Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie

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Perls im Bohèmekreis um Salomo Friedlaender/Mynona

»Indeed, if Otto Gross was Expressionism’s psychoanalytical theorist and Kurt Hiller its political activist, then Friedlaender was its philosopher.«

(Taylor 1990, 118)

Im Lebenskontext der sogenannten Bohème trafen die Außenseiter aufeinander und fanden im besonderen Großstadtkontext und in den besonderen Experimentierzeiten der Weimarer Republik Bewegungsspielraum und Erfolg. Zudem war es dieses Umfeld, in dem Juden und Deutsche auf dem Boden einer gemeinsamen Opposition gegen das Bestehende und mit der Hoffnung auf ein anderes und besseres Leben zusammenlebten und zusammenarbeiteten. Der universitär-akademische Raum eignete sich weniger, da er von der bürgerlichen deutschen Jugend und ihrer Hinwendung zu völkischen Erlösungsideen, die nicht ohne Antisemitismus auskamen, dominiert war.

Die kulturelle Avantgarde brauchte die soziale Großstadtwelt als Lebensraum und nahm entsprechend das Phänomen Metropole kritisch positiv an. Im Großstadtkontext entstand eine subkulturelle Infrastruktur, die aus Cafés, Kneipen, Ateliers, Galerien und bevorzugten Wohngegenden bestand. Die Annahme der Großstadt als Lebenskontext stellte einen wichtigen Unterschied zur sogenannten deutschen Jugendbewegung dar, in der sich ein bedeutender Teil der bürgerlichen Jugend schon vor dem ersten Weltkrieg gesammelt hatte. Die Jugendbewegung, insbesondere der »Wandervogel«, hatte sich dem einfachen Leben zugewandt und propagierte das Wandern in der Natur. Sie setzte damit und mit der Betonung des Gemeinschaftlichen, die allerdings auch bis zu völkischen Einstellungen reichte, einen Kontrapunkt zur Großstadt, die als negativ und das heißt als monströs, hektisch, zerstörerisch, materiell und multiethnisch erlebt wurde. Sich hiervon abgrenzend schrieb der Berliner Großstadtliterat Kurt Hiller: »Alles, was Zupfgeigenhansel hieß, war für uns restlos komisch. Die Natur war uns nicht gleichgültig, doch wir waren aufs betonteste ›asphalten‹«. (Hiller in Hepp 1992, 140) Betont »asphalten« war auch Fritz Perls, den seine Frau um 1925 als einen »Berlin city boy«kennen lernte, der mit Motorrad und Lederjacke durch die Stadt fuhr und anscheinend lose Kontakte »zu allen möglichen Künstlern, Poeten, Schauspielern, zu Schriftstellern und zum Theater« (L. Perls 1997, 50) hatte:

»Er hatte keinen Kontakt zur Natur, […] das war für ihn etwas ganz Neues. Ich glaube, er kannte die Natur nur aus den Schützengräben, und draußen zu sein war für ihn etwas ganz Unangenehmes.« (ebd., 50)

Fritz Perls zog, zusammen mit einigen anderen jungen Ärzten, die Bohèmekreise dem standesgemäßen Umfeld der deutschen Ärzte vor. Er bezeichnete diese in ihrer Mehrheit als verkrampft, und mit ihren »Masken äußerster Respektabilität« (Perls 1981, 78) zählten sie für ihn zur »die Nase-hoch-tragenden-gehobenen-Mittelklasse-Bourgeoisie« (ebd.). Die Außenseiterkultur bot andere Anregungen und Perspektiven. Bevor Perls sich ab Mitte der Zwanziger-Jahre in die kleine Gruppe der Berliner Psychoanalytiker und dann in den Umkreis der Kulturorganisationen der Kommunistischen Partei begab, orientierte er sich innerhalb der Berliner Bohème an Salomo Friedlaender. Noch in den späten Erinnerungen von Perls vermeine ich, seine mit dieser Zeit verbundene Faszination und Hoffnung herauszuhören:

