FANTASTISCHE WIRKLICHKEITEN

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Brut

Jürgen vom Scheidt: Erster Kontakt

Der Traum, mit dem er an diesem Morgen aufgewacht war, hatte ihn zunächst sehr bedrückt. Da war ein unangenehmes Gefühl, etwas Wichtiges nicht begreifen zu können und den Inhalt des Traums auch noch zu vergessen, als er daraus hochschreckte. Zugleich war da seltsamerweise ein Glücksgefühl in ihm gewesen, wie er es lange nicht mehr erfahren hatte. Was das Vergessen doppelt ärgerlich machte.

Aber während er versonnen die Zähne putzte, mit der elektrischen Bürste die Innenseite der oberen Schneidezähne reinigte, waren – plop – plop – plop – drei Szenen des Traums wieder in sein Bewusstsein gehüpft. Ja, der Traum hatte aus drei Teilen bestanden, die irgendwie miteinander zu tun hatten, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Beim Frühstück hatte er sich rasch notiert, was er noch erinnerte:

Alles andere davor gab es nicht oder war endgültig dem Vergessen anheimgefallen. Doch dieser düstere Moment, als dieser Raumfahrer (was sonst sollte es sein – ein Tiefseetaucher?) auf ihn zutrat. Als er ihn hinter dem Visier seines Helms anstarrte, die Lippen bewegte, als wollte er ihm, Mischa Schröder, etwas mitteilen, etwas sehr Wichtiges – und weg war er, der Astronaut.

An seine Stelle trat diese grünlich schillernde Nixe, die von irgendwoher auftauchte, vielleicht sogar aus dem See, der im Hintergrund in anbrandenden Wellen changierte (war dort dieser Taucher oder Astronaut unterwegs?). Absurderweise hingen zwei Monde am Himmel, wie gewaltige Lampions. Die Wasserfrau ließ sich, nackt, wie sie war, auf einem Felsen vor ihm nieder, rekelte sich lasziv lockend – aber in diese Tiefen wollte er ihr nicht folgen, da war ein sehr unangenehmes Gefühl von lauernder Gefahr –

Doch dann ein sanft aufsteigendes Glücksmoment, als von links diese Medusa heranschwebte, türkisfarben der Körper, fast durchsichtig und orangefarben mit rötlichen senkrechten Streifen oben – ihr Kopf? Fremdartig und doch auch irgendwie vertraut –

Wann hatte er so etwas schon einmal gesehen – in einem Aquarium im Zoo? Damals mit den Eltern in den Ferien am Meer, auf Sylt?

Es hatte etwas mit der Zahl Dreißig zu tun, aber was? Und warum? Er mochte die Drei, sie war seine Lieblingszahl, hatte ihn sein ganzes Leben Glück bringend begleitet – drei tolle Frauen hatte er geliebt, drei Arbeitsstellen voll inspirierender Herausforderungen hatte er gemeistert, die rundum okay waren, bis er sich endlich doch selbstständig machte – da konnte die Dreißig doch nur Gutes bringen – dreißig war er gewesen, als er Birgit kennengelernt hatte, was für ein Glück, längst zerronnen –

Seltsamer Traum. Jetzt, wo er von Hand mit blauer Tinte aufgeschrieben auf diesem nüchtern weißen DIN-A4-Blatt vor ihm auf dem Küchentisch lag –

Als er, nun in ausgesprochen heiterer Stimmung, rein zufällig auf die Wanduhr schaute, wurde ihm bewusst, dass er in einer halben Stunde diesen Termin hatte, im Norden der Stadt, im neuen Hochhaus hinter dem Schwabinger Tor. Wenn er das Fahrrad nahm, konnte er das schaffen. Und er schaffte es, wenngleich vor Anstrengung keuchend.

Warum hatte er bloß auf diese Anzeige geantwortet: »Außerirdische suchen ersten Kontakt mit Erdenmenschen.«

Nun saß er schon seit mehr als einer Stunde in diesem nichtssagenden Raum und starrte auf die hundertdreiundvierzig Bilder, die nacheinander an die weiße glatte Wand projiziert wurden und von denen er eines aussuchen sollte. Das war die Aufgabe. Dachte er jedenfalls. Bis er sich endlich für Nummer dreißig entschied. Er konnte nicht sagen, warum es ihm ausgerechnet dieses quallenähnlich durch eine fremde Welt schwebende Ding angetan hatte, dieses geheimnisvoll türkisblau leuchtende Wesen – und nicht die nackte Sirene, die da lockend am Wasser kauerte, mit zwei Monden am Himmel, sichtlich auf einer fremden Welt zu Hause – oder diese Figur im Weltraumanzug, hinter dem Helmvisier nur zu ahnen, dass auch das eine Frau war, die ihn neugierig anschaute.

