Filmgenres: Horrorfilm

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Diesen Filmen gegenüber standen teure Mainstream-Produktionen mit aufwändigen Spezialeffekten wie The Exorcist oder Jaws, die den Horrorfilm auch für ein großes Publikum jenseits der Aficionados gesellschaftsfähig machten. In der Tradition von Literaturfilmen nach Stoker, Shelley oder Poe wurden auch Gegenwartsautoren ins Kino gebracht, allen voran Stephen King, mit so unterschiedlichen Ansätzen wie in Carrie und The Shining (1980). Neben der Vormachtstellung der USA in den siebziger Jahren mit Regisseuren wie Tobe Hooper, Wes Craven und John Carpenter, die oft Autodidakten waren, machte in Kanada David Cronenberg mit seinen Körperobsessionen um Krankheit, Verfall und Mutation auf sich aufmerksam und schuf mit Filmen wie Rabid (Rabid – Der brüllende Tod, 1976) den Inbegriff des body horror.

Die achtziger Jahre läuteten die Krise ein, was auch daran lag, dass sich das Genre zu sehr auf die serielle Ausbeutung von Serienmördern und bis an die Schmerzensgrenze fortgesetzten ›Stalker‹-Erfolgen wie Friday the 13th oder A Nightmare on Elm Street verließ und sich damit selbst ausblutete. Trotzdem haben sich in der Rückschau eine Vielzahl von Filmen wie Re-Animator, Evil Dead, Near Dark (1987) oder Hellraiser (1987) mit der ikonographischen Figur des Cenobiten Pinhead oder Peter Jacksons wirkmächtige Fun-Splatter-Movies aus dem fernen Neuseeland wie Bad Taste (1987) und Braindead in die Geschichte des Horrorfilms eingeschrieben.

Der deutsche Horrorfilm blieb nach den Erfolgen der Stummfilmzeit bis heute marginal, auch wenn sich Hans W. Geißendörfer mit Jonathan (1970) an einem Vampirfilm versuchte oder Andreas Schnaas und Olaf Ittenbach Ekelgrenzen als persönliche Herausforderung betrachten. Als Einziger spielte Jörg Buttgereit mit seinen beiden Nekromantik-Filmen (1987, 1992) oder dem Todesking (1990) auf dem internationalen Underground-Parkett mit, bis er sich von der Regie zurückzog.

In den neunziger Jahren modernisierte sich das Genre nach einer langen Agonie und entfaltete sich selbstbewusst zwischen Tradition und neuen Wegen, zwischen Parodie und Selbstreflexion. Neben ›Urban Myth‹-Filmen wie Candyman (1992) und Urban Legends (Düstere Legenden, 1998) war es vor allem Wes Cravens Erfolgstrilogie Scream, die ihm neues Leben einhauchte und es um eine längst überfällige und nicht immer ernst gemeinte Selbstreflexivität bereicherte. Den Scream-Filmen gelingt es, das Genre zu demontieren und im gleichen Atemzug neu zu erschaffen. Der Drehbuchautor Kevin Williamson wurde zum Shootingstar der Dekade, und vergleichbar mit Quentin Tarantino verpasste er dem Horrorfilm mit dem kreativen Output seines exzessiven Fernseh- und Videokonsums eine Frischzellenkur.

Der neue Selbstbezug spiegelte sich auch in Filmen über seine Macher. So ist Tim Burtons Biopic Ed Wood (1994) eine schräge Hommage an den so titulierten schlechtesten Regisseur aller Zeiten mit Johnny Depp in der Titelrolle, und E. Elias Merhige klärt in Shadow of the Vampire (2000) über die vermeintlich wahren Hintergründe der Dreharbeiten von Nosferatu auf, mit John Malkovich als Murnau und Willem Dafoe als seinem Hauptdarsteller Max Schreck. Bill Condon wagte sich in Gods and Monsters (1998) an die letzten Tage des alternden, homosexuellen James Whale bis zu dessen Selbstmord. Nach einer Begegnung mit seinen früheren Stars Boris Karloff und Elsa Lancaster erkennt der Frankenstein-Regisseur auf seinen Kopf zeigend: »The only monsters I have are here.«