»1922 – Neuer Anfang. Sehr aufregend. Wir-Wir! Ich vergrößere die außerfamiliare Welt. Wir: Bohemiens, auf ungewöhnlichen Wegen. Schauspieler, Maler, Schriftsteller. Eine neue Welt schaffen. Bauhaus, Brücke, Dadaismus – Neue Sachlichkeit. Entdecke einen Guru: S. Friedlaender.« (F. Perls 1993, 6)

Ein Guru ist eine Leitfigur, die freiwillig gewählt wird, in der Hoffnung, dass sie einen auf dem eigenen Weg ein Stück voranbringt. Friedlaenders Buch Schöpferische Indifferenz von 1918, das Ludwig Marcuse zu den vier wichtigsten Veröffentlichungen dieses Jahres zählte, hatte einen starken Einfluss auf ihn. In dieser Zeit hatte Perls sich mit Philosophie beschäftigt:

»Philosophie war ein magisches Wort, etwas, das man verstehen musste, um sich selbst und die Welt zu verstehen. Ein Gegengift für meine existenzielle Konfusion und Verwirrung. Intellektualismus hat mir nie Schwierigkeiten bereitet.« (Perls 1981, 79)

Lore Perls erinnerte in Bezug auf die ersten Begegnungen 1925: »Da war ein Typ, den ich mochte, intelligent, klar und originell in den kleinen Dingen.« (L. Perls 1997, 49) Was ihn all die Jahre in den künstlerischen Kreisen am Rand stehen ließ, inmitten Gleichaltriger und sogar Jüngerer, die als Künstler ihre eigne Ausdrucksform in diesen Jahren oft schon gefunden hatten, wird durch die Erinnerung von Lore Perls deutlich: »Zu dieser Zeit hatte seine Kreativität keinen bestimmten Fokus. Er war kreativ im Reden.« (ebd.)

Perls’ persönliche Entwicklung verlief langsam, unterbrochen von schweren Krisen, aus denen er sich immer wieder herausarbeitete und dann weiterging. Erst in den letzten Lebensjahren hatte er seine Ausdrucksform, seinen Stil, nicht »die« Gestalttherapie, aber seine Gestalttherapie als therapeutisch-dramatische Ausdrucksform gefunden. Da Sprache ihm in den frühen Zwanziger-Jahren wichtig war, muss der Eindruck Mynonas, der ein wahrer Sprachkünstler war, überwältigend gewesen sein. In der Tat schrieb Perls:

»Als Persönlichkeit war er der erste Mann, in dessen Gegenwart ich mich niedrig fühlte und in Bewunderung verneigte. Es gab keinen Raum für meine chronische Arroganz.« (Perls 1981, 79)

Wichtig ist, dass Mynonas Polaritätsphilosophie dem innerlich Zerrissenen zum ersten Mal eine stabile Grundorientierung bot, 4 von der aus er sich weiter vortasten konnte.

Ein engerer Kontakt mit dem Friedlaenderkreis scheint sich gegen 1922 ergeben zu haben. Ich vermute, dass Perls sich nun als 29-jähriger Arzt mit Kriegserfahrung und sozialistischer Orientierung, mit etwas mehr Selbstbewusstsein in der Öffentlichkeit bewegte und Zugang zum engeren Kreis der Bohème fand, die sich nicht nur in Cafés, sondern auch in den privaten Räumen der Künstler traf. Perls schrieb, dass man sich »meist im Studio eines Malers« (1981, 79) traf: »Viele Philosophen, Schriftsteller, Maler, politische Radikale und einige ihrer Anhänger kamen dort zusammen.« (ebd.) Wahrscheinlich waren es die Wohnungen und Ateliers der mit Friedlaender befreundeten Maler Ludwig Meidner und Arthur Segal, in denen diese Treffen stattfanden.5 Die zum Berliner Dada gehörende Hanna Höch sprach beispielsweise von einem »Mynona-Segal-Kreis« (in Exner 1996, 249):