Plötzlich war da wieder die Erinnerung an den Traum. Seltsame Koinzidenz – dieselben Motive oder wenigstens sehr ähnliche.

Dann erfuhr er von der Frau, von der echten Frau hier im Konferenzraum (oder war es so etwas wie ein Versuchslabor?), von dieser schlanken Frau mit den unglaublich grünen Augen und den Kurven an den richtigen Stellen, worum es tatsächlich ging. Und das haute ihn denn doch von den Socken, wie man umgangssprachlich sagen würde – und was die Fremde wohl kaum verstehen würde – oder doch?

»Erinnern Sie sich noch, was in der Anzeige stand, auf die Sie reagiert haben?«, sagte sie.

Mischa Schröder nickte: »Na klar.«

Blondie nickte, lächelte ihr umwerfend schönes, verheißungsvolles Lächeln. »Und jetzt sind Sie da, Mischa Schröder, hier bei uns. Und wir sind diese Fremden von der anderen Welt, diese Außerirdischen. Und schon hat er begonnen, der erste Kontakt.«

»Sie sehen so gar nicht aus wie Außerirdische –«

»Wie sehen die denn aus? Wie in diesen Science-Fiction-Filmen? Aliens mit Tentakeln und riesigen Gehirnen und so, die schreiende halb nackte Frauen entführen?«

Mischa fühlte sich ertappt, nickte und musste gleichzeitig lachen und wippte dabei mit dem linken Fuß, was gar nicht so einfach war, alles drei gleichzeitig.

»Okay, Mischa, es gibt da draußen schon auch solche, die ganz anders aussehen. Wir drei hier in diesem Raum sind gewissermaßen am kompatibelsten mit der Gattung Mensch auf eurem Planeten Erde.«

Die beiden anderen (Männer, wie Mischa annahm) standen auf, verbeugten sich höflich (wie Japaner und Inder) und verließen den Raum. »Alles Weitere wird sich finden«, sagte die Frau, die sich Susanna Kantor nannte und für die Mischa sofort der Name »Blondie« eingefallen war, er wusste nicht, weshalb – doch, klar: die Farbe ihrer Haare!, dieser langen Mähne, die sie gern herumwarf, wenn sie den Kopf mal schüttelte.

»Alles andere steht, buchstäblich, in den Sternen, Mischa.«

Und, dachte Mischa sehnsüchtig, es steht in deinen grünen Augen, Er konnte nicht anders: Er stand auf und wollte auf sie zugehen. Alles Weitere wird sich finden, durchfuhr es ihn. Aber sie hob nur abwehrend die Hände. »Nicht so schnell«, sagte sie, leise und bestimmt, »erst gibt es noch einiges zu tun.« (Eine Ablehnung sieht anders aus, oder?)

Die beiden Männer kamen zurück, schoben auf Rollen ein Gerät an die Wand, das wie eine alte Jukebox aussah.

Mischa Schröder fühlte sich plötzlich sehr elend. Er hatte zu viel von dem Konfekt gegessen, das die Fremden ihm angeboten hatten, genauer: das sie mit ihm geteilt hatten. Denn eigentlich war es ja sein Geschenk, um das sie gebeten hatten:

»Bringen Sie etwas mit, ein kleines Geschenk nach ihrem Geschmack«, hatte es in der E-Mail geheißen, die sie ihm sofort schickten, nachdem er auf die kleine Anzeige im Wirtschaftsmagazin brand eins reagiert hatte:

»Außerirdische suchen ersten Kontakt mit Erdenmenschen …«

Ja, genau so hatte es im hinteren Teil des Wirtschaftsmagazins geheißen, das er gerne las. Er las sonst nie Anzeigen, aber in dieser Zeitschrift waren sie immer recht originell und berührten Themen, die ihn interessierten. So war es mit dem Generalthema der aktuellen Ausgabe des Magazins gewesen: Das Fremde und die Fremden. Und dann, passgenau, dieses Inserat. Er hatte das gute Dutzend Artikel vorne im Heft mit großem Interesse, ja geradezu mit Begeisterung studiert, weil er in der Jugend ein Fan von utopischen Erzählungen gewesen war. Allerdings hatte er dann im Laufe seines Berufslebens zunehmend das Interesse an Science-Fiction verloren. Nun war es wieder geweckt worden, auch wenn sich nur wenige der Beiträge im aktuellen Heft mit utopischen Themen befassten wie Digitalisierung und Roboter und KI und Raumfahrt als Wirtschaftsfaktor und pro und kontra Atomenergie im Zeichen des Klimawandels. Die meisten Texte handelten von sehr irdischen Belangen – wie es in modernen Firmen zuging, oder zugehen sollte, in Start-up-Unternehmen und Konzernen, aber auch bei kleinen Leuten wie ihm, solche mikroökonomischen Beiträge las er besonders gern – Wirtschaftsthemen halt, gut recherchiert, lesbar geschrieben, unterhaltsam, informativ und sinnvoll miteinander vernetzt.