Nach dem Erfolg von Scream wurde der Markt mit einer Flut von Teen-Horrorfilmen wie I Know What You Did Last Summer (Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast, 1997), oder The Faculty (1998) überschwemmt, ohne dass diese jedoch die Qualitäten von Cravens Trilogie erreichten. Auch der deutsche Film hängte sich mit Anatomie (1999) an den Erfolgstrend und lockte damit immerhin zwei Millionen Zuschauer in die Kinos. Daneben besann sich das Genre der alten Zugpferde Dracula und Frankenstein, auf die sich mit Bram Stoker’s Dracula (1992) und Mary Shelley’s Frankenstein (1994) zwei genre-fremde Regisseure, der Pate-Macher Francis Ford Coppola und der Shakespeare-Experte Kenneth Brannagh, mit Blick auf das große Publikum schwangen. ›Zeitgenössisch-authentisch‹, ›Werktreue‹, ›definitive Verfilmung‹ lauteten die Schlagwörter für die programmatische Nähe zur Vorlage, auf die auch die Autorennennung im Titel hinweisen sollte. Dieses Ansinnen machte auch vor einstigen Underground-Klassikern nicht halt, wie Tom Savinis farbige Version von George A. Romeros Night of the Living Dead aus dem Jahr 1990 illustrierte. Doch während Savini den pessimistischen Ton der Vorlage verstärkte, wollten Coppola und Brannagh die Tradition des gothic horror aus einer neuen und ungewöhnlichen Perspektive heraus erzählen und dabei wie Stephen Frears mit seiner Jekyll/Hyde-Adaptation Mary Reilly (1995) das menschliche Drama ihrer Geschichte fokussieren.

Zum Ausgang des Jahrhunderts brachten die jungen Filmemacher Daniel Myrick und Eduardo Sanchez das Genre mit ihrem spektakulären Coup The Blair Witch Project wieder in aller Munde. Wie der Spanier Alejandro Amenábar in The Others setzten sie bei ihrem ›Mockumentary‹ in der Tradition Val Lewtons darauf, dass das wirklich Unheimliche das ist, was wir nicht sehen und was sich nur in unserer Phantasie abspielt, und schufen den wohl profitabelsten Horrorfilm aller Zeiten. Gleichzeitig wurde er zum Vorbild für neue Vermarktungsstrategien, denn erstmals war das Internet maßgeblich am kommerziellen Erfolg beteiligt.

Für die Gegenwart des Horrorfilms ist das asiatische Filmschaffen immer einflussreicher geworden. Bereits Ende der achtziger Jahre brach die hongkong-chinesische Geistergeschichte A Chinese Ghost Story (1987) eine Lanze für den Horror aus Fernost. Und der japanische Horrorfilm Ringu (1997) avancierte zum Horror-Mythos des zu Ende gehenden Millenniums, wurde einem größeren westlichen Publikum jedoch bezeichnenderweise erst durch sein US-amerikanisches Remake The Ring (2002) bekannt. Ringu ist zugleich exemplarisch für eine neue Einfachheit im Horrorfilm und setzt wie Blair Witch Project und The Others fern von exzessiver Gewalt und Splattereffekten auf imaginativen Horror. Ringu läutete zudem im ewig stoffhungrigen Hollywood den Trend ein, erfolgreiche Horrorfilme aus Fernost wie Kuya (Cure, 1997), Pulse (Kairo, 2001) und Ju-on: The Grudge (2003) auf ihre Remake-Tauglichkeit zu überprüfen und umgehend für die USA zu adaptieren, wie es zuvor beispielsweise mit europäischen Erfolgsproduktionen, z. B. Nikita (1989), geschehen war.

Wie sich schon beim Blair Witch Project andeutete, wird die Zukunft des Horrorfilms entsprechend dem Medienkonsum nachwachsender Fan-Generationen sich immer mehr in den Neuen Medien abspielen. Beispielsweise ist H. P. Lovecraft nach der Erfahrung des französischen Skandalautors Michel Houellebecq den jungen Horrorfans nicht mehr durch ihre Lektüre, sondern aus Computerspielen bekannt, mit denen der Horror eine enge kommerzielle Verbindung eingegangen ist. Und auch darauf reagiert das Genre schnell, wie David Cronenbergs eXistenZ (1998) beweist. Nicht zuletzt in dieser Sensibilität, Zeitströmungen filmisch aufzugreifen, liegt die Lebendigkeit und Stärke des Horrorfilms.