»Viele Jahre gab es bei dem Maler Arthur Segal an jedem ersten Montag des Monats ein ›jour fixe‹. Es wurde Tee gereicht, und sonst gab es nur geistige Nahrung. […] Den Mittelpunkt dieser Abende bildete Mynona Friedländer. Wenn sich nicht Partner oder Gegner auf philosophischer Ebene fanden, erging er sich in Feuerwerken von spitzfindigen, sarkastischen bis frivolen, immer geistvollen Kapriolen und Späßen.« (Höch in Exner 1996, ebd.)

Friedlaender beschrieb diese Abende in seinem Buch »Graue Magie. Berliner Nachschlüsselroman«, in dem er sich als Friedrich Salomon bezeichnet:

»Wie Öl von Wasser, mit dem man’s zusammengießt, so schied sich hier sehr bald die Bohème (zu der auch ein paar Dadaisten und der Spaßmacher Salomon gehörten) von der gutbürgerlichen Gesellschaft, die dem Treiben der andern wie einer Komödie mit halb geringschätziger Interessiertheit beiwohnte, während natürlich sie selber für die Zigeuner zur Zielscheibe des Spottes wurden. Dazwischen gab es einige mehr vermittelnde oder noch mehr entzweiende Elemente […]. – Das Haus war nur bis acht geöffnet; wer später kam, klopfte an die Fensterscheibe oder klatschte, pfiff und rief.« (Mynona 1989, 174)

Da dieses Buch im Jahre 1922 erschien, dem Jahr, das Perls als Eintrittsjahr in den Kreis um Mynona angab (vgl. Perls 1993, 6), will ich hier einige Personen nennen, die Mynona in verschlüsselter Form als Gäste der beschriebenen Abende erwähnt: die Schauspielerin Asta Nielsen, den Filmemacher Ernst Lubitsch, den Maler Ludwig Meidner, den Kritiker Alfred Kerr, den Leiter der expressionistischen Sturm-Galerie Herwarth Walden, die Schriftsteller Else Lasker-Schüler, Ludwig Rubiner und Theodor Däubler, den philosophischen Schriftsteller Hermann Graf von Keyserling sowie den Psychoanalytiker Ernst Simmel. Regelmäßige Teilnehmer waren außerdem die Dadaisten Raoul Hausmann, Hannah Höch und Kurt Schwitters (vgl. Exner 1996, 249). Zu Mynonas Freundes- und Bekanntenkreis zählten weiterhin: Walter Benjamin, André Gide, Magnus Hirschfeld, Karl Kraus, Gustav Landauer, Georg Lukács, Erich Mühsam, Romain Rolland und Joseph Roth (vgl. Frambach 1996, 10).

Friedlaender/Mynona war Anfang der Zwanziger-Jahre also für Fritz Perls die zentrale Orientierungsfigur, und ich will kurz an einem Beispiel aufzeigen, dass sich in diesen Jahren die Wege der progressiven Künstler in Berlin bei vielen Gelegenheiten überschnitten. Ich gehe davon aus, dass da, wo der »Guru« sich engagierte, auch der Schüler in nicht allzu weiter Entfernung zu finden war.

