIS: holistisch-globales Selbst; das Selbst ist sowohl »klar unterschiedener als auch ein mit einem größeren, mitfühlenden Ganzen verbundener Teil … alles verbindet sich in ökologischer Ausrichtung mit allem … Energie und Information durchdringen die gesamte terrestrische Umwelt … holistisches, intuitives Denken und kooperatives Handeln sind zu erwarten« (Beck & Cowan 2011, 76)

KORALLE: Beck und Cowan (ebd.) schreiben dazu lediglich die eine Bemerkung: »Koralle ist diesen beiden Autoren immer noch unklar« (ebd.), was konsequent ist, wenn man davon ausgeht, dass diese Stufe noch nicht real vorkommt. Wilber wählt hier Bezeichnungen wie »formlos«, »nichtduale Mystik«, »beständig andauerndes Bewusstsein« (Wilber 2006, Tafel 6a)

Damit haben wir die Grundlagen geschaffen, um den Verlauf der Polarität Eigenständigkeit und Zugehörigkeit durch die Entwicklungsholarchie zu verfolgen (vgl. Abb. 4).


Abb. 3: Entwicklungsholarchie

© Gremmler-Fuhr 2012

Beginnen wir mit der BEIGEN Entwicklungsstufe6, der ersten, die angenommen wird und mit allerersten Differenzierungen aus einem undifferenzierten Sein startet. Auf dieser ersten Ebene vom Bewusstsein von Eigenständigkeit zu sprechen, ist sicher nicht sehr glücklich. Aber wo das Selbst so wenig abgegrenzt ist und es tendenziell immer um das nackte Überleben geht, ist das Leben gleichermaßen asozial und abhängig. Mit anderen Worten: Man ist im Extremfall beim Überleben angewiesen auf Hilfe weiter entwickelter oder gesünderer Anderer (bspw. als Säugling oder als Demenzkranker) bzw. der eigene Organismus ist zunächst primär damit beschäftigt, sich selbst zu erhalten (statt sich um andere zu kümmern oder für andere zu interessieren). Insofern ist hier sicher nicht die Gemeinschaft im Vordergrund, sondern individuelle grundlegende Interessen.

Dies ändert sich auf der PURPURNEN Stufe deutlich, denn nun versucht man, seine soziale Isolation zu überwinden, seine Bedürfnisse nach Sicherheit, seine Angstbewältigungen und seine Sehnsüchte in Beziehung zu anderen zu realisieren. Ursprünglich neue Erfahrungen dieser Stufe werden zunehmen, man bildet neue Gewohnheiten aus, Muster werden gelernt, und das Selbst integriert die Erfahrungen dieser Stufe. Darauf folgend werden die für die ROTE Stufe typischen neuen Herausforderungen oder auch Konflikte deutlich, und neue Antworten, Kompetenzen und Bewältigungen müssen gefunden werden. Das Selbst lernt sich nun wieder deutlich von der Gemeinschaft abzugrenzen, die eigene individuelle Identität steht stark im Vordergrund und wird weiter entwickelt; ein mentales Selbst entsteht, man ist ego-gebunden und der eigenen Sicht verhaftet. Dies ändert sich dann auf der BLAUEN Stufe wieder, und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit kommt erneut zum Zuge, das Selbst entwickelt seine sozialen Kompetenzen weiter; es lernt, das zuvor in seiner Stärke entwickelte Ego wieder zurück zu nehmen und sich in der Gemeinschaft anzupassen, über das sich das Selbst auch definiert. Doch die Ego-Entwicklung ist noch nicht genügend gereift, als dass sie hier so einfach abgeschlossen sein könnte. Sie verschafft sich auf der ORANGEN Stufe erneut die primäre Beachtung. Hier erfährt sich das Selbst wieder in seinen individuellen Möglichkeiten, der Einzelne kann nun seine rationalen Kompetenzen anwenden und ausbauen und seine erfolgsorientierten Bestrebungen, seine Freude an Leistung und Wettbewerb ausleben – ein personales Selbst entsteht.

Am Ende der ORANGEN Ebene hat das Selbst fünf große Entwicklungsstufen durchlaufen. Bei Beck & Cowan und auch bei Kegan scheint sich das Pendeln der Polaritäten durch die Stufen hinweg fortzusetzen, das heißt, auf der GRÜNEN Stufe wäre jetzt wieder der Pol der Zugehörigkeit im Vordergrund. Dafür spricht natürlich, dass hier tatsächlich Gemeinschaft ein hoher Wert ist, dass das Bewusstsein ökologisch oder weltzentrisch wird usw. Andererseits – und das ist nicht sekundär – geht es auf GRÜN um Selbstverwirklichung, um das Aufspüren und Realisieren der eigenen Bedürfnisse.

Daher stelle ich die Hypothese auf, dass nun auf GRÜN ein spektakulärer Prozess seinen Anfang nimmt: die Integration von Polaritäten.