Als er dann infolge seiner Reaktion auf diese Annonce umgehend den Termin für ein Erstgespräch genannt bekam, war er schon sehr aufgeregt gewesen, wenn auch zweifelnd, schließlich verstand er sich als skeptischen Menschen. War alles nur ein dummer Scherz? Ein Gag, um die Intelligenz (Dummheit?), Aufmerksamkeit der Leser zu testen? Oder vielleicht, wie man sie zu Reaktionen verführen konnte?

Andererseits hatte ihn sein früheres Interesse für utopische Literatur irgendwie darauf vorbereitet. Irgendwann musste es doch mal passieren. Viertausendeinhundertzweiundsechzig Exoplaneten hatte man bereits entdeckt, das war der aktuelle Stand. Allein in der Milchstraße musste es Milliarden solcher Welten geben, und warum nicht auch solche mit intelligenten Bewohnern?

Tja, wäre da bloß nicht das leidige Problem mit diesen astronomischen Entfernungen und der angeblichen Unmöglichkeit, sich schneller als mit Lichtgeschwindigkeit zu bewegen. Und Transport im Kälteschlaf – brrr – ihn schüttelte es bei dem Gedanken an die Temperatur nahe dem Nullpunkt und die klaustrophobische Enge in so einem Schneewittchensarg – aber Aliens können das ja vielleicht schaffen, genmanipuliert oder was auch immer, oder? Mir fehlt es nicht an Fantasie, aber das hier ist die Realität

 

Sein Sodbrennen würgte ihn. Dieses dämliche Konfekt, zweimal zweiundzwanzig – das waren vierundvierzig verschiedene Pralinen, mit sechzehn Geschmacksvarianten, von der Confiserie Lauenstein. Ein Sonderangebot des Supermarkts. Er hatte ja zunächst schlichtweg vergessen, dass man ein »kleines Geschenk« mitbringen sollte zur ersten Besprechung. Im letzten Moment was ihm das wieder eingefallen, als er das Hochhaus im Münchner Norden schon sah, wo das Treffen stattfinden sollte. Zum Glück war da dieser Supermarkt. Und dort, auf dem Tisch mit den Sonderangeboten, gleich beim Eingang, lagen Schachtel über Schachtel mit den verführerischen Süßigkeiten. Statt dreiunddreißig Euro reduziert auf vierzehn-neunundneunzig. Ein Schnäppchen und dann auch noch eines, von dem er selbst nur zu gerne naschen würde. Vielleicht waren die Außerirdischen ja so beschaffen, dass sie nicht gleich mit Sodbrennen auf das süße Zeug reagierten.

Es war nicht nur das Sodbrennen, das ihn nach der vierten Praline plagte – sondern die verführerisch schöne Blondine, die das Gespräch in dem schmucklosen Konferenzraum leitete. Die hatte genauso viele Pralinen aus der Schachtel gepickt wie er selbst, er hatte automatisch mitgezählt. Immer wenn er eine nahm – hatte sie auch eine genommen, zwischen diese unglaublich schönen, kräftig rot geschminkten Lippen gesteckt, sie genüsslich im Mund zergehen lassen, ihn dabei mit diesen verführerischsten aller grünen Augen angestrahlt, in die er je in seinem Leben geblickt hatte.

Genau wie sie hatten es die beiden Männer mit dem Konfekt gemacht, von denen der eine jedoch irgendwie unmännlich auf ihn wirkte – war der schwul? Oder transgender? Auch sie hatten, fast zeitgleich, mit ihm und Blondie in die Schachtel gegriffen und es offensichtlich sehr genossen, die Süßigkeiten in ihren Körper aufzunehmen.