Im Rahmen der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), einer von Willi Münzenberg im Auftrag und in Kollaboration mit Lenin und der deutschen KPD 1921 aufgebauten überparteilichen sozialen Hilfsorganisation, wurde 1924 die ›Künstlerhilfe‹ gegründet. Anlass war, dass es, durch die Arbeitslosigkeit und die Ernährungsschwierigkeiten in dieser Zeit, einen ganz konkreten Mangel an Nahrungsmitteln und in der Folge Unterernährungssymptome bei Kindern wie alten Leuten, speziell aus der Arbeiterschaft, gab. Den Aufruf zur Beteiligung von Künstlern an der Hilfe für die von Hunger betroffenen Menschen unterzeichneten am 9.11.1923 beispielsweise Prof. Albert Einstein, George Grosz und Wieland Herzfelde, der Schauspieler Alexander Moissi, der Dichter Franz Werfel und der Arzt und Psychoanalytiker Ernst Simmel. Die ›Künstlerhilfe‹ organisierte 1924 den Verkauf von über 400 zur Verfügung gestellten Kunstwerken im Warenhaus Wertheim am Alexanderplatz. Der Erlös sollte für die Essenausgabestellen der IAH verwendet werden. Es wurde berichtet, dass sich »für das Ausmalen der Speisestellen« (Kunstamt Kreuzberg 1977, 596) namhafte Künstler angeboten hatten. Ihre tätige Mitarbeit hatten unter anderem angeboten: »Arthur Segal, Dr. Friedlaender (Mynona), 6 Johannes R. Becher, Prof. Käte Kollwitz, Max Liebermann, Kandinski, Paul Klee, Schlemmer, Feininger, die gesamten Professoren des Staatl. Bauhauses in Weimar.« (ebd.) Im gleichen Jahr, aus Anlass einer Streik- und Aussperrungswelle beim Kampf um die Erhaltung des Achtstundentages, gab es einen Aufruf der ›Künstlerhilfe‹, auf der auch wieder »Friedländer-Mynona« sowie Heinrich Zille, Ernst Toller, Erich Mühsam u. a. verzeichnet waren (vgl. ebd.). Es gab eine enge Verzahnung und häufige Kontakte von Intellektuellen und Künstlern unterschiedlicher linker Orientierung in diesen Jahren, und Perls bewegte sich in diesen Kreisen.

 

Ich-Dissoziation und Menschheitserneuerung

»Wir sind und wollen nichts sein als Dreck. Man hat uns belogen und betrogen Mit Gotteskindschaft, Sinn und Zweck.«

(Benn 1982, 43)

Wenn Exner schreibt, dass Friedlaender die »metaphysische Absicherung« (Exner 1996, 185) der expressionistischen Generation leistete und einer »ganzen Generation der Berliner Avantgarde« (ebd., 291) den Weg wies, so ist eine kurze Skizzierung der krisenhaften Selbst- und Welterfahrung der expressionistischen Generation angebracht.

Was Perls einmal seine »existenzielle Verwirrung und Konfusion« nannte, war ein Erlebnisgeflecht, das sich aus frühen Kindheitserlebnissen und zeitgeschichtlichen Phänomenen zusammensetzte und das als eine Bedingung für individuelles Leid wie für schöpferische Bewältigungsversuche durchgängig bei der jungen und unruhigen Expressionistengeneration anzutreffen war. Vor dem Hintergrund des Verlustes von religiösen, philosophischen, gesellschaftlichen und psychologischen Ordnungskriterien sieht Vietta als Signatur der expressionistischen Epoche von 1910 bis 1925 zum einen die »Erfahrung transzendentaler und erkenntnistheoretischer Bodenlosigkeit« (Vietta 1994, 151) und zum anderen den Zusammenhang von erlebter Ich-Dissoziation und Versuchen der Ich- bzw. Menschheitserneuerung (vgl. ebd., 186). Für Vietta gehört es zu den Verdiensten des Expressionismus »dass er die latenten und offensichtlichen Zerstörungspotenzen moderner Zivilisation, Industrialisierung und rationalen Vernunft bloßgelegt hat« (ebd., 175). Im deutschen Sprachraum war es der (literarische) Expressionismus, der zum ersten Mal »die tiefgreifende Erfahrung der Verunsicherung, ja Dissoziation des Ich, der Zerrissenheit der Objektwelt, der Verdinglichung und Entfremdung von Subjekt und Objekt« (ebd., 21) dargestellt hat und gleichzeitig die damit einhergehende Suche nach Ganzheit, Heil sein, Totalität. Die hier angesprochenen Dissoziationserfahrungen sowie die damit verbundene Sehnsucht nach einer persönlich erlebten guten Gestalt haben Perls’ Leben und die Gestalttherapie, als ein spätes Kind dieser Epoche, nachhaltig geprägt.

