Czytaj książkę: «Frei - Land - Haltung»

Czcionka:

Projektgruppe „Landeier“

FREI – LAND – HALTUNG

Jugend auf dem Land

Die Autor*innen:

Dieses Buch entstand im Zusammenhang mit einem von Prof. Dr. Kurt Möller geleiteten zweisemestrigen Lehrforschungsprojekt an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen.

Die Autor*innen sind: Stephania Athanassiadou, Inna Bauknecht, Laura Bieler, Jana Bodmer, Andreas Borchert, Fabienne Gurau, Christopher Krasel, Celine Lebherz, Mathis Maurer, Erik Miersch, Iris Möck, Kurt Möller, Tatiana Ovechkina, Nadine Sauter, Viktoriia Snida, Henry M. Ulrich, Swetlana Ziebart.

© 2020 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin; prverlag@hirnkost.de; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage August 2020

ISBN: 978-3-948675-00-4

eISBN: 978-3-948675-01-1

Privatkunden und Mailorder: https://shop.hirnkost.de/

Vertrieb für den Buchhandel: Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de

Layout: Yunus Kleff

Lektorat: Gabriele Vogel

Front- und Backcover: Carmen Bodmer

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Unsere Bücher kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de/

INHALT

FREI-LAND-HALTUNG

Frei-Land-Haltung? Hä?

Schwäbisch für Möchtegern–Käpsele

Heimat – Land. Aufwachsen, wo der Hahn noch kräht

WAS GEHT!?

„Eigentlich ischs subber hier, aber leider ischs halt net erlaubt.“

Rock & Rollinger – „Schwabenhymne“

„Da standst dann oben und hast nach unten geguckt, zwei Meter, und da hat dann alles gewackelt.“

Lustige Ortsnamen

„Hier auf dem Land muss man aufpassen, dass man nicht von einer Wildsau überrannt wird.“

„In der Stadt … gibt es zu viele Menschen auf einem Fleck, und die leben alle an einem vorbei.“

Witzige Sprüche zum Landleben

„Es ist ja auch nicht so, dass wir uns nur zum Trinken treffen. Da ist ja immer noch viel mehr mit verbunden.“

Rätsel: Was eine echtes Landei wissen sollte

„Landwirtschaft ist Leidenschaft!“

„Einige schütteln da vielleicht den Kopf, dass man so weit fährt für ’nen Trecker, aber das ist halt mein Ding.“

„Man sieht Natur, wie man ’se eigentlich sonst net sieht.“

Dorfrocker – „Dorfkind“

„Dann hat mein Vater auf den Fingern gepfiffen, das habe ich gehört, und dann sind wir heimgegangen.“

Wie viel Dorfkind steckt in dir? – Das ultimative Landei-Spiel

„Die, die in ’nem Dorf in koinem Verein sind, die händ dann au meischdens net so viel mit’m Dorf zum doa.“

WAS BEWEGEN!?

Man muss in der Feuerwehr sein, sein Holz machen oder seine Scheune haben

„Ich glaube, man schätzt viel zu selten, dass man auf dem Dorf wohnt …“

Brauchtum – nur von gestern?

„Gerade als Jugendlicher ist es wichtig, zu schauen, was will ich, wie soll die Welt, in der ich lebe, aussehen und was kann ich jetzt schon dafür tun.“

„… er ist anders, und was anders ist, wird hier oben einfach nicht akzeptiert.“

To-visit: Festkalender

„Ja, wir komm’n ausm Osten, deswegen sind wir aber noch längst keine Leute, die irgendwelche Hetzkrawalle anzetteln …“

„Das Dorf zusammenbringen ist ja auch ’ne Art Politik.“

„He, do goht mol wieder was, da müssa mer hin!“

„I würd dohana it wegganga, i kennts mr zum Beispiel niemols vorstella, in d’ Stadt zum ganga, weil’s eifach zu viel Trubel isch.“

Eine Variante des Trinkspiels „Nageln“

WAS WERDEN!?