Bekamen die denn kein Sodbrennen? Naja, wenn es wirklich Außerirdische waren –

Der Fasching war doch längst vorbei – wenn das kein Scherz war, irgendein Marketing-Gag – wenn es wirklich Außerirdische waren –

Auch der Rücken machte ihm wieder mal zu schaffen. Er hatte zu Hause zu lange vor dem Computer gesessen und an dem Bauprojekt gearbeitet, dessen Statik er überprüfen sollte. Umbau eines alten Siedlungshäuschens in ein schickes Heim für eine indische Programmierer-Familie, die nach München gezogen war – Vater, Mutter, zwei weibliche Teenager – alle vier exzellente Programmierer (wie man ihm im Projektbüro ehrfurchtsvoll gesteckt hatte). Das ewige Trauerspiel in München: Solvente Mieter verdrängten Alteingesessene, welche die Miete nicht mehr stemmen konnten. Aber so war das nun mal in der globalisierten Welt, da konnte sich die AfD noch lange daran abarbeiten. Für manche war sie eine Verbesserung ihrer Lebensumstände – andere fielen hinten runter. Siebeneinhalb Milliarden Menschen, demnächst acht – wer würde das Rennen in die Zukunft machen?

Er hatte diese Inder bei einem Besichtigungstermin kurz kennengelernt und gestaunt, wie gut sie schon Deutsch sprachen, wenngleich mit dem typischen indisch-englischen Akzent. Aber was soll’s – wenn sein Hindi oder wenigstens sein Englisch so gut wäre wie deren Deutsch –

Er hatte in der Schule einmal Hindi als Wahlfach gelernt, nur ein paar Monate, bis er frustriert das Handtuch warf. Aber für ein »Merhaba« und »Namasde« langte es auch heute noch, mit der entsprechenden Verbeugung und den zusammengelegten Handflächen. Also hatte er »Aapane ek achchha ghar chuna hai« gemurmelt, was für ihn so viel hieß wie »Da haben Sie sich aber ein schönes Häuschen ausgesucht« und seinen Neid hoffentlich nicht mittransportierte. Alles, was auf Deutsch nicht ging und nicht auf Hindi, das würde man locker mit Englisch überbrücken, falls nötig. War aber nicht nötig. Deutsch genügte.

Diese uralte Kultur Indiens, eigentlich eine ganze Palette von verschiedensten Kulturen, dieses quirlige, wuselige Menschengewimmel, das Taj Mahal, Fatepur sikri, das Rote Fort – alles nur Fantasie – er hatte es nie geschafft, die in den Neunzigerjahren kühn geplante Indienreise tatsächlich zu wagen und in diese wirklich fremde Welt einzutauchen. Nun gut, ab und zu ließ er sich bei einem Joint von der Melodie einer Raga entführen, von Ravi Shankar oder Vilayat Khan – oder von der Stimme dieser unglaublichen Sängerin Hirabai Barodekar –

»Können wir weitermachen?« Blondie holte ihn mit einem verschmitzten Lächeln aus den Erinnerungen zurück, in die er unwillkürlich versunken war. »Es sind nur noch einige wenige Bilder, die wir Ihnen anbieten wollen, noch sieben. Hundertsechsunddreißig der hundertdreiundvierzig haben Sie ja schon bewältigt.«

»Okay«, schluckte er, »ran an den Speck – ich hatte heute Nacht einen ziemlich unruhigen Schlaf und zu wenig davon – Hab wohl zu lange ferngesehen –« Diese endlose Reihe der intensiven farbigen Bilder, die der Beamer mit leisem Surren an die Wand warf – Er fühlte sich mit einem Mal entsetzlich müde.

»Ran an Speck?«

»Nur so eine Floskel. Heißt so viel wie: Machen wir weiter.«

Die Bilder tauchten in rascher Reihenfolge an der Wand auf. Es war keines mehr dabei, das ihm gefiel. Er hatte seine Wahl längst getroffen, hatte beim dritten Durchlauf der ganzen Serie den Knopf gedrückt, wie beim Augenarzt, wenn der Sehhorizont überprüft wurde. Sehr nervig, dieser Sehtest, aber nötig für die Prophylaxe, damit sich der grüne Star nicht verfestigte, von dem seine Sehkraft bedroht war. Und nun hier, etwas sehr Ähnliches – und doch ganz anders.

