FILM-KONZEPTE 60 - Roy Andersson

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Z serii: FILM-KONZEPTE
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Thomas Koebner

Der melancholische Satiriker

Roy Anderssons Trilogie SONGS FROM THE SECOND FLOOR, YOU, THE LIVING und EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH

I.

Eine unvergessliche Szene (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), äußerlich fast ein Scherz, ein Sich-Verpassen, wie es tausendfach geschieht, doch schwingt in der Anordnung tiefgründige Melancholie mit: Ein schmaler, dunkel angezogener Mann steht auf einer leicht abschüssigen Straße vor den zwei Panoramafenstern eines Restaurants. Er war offenbar hier verabredet, ist sich aber nicht mehr schlüssig, zu welcher Zeit. Er telefoniert, kann aber wohl nur auf ein Band sprechen. Er geht zögernd die Straße hinauf, um die Ecke, kommt später wieder, da sitzen schon andere Gäste an den Tischen. Eine Runde lacht lauthals – man sieht es. Dagegen wirkt der einsame Mann vor dem Fenster wie ein trauriger Schatten, als sei sein misslicher Zustand, »bestellt und nicht abgeholt«, zugleich die Formel seiner Existenz.


EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH

Samuel Becketts Sentenz vom vergeblichen »Warten auf Godot« (der Titel seines in Paris 1953 uraufgeführten Theaterstücks) lässt sich mit dieser Szene assoziieren. Wer immer der Erwartete sein soll, er wird sich nie einfinden. Auch bei Roy Andersson hat sich jemand in einem absurden Spiel verfangen, er fragt und erhält keine Antwort, er zaudert und kommt kaum von der Stelle: Man könnte ebenso von einer existenzialistischen Parabel sprechen, einer Parabel vom versäumten oder gelähmten Leben.

II.

Andersson schafft sich eine eigene Raumwelt. Fast alle Einstellungen sind im Atelier gedreht, für die Errichtung aufwändiger Bauten nimmt er sich mehrere Monate Zeit. Wenn kein realer Zug zur Verfügung steht, lässt er einige Waggons rekonstruieren. Für eine relativ kurze Einstellung – ein älterer Würdenträger wird aus einer Versammlung singender Alt-Burschenschaftler und ihrer Damen abgeholt (YOU, THE LIVING) – konzipiert er einen weit in die Tiefe reichenden Saal. Für das Kindesopfer, einen (erfundenen) fatalen Ritus mit öffentlicher Beteiligung (in SONGS FROM THE SECOND FLOOR), holt er nicht nur zahllose Komparsen zusammen, um sie in Kostüme zu stecken – um den Eindruck einer zuschauenden Menschenmasse zu erzeugen, behilft er sich damit, viele weitere Personen auf Papptafeln aufmalen zu lassen. Wiederholt ersetzt er Gebäudeteile durch Kulissen, die zum Teil kameraoptisch eingespiegelt werden. Im Gegensatz zum späten Federico Fellini, der sich mit Kamera und Schauspielern auch vorzugsweise im Atelier aufhielt, aber keine Zweifel daran ließ, dass sich die Handlung in einer künstlichen Szenerie abspielt (und das wogende Meer etwa aus blauen Plastikbahnen besteht), vertraut Andersson auf den Trompe-l’œil-Effekt: Die Schauplätze erwecken einen changierenden Eindruck, einerseits behaupten sie einen gewissen Realitätscharakter, andererseits verraten sie, dass hier Spielorte mit Holz, Leim und anderen Materialien »täuschend ähnlich« nachgebaut worden sind. So schaltet Andersson die Zufälle aus, die Aufnahmen »vor Ort« beeinträchtigen könnten, die Menschen, die durchs Bild laufen, sind von ihm auf Zuruf losgeschickt worden. Dafür bietet sich ihm die Möglichkeit, Scheinwerfer so zu dirigieren, dass oft eine eigentümliche, »unechte« und häufig recht helle Licht-Atmosphäre entsteht, die – unter anderen Indizien – an die Ausleuchtung einer Theaterbühne erinnert.

III.