„In Berlin sind alle stylisch angezogen. Und hier? Hier tragen alle noch Wanderschuhe!“

„Und wenn jemand über den Durst getrunken hat, wird er heimgeschafft … bis ins Bette …“

Tua –„Vorstadt“

„Eigentlich wollte ich ja nie Artist werden, das kam irgendwie einfach so dazwischen …“

„… weil das Internet bei uns auf dem Land noch nicht gut ausgebaut ist.“

Redewendungen

„… wo der eine malen kann, und der andere sitzt gerne nackt davor.“

Bauernkalender

„Die Gemeinschaft vom Land in der Stadt zu haben und trotzdem die Vorteile von der Stadt auch aufm Land nutzen zu können, das wär die perfekte Lösung.“

Querbeat –„Heimatkaff“

„’n paar Jugendliche, … die … nicht unbedingt ihre Oma stolz machen“

Ich würde … gerne zeigen, wie es hier wirklich ist“

Dorfrocker – „Engelbert Strauss“

WAS ANDERES!?

„Am Anfang wars sehr schwer. Wir haben versucht, von hier wegzugehen“

„Wir sind fast Nachbarn, da ist bloß ein Kuhstall im Weg.“

„Also hier auf dem Land wissen die Menschen, dass du ein Ausländer bist … “

„Händchen halten als Schwuler gehört nicht zur Norm.“

„Ich fühle mich in Deutschland nicht so, als wäre das mein Heimatland.“

„Oh, mein Gott! Sie kann Deutsch!“

WAS FERNES!?

„Wenn jemand sich von der Gemeinschaft unterscheidet, erfahren es alle.“

„… früher wurden die Kinder und Jugendlichen noch nicht so von den Medien beeinflusst …“

„… einfach mega der Familienmensch.“

„Auf dem Land, da reden die Menschen noch miteinander und pflegen Beziehungen.“

„Die Uhren gehen hier vielleicht noch ein bisschen anders.“

O-Töne

VORWORT

FREI-LAND-HALTUNG — HÄ?

Die schreiben ein Buch über Eier? Aber nein, liebe Leserinnen und Leser. Obwohl: Völlig falsch ist das gar nicht mal. Um genau zu sein: Wir schreiben ein Buch über „Landeier“ – Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf dem Land.

„Ist ja öde. Bauerntrampel als Thema – wie spannend ist das denn?!“, so murrt jetzt vielleicht der eine oder die andere. Aber stimmt das? Sind Gummistiefel, Gülle und Gartenarbeit wirklich alles, was das Land und die jungen Menschen dort zu bieten haben? Oder erleben die jungen Leute auf dem Land womöglich etwas, von dem Stadtmenschen nur träumen können?

Ist das Leben auf dem Land wirklich frei – vielleicht sogar freier als in der Stadt? Oder gleicht es doch eher dem trostlosen Dasein von Hühnern in einer Legebatterie: Fühlen sich Jugendliche hier nur gehalten wie das Federvieh, das seinem Stall nicht entfliehen kann? Richtet sich ihr Freiheitsdrang nur auf Landflucht aus? Oder ist das Landleben in einem ganz anderen Sinne eine Frage der Haltung? Kommt es darauf an, welche Einstellung man dazu hat? Und darauf, welche Erfahrungen diese Einstellung bewirkt haben?

Wir sind dem Ganzen auf die Spur gegangen und haben uns Fragen gestellt wie: Was ist Landleben überhaupt? Was machen Jugendliche heutzutage auf dem Land? Und vor allem: Wie fühlen sie sich dabei? Was ist ihnen wichtig? Was finden sie toll? Gibt es Dinge am Landleben, die sie so richtig nerven? Können sie sich vorstellen, ihr ganzes Leben auf dem Land zu verbringen?

FALLS IHR JETZT WISSEN WOLLT, WAS DIE LANDEIER ZU ERZÄHLEN HABEN, SCHAUT IN DIESES BUCH!