Vor der Folie von Viettas Expressionismusdeutung stellen sich die künstlerischen Werke des Expressionismus als sichtbarer Ausdruck einer Krise des Subjekts und der Erschütterung seiner weltanschaulich-metaphysischen Orientierung dar. Die von Freud weiterbetriebene nietzscheanische Auflösung der Einheit des Ich in unterschiedliche Ober- und Untereinheiten und seine ganz im Gegensatz zur Entwicklung der dominierenden Naturwissenschaft stehende Behauptung der Herrschaft des Unbewussten über das Rationale sowie die Auflösung des überkommenen Naturbegriffes durch Albert Einstein waren Eckpunkte der sich beschleunigenden Auflösungsdynamik der damals gültigen Selbst- und Weltanschauung. Wahrheit, Verbindlichkeit und Objektivität wichen Pluralität und sich ständig verändernder Wirklichkeitsbildung.

Was im Berliner Leben kulminierte, war die sich in der Großstadtmetropole zusammenballende und auf das Individuum einstürzende neue Welt: Die Bedrohung und Attraktivität der Großstadt, mit ihrem Tempo und ihrer Menschenmasse; die zunehmende Technologisierung aller Lebensbereiche und die Dominanz einer rationalen Vernunft in den Wissenschaften; das unaufhaltsame Wachsen der großen Industrie, die den Menschen in Massen zum Anhängsel der Maschine machte und ihn verdinglichte. Unterlegt war das alles mit dem Verlust der religiösen Gewissheit in irgendeinem Glauben, seit Nietzsche den Gott, der Sinn gibt, für tot erklärt hatte. Damit war der Mensch frei und allein. Auslöser für die persönliche Krise war in vielen Fällen das Trauma eines Krieges, der den Einzelmenschen und die herrschenden Mächte in ihrer Brutalität und ihrem Machtstreben offenbart und das einzelne Ich auch persönlich und physisch versehrt und bedroht hatte.

Mit der das moderne, technisierte und vermasste Großstadtleben begleitenden Vereinzelung und Beschädigung des Ich gingen der Wunsch und die Sehnsucht nach individueller Ganzheit und Verbindung mit den anderen, nach einer neuen und harmonischen Menschengemeinschaft einher. Diese Sehnsucht hatte sich im Frühexpressionismus noch mit der Suche nach einer Gemeinschaft in der Natur, nach der Kriegserfahrung aber vorwiegend mit der Vision eines Sozialismus der Menschheitsverbrüderung verbunden.

Was innerhalb dieser Entwicklung den Marxismus zunehmend für die Avantgarde interessant machte, war zum einen die gesellschaftliche Realität des sowjetischen Russland, die damals überwiegend noch als Gegenrealität zum Kapitalismus begriffen wurde. Zum anderen war es die in der bürgerlichhumanistischen Tradition stehende marxistische Kritik an den Entfremdungs- und Verdinglichungsphänomenen im Produktionsprozess, der den Menschen zum Anhängsel der Maschine machte und alles Leben an Produktivität und Quantität ausrichtete. Bei den Linksintellektuellen hatte hier der an Hegel orientierte Marxismus von Georg Lukács und insbesondere dessen Buch »Geschichte und Klassenbewusstsein« Einfluss. Auf seine Bedeutung für Perls werde ich an späterer Stelle eingehen. So manches isoliert leidende Großstadtindividuum fühlte sich hier verstanden und sah sein Leiden in eine größere Gesellschaftsanalyse eingebettet, was wiederum Orientierung und Hoffnung auf Abänderung und Schaffung neuer, besserer, eben sozialistischkommunistischer Zustände gab.