Unter diesen künstlichen Dekorationen fallen drei, sozial konnotierte Raumtypen besonders auf. Erstens: kleine Zimmer, durch deren Fenster man die vielstöckigen Wohnmaschinen sieht, in denen oft Menschen unterkommen, die eher dem Kleinbürgertum zuzurechnen sind. Ein grünlich-bläulicher Schimmer liegt bisweilen auf den gekalkten Fassaden. An den kahlen Wänden der Zimmer hängt, wenn überhaupt, nur ein kleines Bild, das bei Erschütterung in das darunter stehende Aquarium fällt (in YOU, THE LIVING). Fast immer ist eine Tür auf der der Kamera gegenüberliegenden Seite geöffnet, so dass ein schmaler Flur und ein angrenzendes Zimmer sichtbar werden, in dem sich oft Mitbewohner beschäftigen. Manchmal kommt eine Frau aus dem Flur ins Bild, im Negligé oder nackt und rundbäuchig unter einem Schlafrock. Manchmal treten Personen ans Fenster und sehen hinaus – in die Einöde dieser unwirtlichen Vorstadt. Desungeachtet können sich in diesen Raum-Kombinationen Dramen abspielen: Im Vorderzimmer will ein älterer Mann eine Weinflasche öffnen (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), beim Korkenziehen erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt, unbemerkt – seine Frau in der hinten angeschnittenen Küche werkelt eifrig weiter und singt vergnügt.

Das Nebeneinander von einem drastisch ausgespielten Sterben und behaglicher Lebensroutine erzeugt eine Dissonanz, die merkwürdig genug kaum pathetische Erschütterung zur Folge hat. Als würde eine Autorstimme stoisch dazu murmeln: Das ist der Lauf der Dinge, so geschieht es eben, wir können nicht eingreifen. Der Gestus der unaufgeregten, fast unberührbaren Zeugenschaft, selbst bei ungeheuerlichen Visionen, kennzeichnet die Erzählweise Anderssons. Vermutlich handelt es sich um einen vorgetäuschten Gleichmut, der den Schrei des Entsetzens überspielen will.

Man mag diese monotone Architektur von Schachteln als Kritik an der engen Wohnsituation in »Sozialbauten« verstehen, eine Enge, die zu Nachbarschaftskonflikten führen kann. Ein Mann übt auf einem Sousaphon, einer Steigerung der Tuba (in YOU, THE LIVING). Der Bewohner unter ihm, anscheinend aus dem Schlaf aufgescheucht, nimmt einen Stock und klopft gegen die Decke, der Putz rieselt herab, einer der Aufhänger der Deckenlampe reißt. Der Zornige demoliert allmählich sein eigenes Zimmer. Schnitt: Von der anderen Straßenseite beobachtet ein Mann die slapstickartige Zerstörung gegenüber, völlig gelassen sieht er dem Ausbruch des Chaos zu und lässt sich von seiner Frau im Off ins Bett rufen. Wieder erstaunlich, wie unbewegt dieser Betrachter im Bild bleibt – vielleicht verliert das Katastrophische aus großem Abstand seinen Schrecken.

IV.


EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH

Zweiter Standard-Ort: Bars, Kneipen, in denen stumme Personen an den Tischen sitzen, Statisterie, einsame, armselige oder sehr alte Menschen, die dahindämmern und eine Art lebender Kulisse bilden, vor der die Protagonisten agieren. Diese »Versammlungsorte« eignen sich für Zeitsprünge: In einem eher trüben Souterrain-Lokal beginnt die Wirtin (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), die hinkende Lotta, plötzlich »Glory, glory, hallelujah« zu singen – die Szene soll sich 1943 abspielen –, und schenkt an viele junge Männer, die sich vor ihr aufreihen, einen Schnaps aus, als Gegenleistung für eine Umarmung oder einen Kuss. Bildzitate fließen ein, etwa wird auf den Times-Square-Kuss angespielt, eine berühmte Fotografie, die einen Soldaten zeigt, der sich nach dem Friedensschluss in New York über ein Mädchen beugt. Schweden war im Zweiten Weltkrieg neutral, auch wenn viele Sympathien dem Dritten Reich galten: An diese schmähliche Brüderschaft, zu der sich zumal das gehobene Bürgertum bereitgefunden hatte, erinnert Andersson in etlichen anderen Einstellungen. In dieser Kneipenszene, bei der hinkenden Lotta, sehen wir nur junge Männer vor uns, die in anderen, den kriegführenden Ländern in Uniform gesteckt und an die Front (und voraussichtlich in den Tod) geschickt worden wären. Da ist ein Kuss ein Versprechen von Leben. Und die Zeile »Glory, glory, hallelujah« der Refrain der »Battle Hymn of the Republic« aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg.