Es lohnt sich, denn das moderne Leben findet nicht nur in den Metropolen statt. Der Puls der Zeit pocht nicht nur in Berlin, Hamburg oder München: Ob im Schwabenländle, in Baden, im Allgäu, im hohen Norden oder wo auch immer: Überall gibt es ländliche Regionen und Dörfer. Und auch hier leben Menschen. Die meisten sogar. Und es handelt sich um Menschen, die nicht aus der Zeit gefallen sind. Kinder und Jugendliche, die hier aufwachsen, unternehmen mehr als Kühe melken, Misthaufen umschichten und sonntags in Festtagstracht die Kirche besuchen.

„Ich bin a Dorfkind, was kann’s Schönres geb’n / Als aufm Land zu leben?“ – Die Dorfrocker singen über die Gelassenheit auf dem Land und die geilen Partys. Mehr als das: Sie provozieren sogar mit der Liedzeile: „Manche denken, wir vom Dorf sind a bissl doof. Trotzdem machen’s Urlaub aufm Bauernhof.“ Wie sehen das die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute auf dem Land? Gibt es Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Land früher und heute? Sind vielleicht die weithin kursierenden Vorstellungsbilder vom Landleben veraltet? Oder ticken Städterinnen und Städter doch völlig anders?

„Hinter dem Ortsschild […] die große Welt“? Was Querbeat in ihrem Lied „Heimatkaff“ so sieht, beschreibt das tatsächlich die Realität? Geht im Dorf, im eigenen Heimatkaff, nichts? Müssen die jungen Menschen raus aus ihrem Dorf, um was erleben zu können?

„Hochhäuser an 'nem Feld, Vorstadt. Dann noch mehr Dorf als Großstadt.“ Was ist Land? Wo fängt es an und wo hört es auf? Was bedeutet Heimat für junge Leute? Der Rapper Tua verdeutlicht mit seinem Song „Vorstadt“, wie subjektiv die Definition des ländlichen Raums und damit die Vorstellung von der eigenen Heimat ist.

„Wenn I durch mei Ländle wandre, dann brauch i überhauptsch nix mehr.“ So singen die Rock & Rollinger in ihrer Schwabenhymne. Aber trifft die Aussage auf die jungen Menschen zu, die auf dem Land leben? Sind sie wunschlos glücklich wie die Werbungs-Kühe auf der saftigen Weide? Ist alles super heimelig? Was fehlt ihnen? Sind sie nicht total angeödet von der ländlichen Stille, beschweren sie sich nicht darüber, dass permanent nichts los ist und abends die Bürgersteige hochgeklappt werden? Geile Partys oder tote Hose? Wer hat denn nun recht: die Meckertaschen oder die Rock & Rollinger?


© Jana Lorenz

Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein, dieser Frage selbst auf den Grund zu gehen, sich den Erfahrungen von Jugendlichen auf dem Land zu öffnen und dabei neue Eindrücke zu sammeln.

Wir, das sind Studierende der Sozialen Arbeit und der frühkindlichen Bildung und Erziehung an der Hochschule Esslingen, verstärkt durch einige Studierende aus Sachsen. Ein ganzes Jahr lang haben wir uns mit dem Thema „Jugend auf dem Land“ auseinandergesetzt. Dies vor allem praktisch: Wir haben uns in die Dörfer und auf die Höfe begeben, teils lange Anfahrten in Bussen und Zügen in Kauf genommen, Jugendeinrichtungen und informelle Jugendtreffs aufgesucht, hier geschaut und da einen mitgetrunken, vor allem aber: Gespräche mit Jugendlichen geführt. Das Ergebnis unserer Recherchen ist dieses Buch. Die Offenheit und Erzählbereitschaft unserer jugendlichen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner hat es erst möglich gemacht. Dafür danken wir allen Beteiligten ganz herzlich, insbesondere auch Pia Dahlinger und Manuela Hagmeier, die uns Zugänge in die Jugendarbeit verschafft haben.