Nur noch fünf Bilder. Seltsames grellbuntes Zeug, psychedelische Landschaften, wie von einem Wahnsinnigen gemalt – oder Fotografien von fremden Welten? Wenn er beim Augenarzt den Sehtest machte, stellte er sich dabei immer vor, dass die blinkenden Punkte auf diesem künstlichen Horizont fremde Raumschiffe waren, die man wegpusten musste, wie bei einem Computerspiel. Vielleicht sollte er es hier genauso machen –

»Geht es Ihnen gut, Herr Schröder? Sie sehen so blass aus?«

»Geht schon. Haben Sie vielleicht einen Schluck Wasser für mich? Der Test ist sehr anstrengend. Ich nehme jedenfalls das Bild mit der Nummer –«

»Wir haben das schon registriert«, sagte Blondie, »die Nummern dreizehn, zweiundzwanzig und dreißig.« Nun ja, er wollte doch einfach zeigen, dass er ein gutes Gedächtnis hatte, ein exzellentes Gedächtnis für Bilder. Fotografisches Gedächtnis, nannte man dies. Leise sagte er: »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Ich zeige Ihnen die ausgewählten drei Bilder jetzt noch einmal, nun aber über ein VR-Display, das die optischen Informationen direkt in Ihr Gehirn einspielt«, sagte der (schwule? transgender?) Mann links von Blondie, Karl Pertler hieß er, oder Karol oder ähnlich, so wie Blondie sich als »Susanna« vorgestellt hatte, »Susanna Kantor«, und der Mann Nummer zwei mit »Paul Rumfeld«. Komische Namen. Naja, Außerirdische halt –

Ich war zu gierig, dachte Mischa, jetzt muss ich dafür bezahlen – nein, er dachte es nicht nur, sondern sagte es laut und deutlich und schaute dabei Blondie an. »Zu viel Konfekt – macht mir jetzt scheußliches Sodbrennen.«

»Dagegen haben wir etwas«, sagte Paul. Er ging zu einem Schränkchen an der rechten Wand und holte eine weißblaue Packung heraus. »Gelusil-Lac«, staunte Mischa, »das verwende ich auch, wenn es mal nötig ist. Nicht oft, aber eben dann, wenn ich Sodbrennen habe. Kommt vom Reflux, meine Speiseröhre ist nicht mehr ganz dicht oben im Hals –« (Wieso erzähle ich das, ist doch echt peinlich –)

»Würden Sie jetzt bitte das Headset aufsetzen«, lächelte Blondie Susanna. Es war weniger eine Bitte als eine nachdrückliche Aufforderung, der er auch sofort nachkam. Er würde jeder Aufforderung nachkommen, die von dieser Frau kam. Seine Neugier war viel zu groß, wie das weitergehen würde.

»Wenn es Ihnen recht ist, spiele ich die drei Bilder nun ein – und Sie sagen mir, was passiert.«

»Die Nummer dreizehn und die zweiundzwanzig können Sie weglassen. Ich habe mich entschieden. Für die Nummer dreißig.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja, ganz sicher.«

»Dann los.«

»Okay«, bestätigte Mischa Schröder und unterdrückte sein Unbehagen, das hinter dem Sodbrennen langsam aus seinem Inneren nach oben stieg. Die drei waren ja schließlich Fremde, von denen er nichts wusste, außer ihren Namen. Aber die Tablette hatte sein Sodbrennen gebändigt und das Mineralwasser hatte gut geschmeckt, sehr vertraut, dasselbe, dass er auch gerne trank, jeden Monat ließ er sich vier Kästen davon in die Wohnung liefern, vom immer selben Getränkelieferdienst Roester. Herrn Roester kannte er schon seit vielen Jahren. Als er nach Birgits Tod in die kleine Wohnung umziehen musste, da war ihm der Getränkedienst gerne gefolgt, man pflegte seine Stammkunden, auch wenn sich die Anzahl der zu liefernden Flaschen halbiert hatte.

»Es geht nun los«, sagte Karel, der Dritte im Bunde.

»Was muss ich tun?«

»Gar nichts Besonderes, nur diese VR-Brille aufsetzen und schauen. Und dann berichten, was passiert.«

Das erste Bild, das nun erschien, war nicht zweidimensional auf die Wand projiziert, sondern beeindruckend lebensecht in allen drei Dimensionen und ja, das war wie in einem Film, also eigentlich vierdimensional! Das war wie ein Tor, durch das man treten konnte. Und er trat hindurch, einfach so –

»Alles okay?«, fragte Blondie. »Sind Sie gut hinübergekommen – und wieder zurückgekehrt?«

»Das war ja unglaublich. Wie im Kino – nur noch viel realistischer. Und irgendwie so vertraut – mit Gerüchen, und auf der Haut spürte ich einen warmen Wind und da war so ein eigenartiger, angenehmer Duft und der Boden vibrierte, so als würde ich mich auf einem Fahrzeug durch diese Landschaft bewegen –«