Mein Dank gilt Harald Harzheim, Carlos Aguilar und Thomas Koebner für ihre Unterstützung sowie Rudolf Worschech für seinen Beistand und sein Verständnis.

Herbst 2004

Ursula Vossen

Hinweis

Die Szenenfotos der Buchausgabe werden aus urheberrechtlichen Gründen nicht in der E-Book-Version wiedergegeben.

Literatur: Adolf Heinzlmeier / Jürgen Menningen / Berndt Schulz: Kultfilme. Hamburg 1983. – Norbert Stresau: Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker. München 1987. – Hans Schifferle: Die 100 besten Horror-Filme. München 1994. – Jörg Lau: Mit dem Monster dealen. In: die tageszeitung. 22. 8. 1996. – Harald Harzheim: Das Gute durch das Böse beweisen. Der geschundene Körper im Splatter-Movie. In: Nachtblende. Nr. 2 (1997). – Paul Wells: The Horror Genre. From Beelzebub to Blair Witch. London 2000. – Marc Jancovich (Hrsg.): Horror. The Film Reader. London / New York 2002.

Folgende Abkürzungen wurden verwendet: R = Regie; B = Buch; K = Kamera; M = Musik; D = Darsteller; s/w = schwarzweiß; f = farbig; min = Minuten; AUS = Australien; CAN = Kanada; D = Deutschland; E = Spanien; F = Frankreich; GB = Großbritannien; HK = Hongkong; I = Italien; JAP = Japan; NZ = Neuseeland; P = Portugal; S = Schweden; USA = Vereinigte Staaten von Amerika.

Das Cabinet des Dr. Caligari

D 1919 s/w 56 min

R: Robert Wiene

B: Hans Janowitz, Carl Mayer

K: Willy Hameister

M: Peter Schirmann (Neufassung)

D: Conrad Veidt (Cesare), Werner Krauss (Dr. Caligari), Lil Dagover (Jane), Friedrich Fehér (Francis)

Francis, Insasse eines Irrenhauses, erzählt einem Mitpatienten seine Geschichte: In der Kleinstadt Holstenwall will der obskure Dr. Caligari auf dem Jahrmarkt den Somnambulen Cesare ausstellen. Der Gemeindesekretär weist ihn zurück – und wird in der darauf folgenden Nacht ermordet. Jetzt ist der Weg für Caligari frei. Unter den Massen, die in die Schaubude des unheimlichen Doktors strömen, befinden sich auch Francis und sein Freund Alan, die beide in die schöne Jane verliebt sind. Alan fragt Cesare provokativ, wie lange er noch zu leben habe. »Bis zum Morgengrauen«, lautet dessen Antwort. Und wirklich: In derselben Nacht wird Alan getötet. Die Polizei verhaftet einen Verdächtigen, Francis aber sieht in Caligari den wahren Täter. Während er ihn beobachtet, merkt er nicht, dass dessen somnambuler Mordvollstrecker Cesare bei der schlafenden Jane einbricht. Sie töten, wie ihm von Caligari befohlen, kann er jedoch nicht – die Sinnlichkeit des Opfers hemmt seinen Antrieb – und entführt sie stattdessen auf die Dächer der Stadt. Zur gleichen Zeit hat Francis Caligari bis zu seinem Domizil, einer Irrenanstalt, verfolgt. Hier endet sein Bericht. Kurz darauf macht der Direktor der Anstalt die Visite und wird von Francis lautstark als Dr. Caligari attackiert. Der junge Mann wird in eine Zwangsjacke gesteckt, während der Direktor dessen Wahn begreift: »Er hält mich für jenen mystischen Caligari. Und nun kenne ich auch den Weg zu seiner Gesundung.«

 