Eine hell erleuchtete Bar mit einer langen Theke, die an einer Seite rechtwinklig abgeknickt ist (in YOU, THE LIVING): Wenn die Glocke läutet, können die Gäste ein letztes Mal eine Bestellung aufgeben. Der Raum ist belebt wie ein Marktplatz. Einzelne Personen verhalten sich auffällig: eine an Weltschmerz und Selbstverachtung leidende Frau im mittleren Alter, die, betrunken, ihre Not unbeherrscht hinauskräht; ein stilles junges Mädchen, das einen Rockmusiker liebt und einen Wunschtraum erzählt. Ist diese Bar ein Gleichnis für eine Gesellschaft, die einzelnen durchaus erlaubt, »laut« zu werden, doch diese Schicksale (von einigen wenigen abgesehen) ohne viel Mitgefühl zur Kenntnis nimmt? Die alltäglichen Routinen setzen sich durch, schmelzen die Ausbrüche der (sinnlosen oder nicht genauer motivierten) Frustration und selbst die zart intimen Bekenntnisse in das Geräusch des Geredes ein.

Ein Café, ebenerdig (in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH), Leute von heute, meist stumm in sich versunken, eine Frau weint: Da dringt mit lautem Getrappel ein Reiter in historischer Uniform auf einem unruhigen Rappen von der Straße in den Innenraum, knallt mit dem gezogenen Degen auf die Tische und verscheucht die Frauen. Danach Auftritt des legendären schwedischen Königs Karl XII., der sich von einem Jungen hinter der Bar ein Glas Wasser einschenken lässt und anschließend seine Hand zärtlich auf dessen Hand legt. Was leistet diese Sequenz? Die Demontage eines jugendlichen Herrschers, der sich als radikaler Frauenfeind entpuppt und vermutlich auch als homosexuell. Der Feldzug gegen die Russen geht in einer Schlacht verloren, die derangierten Soldaten, in zerfetzter Kleidung, in Bandagen gehüllt, humpeln und schleichen sie später in umgekehrter Richtung die Straße zurück. Wieder beehrt der waidwunde König das Café, er muss auf die Toilette, aber die ist besetzt. So zerbrechen Triumph und Tragik eines monarchischen Helden aus dem Geschichtsbuch an der Banalität des Alltags.

 

V.

Ein drittes Raumkonzept: Säle und Korridore, die sich zentralperspektivisch in die Tiefe erstrecken, scheinbar offene Landschaften mit tief liegendem Horizont. Solche Einstellungen finden sich mehrmals in SONGS FROM THE SECOND FLOOR: etwa in der Konstruktion einer schier endlosen Flughafenhalle. Aus den Türen rechts quellen Leute mit hoch aufgetürmten Wagen, sie wollen mit beinahe allem Hausrat, auch ihren Golfschlägern – es handelt sich also um Wohlhabende –, das Land verlassen, links warten hintereinander die uniformierten Hostessen der Fluggesellschaften. Doch die schwer belasteten Fuhren lassen sich nur mit Mühe vorwärtsbewegen, sie bleiben aus unerfindlichen Gründen stecken, keiner erreicht die Schalter auf der Gegenseite. Die Szene gleicht einem Traumerlebnis, einer Albtraum-Vorstellung: Alle Anstrengung führt zu nichts, man möchte vorankommen, doch man strampelt vergeblich in einer zähflüssigen unsichtbaren Masse.


EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH

Eine Art Vorstandssitzung an einem unglaublich langen Tisch (in SONGS FROM THE SECOND FLOOR): Hinten, wegen der Entfernung ziemlich klein, ein Vorsitzender, der »ausgeleierte« Wirtschafts-Phrasen äußert, vorn links ein ergrauter Buchhalter, der in seinen Akten blättert, ohne die passenden Unterlagen zu finden. Währenddessen geht eine Kristallkugel von Hand zu Hand, ein Jahrmarktsobjekt, das angeblich einen Blick in die Zukunft gestattet – die Herren starren jedenfalls mit ernster Miene hinein. Bemerkenswert ist der große inszenatorische Aufwand, der dazu dient, die herrschende Klasse alter Männer zu enttarnen. Die satirische Absicht ist unverkennbar, vielleicht sogar allzu durchsichtig, mit der das Ansehen von Führungsautorität und »Wirtschaftsweisheit« auf das Nullniveau herunter gestimmt, als ratlose Wichtigtuerei und eine Art seriöses Kasperletheater entlarvt wird.

Im Kontrast zu solch kabarettistischer Denunziation oder Demontage stehen einige Sequenzen, die wirkliches Grauen in komplexe Bildkompositionen einfädeln: Als Beispiel sollen die Schlüsse der ersten beiden Filme dienen. Kalle, die Hauptfigur in SONGS FROM THE SECOND FLOOR, steht neben einer Müllhalde auf freiem Feld. Schon bisher hat ihn beunruhigt, dass eindeutig Tote ihn, der noch mitten im Leben zu sein scheint, angesprochen haben. Nun sieht er, wie aus beträchtlicher Entfernung ein Trupp von Toten sich ihm nähert, langsam, unaufhaltsam. Als er zur Abwehr einen Gegenstand in ihre Richtung wirft, schrecken sie zuerst zurück, bewegen sich aber dann weiter voran, zusätzlich erheben sich plötzlich rechts und links vom Weg aus dem flachen Boden weitere Tote, unzählbar viele. Angstvision eines Menschen, der sich von der Vergangenheit, den Toten, eingeholt glaubt? Kommt hier das längst vergessen und verdrängt Gewähnte wieder »bedrängend« zum Vorschein? Andersson ist es augenscheinlich um eine suggestive Allegorie der Wiederkehr in Gestalt der Wiederkehrenden zu tun.

Mag man diese Sequenz noch als Gedächtnis-Erweiterung eines einzelnen Menschen verstehen, so vertieft der Schluss von YOU, THE LIVING die subjektive Furcht zur kollektiven Endzeit-Angst. Das Finale setzt ein mit einer halb ins Komische gedrehten Demütigung. Ein Upperclass-Paar weist von Innen auf Stellen im großen Fenster, die der Fensterputzer im Blaukittel, vorne außen, übersehen haben soll. Da, am Himmel scheint sich etwas zu ereignen, alle richten ihre Blicke nach oben. In einem kleinen Hof bringt ein Vater seinem Kind das Radfahren bei, es dreht seine ersten Runden, da sieht auch der Vater hoch. Man scheint über den Wolken zu fliegen, doch jedes Glücksgefühl schwindet, als oberhalb Flugzeuge auftauchen, unverkennbar Modelle der B-52-Bomber, die über Vietnam eingesetzt worden sind. Auf einmal vergewissert man sich, dass man als Beobachter selbst in einer solchen Maschine sitzt – also mit in Haft genommen werden kann für die apokalyptische Wendung, die die Erzählung nimmt. Ein ganzes Geschwader fliegt über eine im Sonnenschein leuchtende Stadt tief unten. Was ist zu erwarten? Ein vernichtendes Bombardement mitten im Frieden?

VI.