Ohne allzu viel der Lektüre vorzugreifen – uns scheint: Hinterwäldlerisch war vielleicht gestern mal. Das Land hat viel mehr zu bieten als Wiesen und Wälder, Äcker und Seen, stattliche Bauernhöfe und schnuckelige Dorfansichten. Auf dem Land geht was. Die Jugendlichen dort bewegen was. Sie wollen was werden. Und auch das, was auf den ersten Blick anders und fern erscheint, bleibt ihnen nicht fremd.

Also schau ins Buch! Lies seine Geschichten! Und vielleicht können wir uns dann ja auf dem ein oder anderen Dorffest bei ein, zwei Kaltgetränken darüber austauschen.

ESSLINGEN, IM FRÜHJAHR 2020 PROJEKTGRUPPE „LANDEIER“


ACHTUNG: ALLE INTERVIEWS MIT DIESEM SYMBOL SIND AUF SCHWÄBISCH GEFÜHRT WORDEN. BEI VERSTÄNDNISPROBLEMEN HILFT DIE FOLGENDE SEITE – SCHWÄBISCH FÜR MÖCHTEGERN-KÄPSELE.

SCHWÄBISCH FÜR MÖCHTEGERN–KÄPSELE

a: ein

äbbert: jemand

ällaweil/emmr: immer

älles: alles

ämmal: manchmal

amol: einmal

andersch: anders

andra: andere

au: auch

auszoga: ausgezogen

be: bin

blieba: geblieben

bsoffa: betrunken

butza: putzen

d’/dia: die

Daf/dafat/därfa:

darf/dürfen

Däg: Tage

dahanne/da hanna/

dohanna: hier oder dort

dahoim: daheim/zu Hause

danna: drüben

dät: würde /täte

dau: getan

doa: tun/getan

Dorfhock/Hock/Hocketse:

Beisammensitzen mit Musik, Essen und Getränken

dr: der

dra: dran

drussa/drusse: draußen

ebbes/äbbes: etwas

en/oine: ein/e

erinnra: erinnern

ersch: erst

et, net oder it: nicht

gäba: gegeben

Gam: gehen

ganga: gegangen

gau: gehen oder gleich

ge: nach oder zum

gheißa: geheißen

ghet: gehabt

gholat/gholt: geholt

gjuckt: gesprungen

glangat: gereicht

glei: gleich

gloffa: gelaufen

gmachet: gemacht

Gmoid: Gemeinde

Gosch: Mund

gsässa/ghöckt: gesessen

gschwind: schnell

gsei: war

gseit: gesagt

guat: gut

gwea/gsei/gwesa: gewesen

häm/ham mer: haben wir

han: hab

händ/hend: haben

Häs: Narrenkostüm

hasch: hast

hau/haut: hat

haut wella: wollten

Hennschtall: Hühnerstall

het: hätte

hot: hat

ins Gschäft: zur Arbeit

jengere: jüngere

Käpsele: Schlaumeier, kluger Kopf

kei: kein

kei: keine

kenna/kem: können

kenntat: könnten

kerig: arg

kriega: bekommen

läba: leben

Latsch: Treffpunkt

Leit: Leute

ma: man

mei Leud: die Eltern

miassa: müssen

mir/mr/mer: Gebrauch als „mir“ oder als „wir“

na: dann

näna: nirgends

neba: neben

nei: rein

nemme: nicht mehr

nia: nie

no: noch

(no) neit: (noch) nicht

noi: nein

nom: rüber

nommal: nochmal

nunter: runter

oifach: einfach

Olag: Anlage

s: das/es

schaffa: arbeiten

schälla: klingeln/schellen

schdandad: standen

scho: schon

schwätzen/schwätza: reden

se: sie

sem: sind

simmer: sind wir

sotsch: solltest

umanandgschprunga: herumgerannt

usm: aus dem

wara mer: waren wir

waret/warat: waren

warsch: warst

weggschaicht: weggeschickt

wore/gworde: geworden

wundersche: wunderschön

zamma: zusammen

zu dera: zu dieser

EINLEITUNG

HEIMAT – LAND AUFWACHSEN, WO DER HAHN NOCH KRÄHT

„Stadt“ – „Land“ – Was ist das überhaupt?