Friedrich Engels hatte bereits 1845 über das Londoner Großstadtleben geschrieben:

»Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu tun hätten […]. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzelnen auf seine Privatinteressen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr diese Einzelnen auf kleine Räume zusammengedrängt sind.« (Engels in Vietta 1994, 40)

Alfred Wolfensteins Berlin-Gedicht »Städter« verdeutlicht die in den Zwanziger-Jahren immer noch aktuelle humanistische Klage Engels’ über die »Atomisierung und Isolierung der Menschen« (Engels ebd.) in der Großstadt, an der sich bis heute nichts Wesentliches geändert hat:

Nah wie Löcher eines Siebes stehn

Fenster beieinander, drängend fassen

Häuser sich so dicht an, dass die Straßen

Grau geschwollen wie Gewürge sehn.

Ineinander dicht hineingehakt

Sitzen in den Trams die zwei Fassaden

Leute, wo die Blicke eng ausladen

Und Begierde ineinander ragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,

Dass ein jeder teilnimmt, wenn ich weine,

Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle:

Und wie stumm in abgeschlossner Höhle

Unberührt und ungeschaut

Steht doch jeder fern und fühlt: alleine. (In: Pinthus 1995, 45 f.)

Nach der Jahrhundertwende war nicht nur von der »Auflösung der Menschheit in Monaden« (Engels ebd.) die Rede, sondern jetzt brach »diese Monade selbst auf« (Vietta ebd., 41). Da, wo unterschiedliche Wirklichkeiten miteinander konkurrieren und es keine einheitliche Wahrheit mehr gibt, wird auch die Einheit des Ich fraglich und muss die Welt aus der eigenen Subjektivität heraus bewältigt, konstruiert und mit Sinn versehen werden.

Erkenntnistheoretische Verunsicherung, Subjektdissoziation, Metaphysikverlust und Vereinzelung sind Kennzeichen eines vom Individuum zu bewältigenden Veränderungsprozesses, der sich auf immer größere Teile der Bevölkerung ausgeweitet hat und heute einen wichtigen Platz in den soziologischen und sozialpsychologischen Debatten um veränderte Sozialisationsbedingungen in einer globalisierten und individualisierten Gesellschaft einnimmt.

Hannah Höch, die in engem Kontakt mit Mynona stand und unter den Berliner Dadaisten die einzige künstlerisch aktive Frau war, machte bereits 1929 deutlich, an welchem Punkt das Pionierdenken in dieser Zeit bereits angekommen war:

»Ich möchte die festen Grenzen verwischen […]. Ich will dartun, dass klein auch groß und groß auch klein ist, nur der Standpunkt, aus dem wir urteilen, wird gewechselt, und jeder Begriff verliert seine Gültigkeit. Ich möchte weiter den Hinweis formen, dass es außer deiner und meiner Anschauung und Meinung noch Millionen und Abermillionen berechtigter Anschauungen gibt.« (in Dech et al. 1991, 57)

Im wissenschaftlichen Hintergrund der simultanistischen Wahrnehmung der Dadaisten stand die Ersetzung der Newtonschen Sehweise durch die Relativitätstheorie Einsteins (vgl. Bergius in Siepmann 1977, 45 f.). Jedes Ding existiert hier nur im Kontext und in Relation mit anderen Dingen. Entsprechend postulierte Richard Huelsenbeck schon 1920 die »Gleichzeitigkeit auch in den Werten« (in Siepmann 1977, 45). Diese Denkfigur und Wahrnehmungsart taucht in der frühen Gestalttherapie als Kombination von Psychoanalyse und Gestalt/Feld-Theorie auf, nannte sich 1951 bei Perls/Goodman »kontextuelle Methode« und wurde dann von der deutschen Gestalttherapie ab den Achtziger-Jahren als Konstruktivismus und Systemtheorie wiedererinnert.