Der erste Film SONGS FROM THE SECOND FLOOR überzieht die christliche »Staatsreligion« mit leichtem Spott und grimmiger Satire. Ein Kollege von Kalle treibt Handel mit Kruzifixen aller Größen – ein Handel, der sich nicht auszahlt, so dass der enttäuschte Geschäftsmann die Kreuze achtlos, wenn nicht gar verächtlich auf einem Müllberg entsorgt. Gläubige Seelen werden diese »Ausmistung« etwas verstört quittieren. Schon zuvor erweist sich das Kruzifix als komisches Objekt: Die Befestigung am Querarm eines mittelgroßen Kreuzes ist auf den Boden gefallen, so dass die Figur des Christus wie ein Pendel hin und her schwingt, während ein Angestellter emsig, aber erfolglos nach dem fehlenden Nagel sucht, um das Abbild des leidenden Heilands wieder korrekt am Kreuz zu arretieren – nach dem Vorbild der römischen Soldaten einst in Jerusalem. Ins Ungeheuerliche steigert sich Anderssons Religionskritik im Ritual des Kindesopfers. Ein knapp elf-, zwölfjähriges Mädchen, in weißem Gewand und mit verbundenen Augen, wird an den Rand einer Klippe geführt und in den Abgrund gestoßen. Feierlich aufgereihte Klerikale in verschiedenen Ornaten und weitere würdige »Stützen der Gesellschaft« säumen rechts und links die letzte Strecke, die das arglose Kind entlanggeführt wird – es wähnt sich vermutlich sicher an der Hand der Erwachsenen. Die Parodie des christlichen »Passionswegs« schlägt hier in Anklage um, nur wird die Klägerfunktion den Zuschauern zugeschoben. Ein Opferritual, dessen Auftraggeber und Sinn unerfindlich bleiben, verliert jegliche Legitimität und entpuppt sich als Ritualmord – wie die Gemeinschaft, die dies zuwege bringt, als bösartige Sekte. Die Inszenierung legt die Idee nahe, Repräsentanten unserer »real existierenden« Gesellschaft stellten diese fatale Gemeinschaft dar.

VII.

Der zweite Film YOU, THE LIVING legt eine andere Wunde bloß: die moralische Koalition von Teilen des schwedischen Bürgertums mit dem »Dritten Reich« (von dieser unheilvollen Parteinahme berichtet auch Ingmar Bergman in seiner Autobiografie Laterna magica). Eine kuriose Episode führt auf einem Umweg zum Zeugnis verdeckten Nazitums. Ein stämmiger Arbeiter in einem Auto erzählt, zur Kamera schauend, von einem seltsamen Traum: Er ist Gast in einem großbürgerlichen Haus, alle umstehen eine lange Tafel, die mit kostbar wirkendem Porzellangeschirr gedeckt ist. Er will einen Trick vorführen: am Tischtuch so schnell ziehen, dass das Geschirr unversehrt stehen bleibt. Nur ist das Tuch viel zu lang, er stürzt, Scherben überall. Auf der glatten Oberfläche des nun »freigeräumten« Tischs sieht man große Hakenkreuze als Intarsien eingelegt. Dieses symbolische Ensemble prägt sich ein: oben das Porzellan als Signatur der feinen bürgerlichen Sitten, darunter die kaschierten Nachweise einer verwerflichen Ideologie, einer unentschuldbaren politischen Verirrung. Der Arbeiter, der durch seine missglückte Artistennummer die peinliche Vergangenheit unabsichtlich enthüllt hat, quasi als unfreiwilliger »Aufklärer«, muss dafür eine völlig unverhältnismäßige Strafe erleiden. Er wird zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt – von burlesk agierenden unqualifizierten Richtern, die sich im Gerichtssaal gefüllte Bierkrüge servieren lassen. Die Exekution gerät zur Farce. Hinter der Glasscheibe wohnen ihr Leute bei, die Becher mit Popcorn auf den Knien halten – wie im Kino wolle man es sich als verwöhntes Publikum doch gut gehen lassen, selbst wenn jemand massakriert wird. Wissen die Betreffenden, dass es sich nur um eine Grand-Guignol-Schau, um Bühnen-Horror handelt? Andersson schätzt Szenen, die auf der Kippe stehen: zwischen ironischem Spektakel und der Rekonstruktion einer fast unerträglichen Wirklichkeit. Galgenhumor – im Sinne des Wortes Humor noch unter dem Galgen, an dem man noch nicht hängt, weil glücklicher Zufall es bisher verhindert hat.