Das Cabinet des Dr. Caligari ist als erster expressionistischer Film weltberühmt und zum Gegenstand endloser Analysen geworden. Dabei bezieht sich sein Expressionismus weitestgehend auf den Dekor. Auch wenn es Bezüge zum literarischen Expressionismus gibt, wie das Vorkommen von Wahnsinnigen, Irrenanstalten und ›Tyrannenfiguren‹, so kommt Wienes Stummfilm inhaltlich wie motivisch aus der schwarzen Romantik, beruft er sich – wie sein Produzent Erich Pommer selber zugab – auf das Pariser ›Grand Guignol‹, jenes berühmte Splatter-Theater, das während des Ersten Weltkrieges seinen künstlerischen wie kommerziellen Höhepunkt erreichte. Dort war nämlich nicht allein der Wahnsinn das vorherrschende Thema, sondern Anstalten und Psychiatrien gehörten zu den bevorzugten Schauplätzen, z. B. in der berühmten Poe-Adaption Le système du Docteur Goudron et du Professeur Plume (1909, Maurice Tourneur). Mit dieser Verfilmung sowie mit dem Hypnotisieurspektakel Trilby (1915) brachte Tourneur die ›Grand Guignol‹-Ästhetik in der Filmwelt zur Wirkung und hatte damit auch direkten Einfluss auf Das Cabinet des Dr. Caligari. Nachdem Wienes Film in die Kinos gekommen war, erkannte das ›Grand Guignol‹-Theater dessen Stoff sofort als seinesgleichen und revanchierte sich 1925 mit der blutigen Bühnenadaption »Le Cabinet de Docteur Caligari«, für die André de Lorde, der Starautor des Hauses, höchstpersönlich verantwortlich zeichnete.

Aber Das Cabinet des Dr. Caligari ist nicht nur ästhetisch von Wahn und zerstörter Seele beeinflusst, sondern auch biographisch, liegt ihm doch ein reales psychisches Leiden zugrunde. Die direkte Idee zu diesem Film wurzelt keineswegs allein in der – so oft beschriebenen – Intention, Macht und Autorität in der Weimarer Republik zu denunzieren, sondern nicht minder in einem Trauma des Co-Drehbuchautors Hans Janowitz, das selbst die schlimmste ›Grand Guignol‹-Präsentation hinter sich lässt: Janowitz war überzeugt, in der Hamburger Holstenwall-Anlage Zeuge eines nächtlichen Sexualmordes gewesen zu sein. Holstenwall heißt deshalb auch die Stadt im Film. Und ein Höhepunkt der dortigen Vorkommnisse ist Cesares Attacke auf die schlafende Jane, die einen eindeutig auf Vergewaltigung weisenden Subtext enthält. In seiner fiktionalen Drehbuch-Verarbeitung versucht Janowitz, das real erlebte Schreckliche imaginär ungeschehen zu machen: Denn der Somnambule wird von Skrupeln gebremst, Jane zu töten, während in der späteren ›Grand Guignol‹-Adaption die weibliche Hauptfigur tatsächlich umgebracht wird.

Die weltweite ungebrochene Rezeption des Film als Aushängeschild des deutschen Expressionismus haben den Blick für seine Bedeutung als einer der Begründer des klassischen Horrorfilms der späten zwanziger und der frühen dreißiger Jahre verstellt. Durch Wienes Meisterwerk fanden die Motive romantischer Horrorstoffe eine neue Form. Wie Das Cabinet des Dr. Caligari spielen die Horrorfilme der späten Stumm- und frühen Tonfilmära meist in bühnenhaften Dekors, die durch schatten- und silhouettenbetonte Ausleuchtung verfremdet sind. Auch wenn die Rückkehr in die Filmateliers durch die Anforderungen der neuen Tontechnik bedingt waren, empfanden sich diese Horrorfilme noch als theatralisch, was auch die Wahl ihrer Vorlagen beweist, bei denen es sich meist um Bühnenstücke handelte. Intelligente Regisseure wussten jedoch frühzeitig mit dieser Bühnendramatik zu spielen. James Whale beispielsweise ließ in seinem besonders deutlich an Das Cabinet des Dr. Caligari orientierten Frankenstein – The Man Who Made a Monster (Frankenstein, 1931) die Kamera wiederholt durch die Dekoration fahren, um zu zeigen, »dass hier nichts real ist, sondern alles eine Fingerübung in Bühnendramaturgie« (Everson). Oder Karl Freund, der seinen Horrorfilm Mad Love (1935) mit einer Folterszene im Pariser ›Grand Guignol‹ beginnen lässt: Hier wird die theatralische Abstammung des Horrorgenres unmittelbar beschworen.