Die Erfahrung der Simultanität der Wahrnehmung, des Disparaten und Unzusammenhängenden, spiegelte sich auch in der Kunst. Als Beispiel führe ich Jakob van Hoddis berühmtes Gedicht »Weltende« an, das sich ebenso wie das oben angeführte Gedicht von Wolfenstein in der ersten Anthologie expressionistischer Gedichte findet, die unter dem Titel »Menschheitsdämmerung« 1920 von Kurt Pinthus herausgegeben wurde:

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,

In allen Lüften hallt es wie Geschrei,

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei

und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken. (In: Pinthus 1995, 39)

Die Generation der Expressionisten wuchs in die Auseinandersetzung um das Werk Nietzsches hinein. Nietzsches Nihilismus war der Endpunkt der Kritik der Aufklärung an allem metaphysischen Denken, am Glauben an eine höhere Macht und einen höheren Sinn und Zweck von Erde und menschlichem Leben. Ab hier war die Konfrontation mit der eigenen »transzendentalen Obdachlosigkeit«, wie der frühe Georg Lukács (vgl. Vietta 1993, 142) das einmal nannte, Bedrohung und Herausforderung für jeden sensiblen Geist. Sloterdijk formulierte das so:

»Von da an verstehen die Klügeren, die sich selber gehörig auseinandergenommen haben, wie es um ihr bestes Stück, das liebe Ich, steht. Unter allen Gestalten liegt die Leere – das nimmt die Formen, die Fiktionen zurück. Mein Charaktertheater, mein Weltbild, mein Engagement – die Leere verschluckt solche Gebilde wie nichts.« (Sloterdijk 1996, 20)

Die großstädtische Avantgarde der Weimarer Jahre war für Sloterdijk die Vorhut der Moderne, und seiner Ansicht nach gibt es »kein Thema der 80er und 90er Jahre, das nicht in den 20ern vorgebildet worden wäre, mit Ausnahme der elektronischen Medien, die tatsächlich die Neuheit des letzten Jahrhundertdrittels bringen.« (ebd., 27) In dem hier zitierten Interview sagte Sloterdijk weiter:

»Wer etwas lernen will über Entformungsgefühle, muss Benn studieren. Er war der Meisterformulierer für das zersetzte Ich, wenn man ihn mit Zwanzig gelesen hat, dann kann einen keine Dekonstruktion überraschen.« (ebd., 20)

Er wird möglicherweise Zeilen wie die folgenden im Kopf gehabt haben:

 

»Nur ich, mit Wächter zwischen Blut und Pranke,

Ein hirnzerfressenes Aas, mit Flüchen

Im Nichts zergellend, bespien mit Worten,

Veräfft vom Licht –« (Benn ebd., 109)

Das Zerlegen der scheinbar festen Realität, einschließlich des eigenen Ich, haben die »Pioniere unter den Experimentatoren, die Angehörigen der expressionistischen Generation« (Sloterdijk ebd., 21) intensiv betrieben. Erst im Rahmen dieser dekonstruierenden Atmosphäre gab es dann auch wieder ein Bewusstsein »für die Fragilität der positiven Lebensformen vor dem nihilistischen Grund« (ebd., 22), für die »Kostbarkeit von Figur, von Gestalt, von Lebensform, von lokalen Sprachspielen, also von all dem, woraus das konkrete Leben besteht, auch wenn man unendlich darüber hinausdenken kann und alles Konstruierte als dekonstruierbar erkannt hat« (ebd.).

Sloterdijk sprach in diesem Zusammenhang auch von der »Nullpunktsituation« und merkte an: »Friedländer-Mynonas berüchtigte schöpferische Indifferenz – das war seinerzeit der Geheimtipp.« (ebd., 23)