von KURT MÖLLER

So weit das Auge reicht nichts als bestellte Äcker, grüne Wiesen und rauschende Wälder, schmucke Bauernhöfe und blühende Bauerngärten, Misthaufen vor fast jedem Haus, Güllegeruch, Hühner gackern, Kühe muhen, Glockengeläut, fröhlich krakeelende Kinder beim Planschen im Mühlenbach, Mädchen in Tracht auf dem Weg zur Kirche und ein Leiterwagen rumpelt über das Kopfsteinpflaster – das ist Land, oder? Nein? Eher doch nicht? Das war vielleicht mal so? Höchstens bis in die 1950er Jahre hinein, meinen Sie? Oder nicht mal das? Sie vermuten hinter dem Bild eher eine Szenerie aus einem Heimatfilm oder aus einer Wilhelm-Busch-Illustration? Nun gut, aber was ist dann Land heute? Massentierhaltung in Großställen mit Solaranlagen auf dem Dach, Verbundsteinpflaster in jeder Hof- und Hauseinfahrt, innerorts alles zugeparkt, Sparkassengebäude aus Waschbetonplatten, blinde Fensterscheiben in der ehemaligen Metzgerei, ausladende Supermärkte und Neubaugebiete mit geraniengeschmückten Einfamilienhäusern hinter Thuja-Hecken am Dorfrand, Lastwagen, die ohrenbetäubend dicht an dicht durch den halb sanierten Fachwerk-Ortskern rattern, von Abgas geschwängerte Luft und Straßenlärm weht von der neuen Umgehungsstraße herüber? Und die Leute auf der Straße? Bauernklamotten und Sonntagsnachmittags-Ausgehanzüge Fehlanzeige? Fast alle in Casual-Dresscode? Sehen aus wie Städter?

JA, WAS DENN NUN? WAS IST LAND?

„Ich bin ja auf dem Land groß geworden.“ – Täuscht es oder hört man einen solchen Satz heute seltener als früher? Es dürfte sich um keinen Irrtum handeln, denn die deutsche Bevölkerung verlagert sich tendenziell hinein in städtische Zentren. Nur noch weniger als ein Viertel der Bevölkerung lebt in gering besiedelten Gebieten (vgl. Statistisches Jahrbuch 2018: 29). Und laut Prognosen werden in rund 30 Jahren nur noch 18 % dort leben (vgl. United Nation World Population Programme UN/WPP 2011). Fragt sich nur noch, was überhaupt ein gering besiedeltes Gebiet ist. Nach neueren Einteilungsverfahren versteht man unter ländlichen Gebieten jene Regionen, die nach dem sogenannten EU-Rasterzellenverfahren nicht als städtisch eingestuft werden. Und eben danach sind städtische Regionen Gebiete, in denen a) pro Rasterzelle von 1 km2 mehr als 300 Einwohner*innen leben und zugleich b) in den benachbarten Rasterzellen mehr als 5.000 Einwohner*innen zu Hause sind. Als gering besiedelt gelten ländliche Gebiete, in denen mehr als die Hälfte der Bevölkerung in ländlichen Rasterzellen lebt (vgl. Statistisches Bundesamt 2018: 29).

Solche Berechnungen nach dem Verdichtungsgrad mögen für statistische Zwecke und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für Infrastrukturpolitik vorteilhaft sein. Was in sie nicht eingeht, sind die subjektiven Wahrnehmungen und die sozialräumlichen Erfahrungen der Menschen. Wie Subjekte ihre Umwelt und sich selbst erleben, prägt aber letztlich ihre Haltung dazu. Vor allem aber: Welche Bedeutung und welchen Sinn sie dieser Umwelt und der eigenen Platzierung darin zuweisen, entscheidet letztlich über ihren Umgang damit. Denn wie schon der griechische Philosoph Epikur (50–138 n. Chr.) wusste, bestimmen nicht Tatsachen an sich, sondern Meinungen über Tatsachen das Zusammenleben. Subjektive Sichtweisen wiederum sind zwar nicht gänzlich unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen und kollektiven Vorlagen für sie, letztendlich aber sind es die individuellen Haltungen, die den Orientierungen und Aktivitäten einzelner Menschen ihren jeweils einzigartigen Stempel aufdrücken.