»Kein Wunder. Das Bild ist so etwas wie ein Portal in Ihre eigene Persönlichkeit. Der Film, wie Sie es nennen, speist sich aus Informationen in Ihrem eigenen Gehirn, aus Details Ihrer Lebensgeschichte gewissermaßen.«

»Ach, deshalb kam mir diese Geruch so vertraut vor, so wie damals, zu Hause in meiner alten Heimat, wenn die Mutter Mittagessen kochte – Aber dieses quallenähnliche Ding, dieses geheimnisvoll türkisblau leuchtende Wesen mit dem orangeroten Kopf, ein Art Meduse – was ist das? Gibt es das wirklich?« Dann wurde ihm bewusst, was er am Morgen geträumt hatte. Wie denn das?

»Ich sagte es doch: Das speist sich aus Informationen in Ihrem Gehirn, aus den Tiefen Ihres Unbewussten. Vielleicht auf rätselhafte Weise in Gegenwärtiges transformiert, von etwas früher Erlebtem, möglicherweise aus Ihren allerersten Kindheitstagen. Das Gehirn sucht sich immer irgendeine adäquate Information, mit der es etwas anfangen kann. Es mag keine Leere – keinen –«

»– keinen Horror vacui«, ergänzte Schröder. »Vielleicht ist das eine Erinnerung an meine Mutter? Nicht dass sie auch nur im entferntesten so ausgesehen hätte wie diese – naja: Qualle trifft es schon irgendwie. Es ist nicht die Form – es ist diese intensive Farbe, dieses türkisblaue Leuchten, sie hatte so etwas Kühles und trotzdem Zugewandtes – Mutter halt – (was red ich da bloß) – meinen Sie so etwas?«

»Könnte schon sein –«

Der andere Mann – wie hieß er – Paul? – räusperte sich und kam von der Seite mit einem Gegenstand auf Schröder zu, der wie eine Friseurhaube aussah, nur irgendwie »technisch«, so wie das metallen funkelte und mit feinen Fäden, die silbrig vibrierten.

»Was ist das?«

»Wir könnten mit diesem Gerät einen direkten Kontakt mit Ihrem Gehirn herstellen – ist eine tolle Erfindung, das Allerneueste auf diesem Gebiet.«

»Nein!« Schröder schauderte. Er mochte dieses Ding nicht. Es sah irgendwie lebendig aus und war doch – eben etwas Technisches, mit einer unguten Ausstrahlung, die ihn an den Traum vom Morgen erinnerte, an den unguten Teil davon.

»Das gefällt Ihnen also nicht«, stellte Blondie fest. Sie nickte verständnisvoll: »Kann ich nachvollziehen. Lassen wir das. Wir brauchen das nicht. Hätte nur die Messergebnisse ein wenig abgerundet, gewissermaßen auf die dritte Stelle hinter dem Komma. Aber so genau müssen wir das gar nicht machen.«

Mischa öffnete die Augen: »Ein seltsamer Test. Was messen Sie damit eigentlich?« Er fühlte sich sehr erfrischt, irgendwie sogar richtig glücklich, von Sodbrennen und Rückenschmerzen keine Spur mehr.

»Nun, es ist schon so etwas Ähnliches wie ein Test –«

»Und was misst man damit?«

»Durch Ihre Reaktionen in dem Film, wie Sie es nennen, haben wir natürlich sehr viel über Sie erfahren. Es ist eigentlich mehr ein interaktives Spiel – wir nennen es das WeltenSpiel – mit einem Binnen-S in der Mitte, damit es ein wenig exotischer ist. Das Ergebnis: Sie sind ein sehr intelligenter Mensch, dazu sehr kreativ, einfallsreich – fantasievoll –«

 

»Muss ich als Architekt ja wohl sein –« Er hielt inne. Dann fügte er hinzu: »Naja, in meinem Job wird Fantasie nicht gerade gefragt, ich bin den ganzen Tag mit statischen Berechnungen beschäftigt. Damit das Haus am Ende nicht zusammenkracht, das meine kreativen Kollegen sich ausgedacht haben.« Er lachte. (Kommt da eine leichte Bitternis in meine Stimme?)