Aber auch Robert Wiene selbst experimentierte weiterhin mit dem Caligari-Stil. Hier ist vor allem Orlacs Hände (1924) zu erwähnen, den Freund mit Mad Love neu verfilmte. Der Film setzt die Errungenschaften des expressionistischen Kinos derart subtil und differenziert ein, dass er alle Behauptungen widerlegt, Wiene sei ein zweitklassiger Regisseur gewesen, der den expressionistischen Stil seines Caligari nicht selber intendiert, sondern nur aufgeschwatzt bekommen habe. Bis an sein Lebensende plante Wiene ein Tonfilm-Remake seines berühmtesten und erfolgreichsten Films, Jean Cocteau hatte bereits für die Rolle des Cesare zugesagt. Als die Realisation zum Greifen nah war, starb Wiene. Ob er mit diesem Remake, dessen Drehbuch sich erhalten hat, sein Original unterboten oder eine originelle Weiterentwicklung vorgelegt hätte, muss offen bleiben.

In der Nachfolge von Wienes Film fand das caligareske Drama des besessenen ›Mad Scientist‹, des mit hypnotischen Kräften begabten Unholds, endlose Varianten. Dieser Schurkentypus war vor Dr. Caligari eine eindimensional-dämonische Randfigur, wie beispielsweise der ihm in der Erscheinung ähnliche Scapinelli in Der Student von Prag (1913, Stellan Rye). Erst Das Cabinet des Dr. Caligari gab der Dämonie des Bösewichts soviel Plastizität, dass das Publikum dessen Machtbesessenheit identifizierend miterleben konnte. Gleiches gilt für die Gegenüberstellung des guten Liebhabers Francis und des bösen Verehrers Cesare, die im Grunde als zwei Seiten einer Figur zu verstehen sind, denn Letzterer repräsentiert als Somnambuler überdeutlich das schlafende Unbewusste Francis’ – auch dies eine Konstellation, die den Horrorfilm nachhaltig prägte. Bei de Lordes Bühnenadaption wurde dies noch deutlicher, denn niemand anders als der hypnotisierte Francis entpuppt sich als somnambuler Mörder. Selbst einzelne Bildmotive wurden zum Standard, beispielsweise die Entführung der bewusstlosen Heldin auf die Dächer der Stadt durch das Monster wie z. B. in King Kong (1933, Merian C. Cooper, Ernest B. Schoedsack) oder der an Alan verübte Messermord, der noch über vierzig Jahre später in der zweiten Mordsequenz von Psycho (1969, Alfred Hitchcock) nachwirkt. Unnötig zu sagen, dass Hitchcock zeit seines Lebens ein Fan des Cabinets des Dr. Caligari war.

Für den tiefgreifenden Einfluss des Caligari-Stils auf den klassischen Horrorfilm spielt Paul Leni eine entscheidende Rolle, der nach seiner Arbeit als Szenenbildner bereits in Deutschland mit seinem Wachsfigurenkabinett (1924) einen expressionistischen Gruselklassiker abgeliefert hatte. Er und andere Emigranten transportierten das caligareske Erbe nach Hollywood. Dort suchte Leni »nach populären Ausdrucksformen und war daher geradezu prädestiniert, die Errungenschaften des filmischen Expressionismus in ein populäres, der Unterhaltung dienendes Genre, den Horror-Film, zu überführen« (Everson). Dies tat er mit The Cat and the Canary (Spuk im Schloss, 1928) und The Man Who Laughs (Der Mann, der lacht, 1928). Nicht minder wichtig ist Karl Freund, der Kameramann von Wiene, Fritz Lang und F. W. Murnau, der später Tod Brownings Dracula (1931) fotografierte und selbst die beiden Horrorklassiker The Mummy (Die Mumie, 1932) und Mad Love (1935) inszenierte. Auch Edgar Ulmer lieferte mit The Black Cat (Die schwarze Katze, 1934) eine originelle, einflussreiche Adaption des Caligari-Stils. Und last but not least der französische Emigrant Robert Florey, der für James Whales Frankenstein das Treatment nach Mary Shelleys Roman verfasste und dessen Experimental- und Horrorfilme wie die Poe-Adaption Murder in the Rue Morgue (Mord in der Rue Morgue, 1932) dem Caligari-Stil am getreuesten folgen. Denn vor allem für die Wahnsinns-Welt eines Edgar Allan Poe war die Caligari-Ästhetik wie geschaffen. So spielen neben Floreys Film Charles Kleins The Tell-Tale Heart (1928) und James S. Watsons The Fall of the House of Usher (1928) in caligaresken Kulissen. Letzterer, ein Kurzfilm, versuchte zudem, den Dekorstil mit filmtechnischen Mitteln umzusetzen: durch Zerrlinsen, Prismengläser, Mehrfachbelichtungen, die die Protagonisten regelrecht zerteilen, fragmentieren. Das Spiel der Akteure ist wahrlich expressiv, wie der Verzweiflungsschrei der wiederauferstandenen Madeline Usher. Es ist übrigens ein schweres Versäumnis der Filmgeschichte, Watsons Poe-Adaption ausschließlich als Avantgarde- und nicht auch als Horrorklassiker rezipiert zu haben.