Unter den Toten, denen der Protagonist Kalle in SONGS FROM THE SECOND FLOOR begegnet, ist ein junger Russe mit einem Strick um den Hals, der eifrig auf ihn einredet, wohl russisch, nicht synchronisiert. Eine Rückblende beleuchtet sein Schicksal: Deutsche Soldaten haben bereits seine Freundin (?) aufgehängt, sie baumelt leblos neben der Stelle, an der in wenigen Minuten sein Hals unter der Last des fallenden Körpers brechen wird. Waren sie Partisanen? Jedenfalls sind sie einem Mordkommando der Wehrmacht in die Hände gefallen. Das Gedächtnis der Toten gilt offenbar als unauslöschlich, dem Gedächtnis vieler Lebender entschwinden dagegen die Spuren, die von den falschen Pakten der Vergangenheit zeugen. Einem sehr alten, sehr reichen Mann (wieder in YOU, THE LIVING) ist der falsche Glanz dieser schmählichen Kooperation mit den Nazis noch gegenwärtig: Als er im Altersheim Besuch erhält – immer noch gibt es devote Verehrer –, streckt er bei einem Tusch die Hand zum Hitlergruß aus. Dann rüttelt er an den Stäben seines Gitterbetts, in dem er wie ein unmündiges Kind arretiert ist. Erregt der mümmelnde Greis auch Mitleid? Er ist jedenfalls zu alt, um noch einmal hinausgelassen zu werden und weiteres Unheil anzurichten.

VIII.

Andersson scheint beinahe verletzt darauf zu reagieren, dass die Chancen, ein gutes Leben führen zu dürfen, ungerecht und ungleich verteilt sind. Die Spannung zwischen Herrschaft und Knechtschaft beschäftigt ihn andauernd, die stumpfe Selbstverständlichkeit, mit der die Etablierten Macht über andere beanspruchen, und die Demütigung, die sich die Abhängigen gefallen lassen müssen, als könne man diesem vorgeblich »naturgewollten« oder gar »gottgewollten« Verhängnis nicht entkommen.


EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH

Im letzten Teil der Trilogie, in EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH, weitet Andersson sein Blickfeld aus, um noch andere Fälle der »Unterdrückung« zu suchen. Ungeheuerlich ist die als Traum umrahmte Sequenz, in der eine riesige Walze als Marterinstrument benutzt wird: Die langgestreckte Trommel sieht aus, als sei sie aus Kupferblech. Figuren in der Uniform englischer Kolonialsoldaten treiben Schwarze, die sie wie Sklaven schikanieren, durch eine Seitentür in die Walze hinein. Sie legen Feuer unter das Monstrum, das sich langsam um die Längsachse zu drehen beginnt. Die Eingesperrten, so ist anzunehmen, werden lebendig verbrannt. Wir hören von den Gemarterten nichts anderes als ein verfälschendes, geradezu sanftes Summen/Dröhnen, das durch viele unterschiedliche Trompetenöffnungen in der Walze ans Ohr dringt. Hört sich so der Gesang der in der Bibel (Buch Daniel, 3, 1ff.) erwähnten drei Jünglinge im Feuerofen an? Die Parallele zu historischen Kriegsverbrechen, etwa zum Massaker von Oradour 1944, scheint ebenso auf der Hand zu liegen: Eine SS-Panzerdivision pferchte Einwohner des französischen Dorfs in einer Kirche zusammen und zündete das Gebäude an. Das trügerisch schimmernde und singende Ding, die Walze, könnte ein Fundstück aus der Schreckenskammer der Geschichte sein und bietet sich zugleich als Metapher für die sadistischen Henkerfantasien der europäischen Invasoren an, die sich die »Dritte Welt« untertan machten. Oder sollte man, was naheläge, an das tödliche Folter- und Exekutionsinstrument aus Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie denken (1914 entstanden, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs)?

Wer ist imstande, diesen rational berechneten Mord gelassen oder gar interessiert zu verfolgen, ohne die Augen zu schließen? Der Film bündelt die irrlichternden Empfindungen seines Publikums und fixiert den eigenen Widerwillen auf Zuschauer auf der Leinwand. Aus einer gegenüber liegenden Villa drängt eine noble Gesellschaft auf die Terrasse, meist ältere Herren in Begleitung weniger Damen, unverkennbar und wieder einmal »the ruling class«; sie trinken Sekt, während sie das grauenvolle Schauspiel ungerührt betrachten (übrigens so ungerührt wie der Reisende in Kafkas Erzählung die grausamen Vorgänge zunächst zur Kenntnis nimmt).

 
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