In diesem Buch wird daher anders vorgegangen als bei der Statistik: Hier werden die Erlebensweisen der Befragten in den Mittelpunkt gerückt. Wie sehen sie sich und die Welt, in der sie leben? Dies ist hier die Kernfrage. Insofern gelten die befragten Kinder und Jugendlichen dann als in ländlichen Gebieten Wohnende, wenn sie nach ihrem eigenen Empfindungen „auf dem Lande“ leben – auch wenn es sich rechtlich betrachtet beim jeweiligen Wohnort nicht unbedingt um ein Dorf, sondern vielleicht um einen (im Zuge der Gebietsreform eingemeindeten) Stadtteil oder ein Städtchen „auf dem flachen Lande“ handelt. Dass sie dafür keinen landwirtschaftlichen Bezug haben müssen, versteht sich wohl von selbst, obwohl der Begriff der „Landjugend“ dies für viele noch nahelegt.


© Jana Lorenz

Diese Ausrichtung, also danach zu fragen, wie junge Menschen in ländlichen Räumen eigentlich „ticken“, ist auch eine Orientierung, die durch die Befunde der neueren Forschungen über Kinder und Jugendliche auf dem Lande nahegelegt wird.

KINDHEIT UND JUGEND AUF DEM LAND: WAS DIE FORSCHUNG WEIß

Die großen Kinder- und Jugendstudien in Deutschland verschaffen in Hinsicht auf regionale Unterschiede nur wenig verallgemeinerbare Erkenntnisse. Und wenn solche Differenzierungen gemacht werden, dann geht es meist um Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, weniger um Stadt-Land-Vergleiche. Insgesamt muss man eher eine Schieflage der Jugendforschung zugunsten der Analyse der Lebenssituationen und -stile in urbanen Räumen ausmachen, wenn man nicht sogar den Eindruck gewinnt, die Untersuchung ländlicher Lebenslagen und Lebenswelten von Minderjährigen sei „zu einer bloßen Fußnote“ einschlägiger Studien „verkommen“ (Herrenknecht o. J.: 3).