Doch die Entwicklung der Ästhetik des klassischen Horrorfilms beruht keineswegs nur auf der Beeinflussung durch die formale Radikaliät von Wienes Klassiker, auch inhaltlich ist kaum ein Film mehr so weit gegangen. So wagte es z. B. fast kein Horrorfilm in den darauf folgenden fünfzig Jahren, den Helden, den guten Liebhaber als wahnsinnig und zuletzt in einer Pose völliger Hilflosigkeit darzustellen. Ebenso wenig riskierte es kaum ein Regisseur oder Autor mehr, die Liebe dieses Helden als pure Projektion eines Geisteskranken auf eine kommunikationsunfähige Mitinsassin zu entlarven. Diese Radikalität ist untrennbar mit der lange Zeit geschmähten Rahmenhandlung verbunden, die später hinzugefügt wurde und in vergleichsweise zurückhaltendem expressionistischen Dekor spielt. Im Mikrokosmos des Irrenhauses herrscht Melancholie, Ausweglosigkeit und Asexualität unter der Aufsicht eines zweifelhaften Direktors. Dagegen in den expressiv verschobenen, schrägen Orten geisteskranker Phantasie, da sind sie plötzlich, die vitalen Triebe: Geilheit, Hass, Mordgier, Machtwille. Die Wahrheit des Wahns steht gegen die Depressivität der naturalistischen Realwelt. Deshalb wirkt das Ende so beängstigend, deshalb misstraut man ihm, ohne dies inhaltlich fixieren zu können: weil diese Realwelt letztlich die Welt des seelischen Todes ist.

Wie stark hier eine Kritik der wahnsinnigen Vernunft stattfand, spürte Sergej Eisenstein nur zu gut, als er Das Cabinet des Dr. Caligari voller Abscheu als »barbarische Orgie der Selbstvernichtung gesunden Menschentums in der Kunst«, als »Massengrab aller gesunden Prinzipien des Films« denunzierte, obwohl sein ›gesunder‹ Stalinismus kaum als Alternative zum caligaresken Wahn in Frage kommen dürfte. Die Fundamentalkritik an der ›gesunden‹ Weltwahrnehmung, das tiefe Misstrauen gegenüber Welt und Ordnung, das nietzscheanische Spiel mit der Alternative Wahnsinn ist notwendiger Bestandteil eines jeden Horrorfilms. In Das Cabinet des Dr. Caligari erlebt man all das in bis heute unübertroffener Konsequenz.

Harald Harzheim

Literatur: Fernan Jung / Claudius Weil / Georg Seeßlen: Enzyklopädie des populären Films. Bd. 2: Der Horror-Film. München 1977. – William K. Everson: Klassiker des Horrorfilms. München 1979. – Norbert Stresau / Claudius Weil / Georg Seeßlen: Kino des Phantastischen. Hamburg 1980. – Ronald Hahn / Volker Jansen: Lexikon des Horror-Films. Bergisch-Gladbach 1985. – Peter Weiss: Avantgarde Film. Frankfurt a. M. 1995. – Mel Gordon: The Grand Guignol – Theatre of Fear and Terror. New York 1997. – David Robinson: Das Cabinet des Dr. Caligari. London 1997.