Blondie schaute ihn aufmerksam an: »Aber Sie haben Ihr Potenzial bisher sehr unterdrückt, haben es noch längst nicht ausgeschöpft, nicht wahr?«

»Mag sein, als Student hat man natürlich viel mit Themen und Aufgaben zu tun, welche die Kreativität nicht gerade fördern. Als ich mit dem Studium anfing, zeichnete ich noch viel mit der Hand, entwarf die tollsten Gebäude, versuchte mich mit Innenarchitektur, fotografierte unaufhörlich, farbig und schwarz-weiß-experimentell, hab ich alles selbst im Labor entwickelt und vergrößert – Landschaften, vor allem das Gebirge und das Meer, da war ich oft mit Birgit –«

»Auch Menschen?«

»Oh ja. Meine Frau war Fotografin. Von ihr habe ich viel gelernt, vor allem, Menschen ganz anders zu erleben, und eben auch, die Leute zu porträtieren – Kinder, Alte, schöne Frauen –« (Er schluckte und vermied es, ihr in die Augen zu sehen.)

»Würden Sie denn gerne wieder dorthin zurückkehren – in jene Zeit, in der sie so kreativ waren?«

»Oh ja, sofort!«

»Da hätten wir etwas für Sie –«

»Ist es das, was Sie mit den Bildern testen, – meine verborgene Kreativität und Fantasie?«

»Ich spüre eine große Sehnsucht in Ihnen«, sagte Blondie (und er hätte aufstehen und sie umarmen können und mit ihr tanzen und wer was weiß was sonst noch, sie küssen, sie streicheln, sie ausziehen –)

»Geht es Ihnen gut, Mischa?«

»Doch ja, es geht mir sehr gut. Ging mir noch nie in meinem Leben so gut. Habt ihr mir denn irgendetwas in das Mineralwasser getan?« Er kicherte.

»Nein, Sie haben die Flasche doch selbst als Erster geöffnet, vorhin. Daran kann es nicht liegen.«

»Ein seltsamer Test, wirklich«, flüsterte Mischa und versuchte, seine sehnsüchtigen Blicke wieder von ihr abzuwenden, indem er Paul fixierte.

»Nun, es ist schon eine Art Test«, sagte Paul. »Aber er ist völlig anders, als Sie denken. Er wirkt nicht so sehr über diese Bilder –«

»Durch was denn dann?«

»Schon die Tatsache, dass Sie auf unsere Anzeige in brand eins reagiert haben, ja dass sie so eine Zeitschrift überhaupt lesen, hat uns bereits viel über Sie gesagt. Dann haben Sie tatsächlich ein Geschenk mitgebracht –«

»Ja, diese verdammten Pralinen –«

»Egal was: Sie haben daran gedacht. Sie haben die Schachtel mit den Leckereien mitgebracht.«

»Aber das war doch Ihre ausdrückliche Bitte in der Mail, so etwas mitzubringen –«

»Genau. Aber die meisten Leute, die auf unsere Anzeige reagiert haben – und es waren etliche – haben dieses Geschenk vergessen. Vermutlich deshalb, weil sie etwas von uns haben wollten – aber nicht uns etwas geben.«

»Naja, ich habe dann ja selbst ganz ordentlich rein gelangt in die Schachtel.«

»Das ist völlig okay. Es war ein Teilen, ein Geben und Nehmen. Jeder von uns hat sich vier Pralinen genommen und sie haben wirklich lecker geschmeckt.«

»Vier zu zwölf, also eins zu drei –«

»Genau: Sehr ausgewogen, würde ich sagen.«

»Und kein Sodbrennen? Bei Ihnen?«

»Nein.«

»Ich war schon sehr gierig – bei Süßigkeiten kann ich nicht widerstehen.«

»Wie ist es mit Ihrem anderen Wunsch?«, fragte Blondie.

»Mit welchem Wunsch?«

»Mich zu umarmen. Mich zu küssen.«

Mischa fühlte sich durchschaut, spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Schamesröte, nennt man das, durchfuhr es ihn. Ertappt!

»Ist schon in Ordnung«, sagte Blondie. Seltsamerweise lächelte sie diesmal nicht.

Paul und Karel standen auf, nickten freundlich, sagten, wie aus einem Munde: »Bis später.« Sie verbeugten sich höflich und tief (wie Japaner). Damit verließen sie den Raum, der sich für Mischa plötzlich ganz anders anfühlte.

»Wie fühlte er sich denn an?«, fragte Blondie.

»Du kannst – Sie können meine Gedanken lesen?«

Susanna Kantor schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Kann ich nicht. Diese Haube, die du so vehement abgelehnt hast, hätte ein wenig in dieser Richtung gewirkt. Aber es war völlig okay, dass du sie nicht haben wolltest. Das war eher ein Zeichen deines Selbstbewusstseins und das du nicht alles mitmachst, was man dir zumutet. Wir betrachten das als etwas sehr Positives. Aber zum Gedankenlesen: Ich kann das erstaunte Mienenspiel in deinem Gesicht deuten. Ich bin dafür ausgebildet. Das wirkt dann manchmal so ähnlich wie Telepathie. Ist es aber nicht. So etwas wie Gedankenlesen gibt es nicht, nirgendwo im ganzen Universum, soweit wir es kennen. Aber es gibt ein gewisses Training, das dem sehr nah kommt. Ihr Erdenmenschen nennt das Empathie – die Fähigkeit, sich in jemand anderen hineinzuversetzen, in seine Gefühle.«

»Mhm«, brummte Mischa.

Jetzt stand auch Blondie auf. Sie ging zu dem Kasten, der wohl tatsächlich ein Musikapparat war, denn plötzlich war da eine leise, sehr vertraute Melodie.

»Kommt sie dir bekannt vor, diese Musik?«

Weshalb duzt sie mich plötzlich – nicht, dass mir das unangenehm ist, ganz im Gegenteil –

»Oh ja, ich kenne das, ist was Jazziges, könnte von Ray Charles sein, ich hab als junger Mann viel Blues gehört –« Er hielt verdutzt inne. Dann bemerkte er die Tränen, die auf seine Wangen tropften. Es waren seine Tränen. »Jetzt erkenne ich es: Sitting on the top of the bay – ein Song von Otis Redding – meine Frau hat ihn sehr geliebt – ich auch – wir haben das oft zusammen gehört, dazu getanzt.«

Er holte ein Taschentuch heraus und tupfte langsam sein Gesicht ab.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Blondie, war nun ebenfalls sehr ernst und nicht mehr Blondie, sondern Frau Doktor Susanna Kantor, wie sie sich gleich zu Beginn vorgestellt hatte. »Wollen wir es versuchen –«

»Was – tanzen – jetzt – hier?«

»Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Aber eine einzige Frage genügt nicht.

Man musste drei Fragen stellen, mindestens drei.

Und ganz zum Schluss offenbarten ihm die Aliens, und es war seltsamerweise nicht Blondie, sondern dieser irgendwie unmännlich wirkende Karol, der das unvermittelt sagte:

»Der eigentliche Test war, dass Sie uns als Tester akzeptiert haben, ohne sich uns zu unterwerfen. Jetzt kommen wir zur eigentlichen Aufgabe: Wir sind tatsächlich Aliens und möchten Kontakt mit Erdenmenschen aufnehmen. Es geht bei diesem Test nicht darum, besonders intelligent zu sein.«

»Um was geht es denn dann?«

»Um die Neugier«, sagte nun wieder Blondie, als sei das ihr Stichwort. »Um Ihre Lernfähigkeit. Um Kontaktbereitschaft. Denn Leben im Universum entwickelt sich nur dann weiter, wenn zur Stabilität der Zellverbände eine gewisse Offenheit für Neues hinzukommt, auf jeder Ebene der Höherentwicklung.«

Sie hielt inne. Dann sagte sie feierlich: »Wenn du möchtest, können wir uns jetzt ein wenig andere Musik anhören. Oder tanzen.«

»Ja, ich will mit dir tanzen«, sagte Mischa – und kam sich ungeheuer mutig vor, als sie ihre Tentakel nahm und um seine Schulter bog und sich an ihn schmiegte und er seinen Arm um ihre wirklich sehr weibliche Figur legte. Dann verwandelte sich ihr Tentakel von etwas Schlangenähnlichem zurück in einen ganz normalen menschlichen Arm.

»Test bestanden«, lachte sie. Und er grübelte nicht darüber nach, wie sie das wohl gemacht hatte, diesen Zaubertrick, danach konnte er sie ja später einmal fragen. Dann tanzten sie den Tango, wie die Musik es anbot. Und alles Weitere würde sich ergeben.

Ja, so hatte es damals begonnen, genauso, schmunzelte Mischa Schröder versonnen, als er Jahre später diese Begegnung für einen Festvortrag aufschrieb. Der erste Kontakt mit den Außerirdischen von Torrant. Die den Erdenmenschen so ähnlich waren, zumindest vom äußeren Aussehen her (es gab auch ganz andere, wirklich mit Tentakeln und so, munkelte man jedenfalls, obwohl kaum vorstellbar ist, wie man mit Tentakeln schreiben oder irgendwelche technischen Gerätschaften bedienen können soll – tanzen schon –)

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