Zwar lässt sich seit Mitte der 1950er Jahre bis heute eine Reihe von Untersuchungen über Jugendliche und Jugendarbeit auf dem Lande finden (vgl. im Überblick Stein 2013: 44 f.; aktueller auch z. B. Becker/Moser 2013; Faulde/Grünhauser/Schulte-Döinghaus 2019), allerdings zeichnen sie ein Bild, das nicht selten klischeehaft wirkt und lange zwischen dem Bild einer im Stadt-Land-Vergleich benachteiligten und marginalisierten Jugend auf dem Land und dem Bild einer idyllisierten, unbelasteten, sicheren und geborgenen (Dorf-) Kindheit und Jugend auf dem Land hin und her gependelt ist (vgl. Herrenknecht o. J.). Seit den 1980er und 1990er Jahren mehren sich Studien, die das „Bild einer ländlichen Jugend zwischen Tradition und Moderne“ (Grund 2002: 41; so auch noch Vogelgesang/Kersch 2016: v. a. 206) zeichnen. In den letzten 20 Jahren herrschen Ansätze vor, die Skizzen einer „pluralisierten Jugend im regionalen Dorf“ (ebd.: 57) entwerfen, also die Heterogenität von in ländlichen Gebieten Aufwachsenden und ihre vermehrten regionalen, das heißt nicht (mehr) nur vornehmlich lokalen sozialen Bezugnahmen betonen.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die „Nebeneinanderexistenz“ verschiedener ländlich geprägter Kindheits-(und Jugend-)muster konstatiert wird (Herrenknecht o. J.): Obwohl quantitativ deutlich auf dem Rückzug, hält sich in Nischen noch eine „alt-dörfliche“ Kindheit und Jugend, die noch stark von der bäuerlichen Arbeitswelt, der Mithilfe im Haushalt, auf dem Feld und bei der Betreuung von Geschwistern sowie vom Spielen im Freien geprägt ist. Zugleich wird eine seit den 1960er Jahren zunehmend auftretende „lokal-dörfliche“ Kindheit und Jugend registriert, die der Bedeutungsverlust bäuerlicher Landwirtschaft, das Anwachsen von Neubaugebieten mit (oft zugezogenen) Berufspendler*innen, der Rückgang von tradierten Strukturen dörflicher Kontrolle, die „Zonierung der Kindheit in feste Spiel-, Aufenthalts- und Bewegungsräume“ bei durchaus noch verbreitet vorhandener Nutzung naturnaher und unbeaufsichtigter Flächen kennzeichnet. Das jüngste Muster der „regional-dörflichen“ Lebensweise hat diese beiden Zeitkulturen zwar in den Hintergrund treten lassen, aber nicht völlig verdrängt. Ihre Merkmale sind vor allem die Privatisierung, Verhäuslichung und umfassendere (sowie im Vergleich zu früher stärker altersgetrennte) Institutionalisierung des Aufwachsens, die durch Mobilitätszuwächse und -erfordernisse, Mediatisierung und das Hereinbrechen regionaler, ja globaler Einflüsse in die lokale Kultur ergänzt werden (ebd.: 6–10). So konstatieren dann auch Becker und Moser (2013) in ihrer Online-Befragung von 2.600 14- bis 18-Jährigen in drei westlichen und drei östlichen Bundesländern für das Thünen-Institut, dass es „die“ Jugend in ländlichen Räumen nicht gibt und sich der Kommunikations- und Aktionsradius vor allem durch neue Beschulungstendenzen vom Lokalen ins Regionale, nicht zuletzt aufgrund verbesserter Mobilität und Mediatisierung, aber auch darüber hinaus auf Großstädte, das Ausland und Internetaktivitäten ausgeweitet hat.

So entsteht für viele ein Lebenszusammenhang, der gleichermaßen ländliche wie städtische Prägungen aufweist, einerseits im Lokalen und in regionalen Besonderheiten verhaftet ist, andererseits Aspekte jener Welt integriert, die (z. T. weit) über diese Rahmungen hinausreicht (vgl. auch Vogelgesang 2013). Eben diese Doppelexistenz geben auch viele Interviews im vorliegenden Buch zu erkennen.

Aber was wissen wir genauer über diese recht großrahmig zugeschnittenen Entwicklungen hinaus in Hinsicht auf die konkreten Lebensumstände und Lebenswelten von in ländlichen Strukturen aufwachsenden Kindern und Jugendlichen heute? Was lässt sich über die Beschaffenheit von Wohnformen, Familienkonstellationen, Arbeit, (Aus-) Bildung, Freundschaften, Vereinsbindungen etc. herausbekommen? Und: Wie wohl oder unwohl fühlen sich junge Menschen mit ihrem Leben auf dem Land? Fühlen sie sich tatsächlich benachteiligt durch ein Leben „am Arsch der Welt“? Leiden sie also unter Landfrust? Oder verspüren sie im Gegenteil so etwas wie Landlust? Zieht es sie weg oder wollen sie bleiben?

Einige Antworten auf solche Fragen lassen sich bei einer Durchforstung der mehr oder minder aktuellen Fachliteratur zum Thema gewinnen.

85,65 zł
Gatunki i tagi
Ograniczenie wiekowe:
0+
Objętość:
542 str. 87 ilustracje
ISBN:
9783948675011
Redaktor:
Wydawca:
Właściciel praw:
Bookwire
Format pobierania:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip