Fahrend? Um die Ötztaler Alpen

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Schlussbemerkung

Im vorliegenden Beitrag wurde versucht, einen knappen Überblick über einen als Migrations- bzw. Mobilitätsgeschichte Tirols in der Frühen Neuzeit nur überaus grob umrissenen Themenkomplex zu vermitteln. Einzelaspekte konnten dabei lediglich gestreift werden. Offensichtlich wurde dennoch, dass es sich um ein vielfältiges und keineswegs randständiges Thema handelt. Das historische Tirol fungierte sowohl als Destination als auch als Ausgangsregion für unterschiedlich motivierte Wanderungsbewegungen, die in verschiedenen Quellen ihren Niederschlag fanden. Die Berücksichtigung dieser beiden Perspektiven erscheint zentral für die Migrationsgeschichte einer Region. Die sicherheitspolizeilichen Maßregeln und wirtschaftlichen Bedenken gegenüber äußeren Einflüssen werden durch den Eindruck einer überaus mobilen Gesellschaft konterkariert. Tiroler Migrant*innen, die in ganz Europa spätestens ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Bekanntheit erlangten, waren wesentlich an der Konstruktion eines Bildes von Tirol als romantisiertem Sehnsuchtsort im 19. Jahrhundert beteiligt, das bis heute nachhallt. Dass dieses Bild zuweilen mit besonders ausgeprägter Sesshaftigkeit und Verwurzelung der Tiroler*innen mit ihrem Heimatland verbunden zu werden scheint, ist bemerkenswert.

__________________

1 Hahn 2012, S. 9f. Vgl. dazu auch das mit „Migration – eine historische Normalität“ überschriebene Schlusskapitel von: Holenstein et al. 2018, S. 347–360. Zur zunehmenden Sesshaftwerdung im 20. Jahrhundert z. B. auch: Althammer 2017, S. 23f.

2 Hahn 2012, S. 16, 41, 86f. u. 123f. Die Stereotypenbildung und deren Ausnützung durch die Tiroler*innen selbst erwähnt zum Beispiel bereits Heine 1834, S. 70–72. Kürzlich aufgegriffen und auf die Herausbildung von „Typen“ in Wien umgelegt wurde dieses Motiv der sich außerhalb der Landesgrenzen selbst vermarktenden Tiroler*innen von: Wietschorke 2013. Zur Dominanz der agrarischen Arbeitsmigration in der frühen Neuzeit siehe z. B. Noflatscher 2002.

3 Eine Ausnahme ist etwa die Verheiratung adeliger Töchter ins Ausland: TLO 1573, Buch 3, Titel 34.

4 Schmeller 1836, S. 415f.

5 Robert Büchner hat sich in seinem Buch über Tiroler Wanderhändler eingehender mit den zeitgenössischen Begrifflichkeiten beschäftigt. Er berichtet beispielsweise davon, dass etwa auch Händler aus den Fürstbistümern Trient und Brixen mitunter als „Savoyer“ bezeichnet werden konnten, der Begriff also als Synonym für fremde Wanderhändler insgesamt verwendet wurde. Ganz ähnlich verhielt es sich mit den „Schotten“ oder auch den „welschen Krämern“: Büchner 2011, S. 72–83.

6 Die unlauteren Methoden, die bei – vor allem auswärtigen – Spezereihändlern befürchtet wurden, sind zum Beispiel beschrieben in der TLO 1573, Buch 6, Titel 12. Im Kern gleichlautend – das gilt ebenfalls für die im Folgenden zitierten Passagen – auch die Landesordnung von 1532: TLO 1532, Buch 6, Titel 12.

7 TLO 1573, Buch 6, Titel 13, §§ 1 u. 2.

8 Beim Begriff Riffianer handelt es sich nicht um eine Herkunftsbezeichnung mit Bezug auf das im Passeier gelegene Dorf Riffian. Im Tirolischen Idiotikon wird der Begriff, der so viel wie „Lotterbube“ oder „herumvagierender Spitzbube“ bedeute, etymologisch auf das italienische „ruffiano“, das mit „Kuppler“ oder „Zuhälter“ übersetzt werden kann, zurückgeführt: Schöpf und Hofer 1866, S. 177 u. 569.

9 TLO 1573, Buch 7, Titel 8.

10 Ebd., Titel 7. In der Landesordnung von 1532 werden „Zigeuner“ und „Riffianer“ in einem Artikel zusammengefasst: TLO 1532, Buch 7, Titel 8.

11 TLO 1573, Buch 7, Titel 4. In TLO 1532, Buch 7, Titel 5.

12 TLO 1573, Buch 7, Titel 4.

13 Vgl. zum Folgenden: Althammer 2017, S. 25–38.

14 Auf die grundlegende Unterscheidung zwischen „bedürftigen“ und „unwürdigen“ Armen und deren weitläufige Folgen verweist beispielsweise auch Jütte 2000, S. 1–10.

15 Althammer 2017, S. 29f. Zur Typologie von Armut verweist Althammer auf: Paugam 2008, S. 121–269.

16 Althammer 2017, S. 37.

17 TLA: Totenbuch Längenfeld, 05.10.1679 (MF 0797-11).

18 TLA: Totenbuch Längenfeld, 22.07.1765 (MF 0799-02). Laut Peter Stöger sei Grienauer bzw. Grünauer ein auch unter jenischen Familien Tirols verbreiteter Nachname: Stöger 2002, S. 180.

19 TLA: Totenbuch Längenfeld, 26.06.1772 (MF 0799-02).

20 Vgl. z. B. TLA: Taufbuch Längenfeld, 12.11.1712, 18.05.1716 u. 23.02.1718 (MF 0796-01); sowie 29.04.1814 (MF 0796-05).

21 TLA: Taufbuch Längenfeld, 18.05.1716 (MF 0796-01).

22 TLA: Taufbuch Flaurling, „Liber Vagantium“ (MF 0758-05); sowie Taufbuch Inzing, „Liber Vagorum Baptizatorum“ [S. 220–232] (MF 0755-05); sowie Taufbuch Hatting, „Liber Vagorum Baptizatorum“ (MF 0755-01). Das Taufbuch für Inzing wurde bis 1767, jenes für Hatting bis 1786 bzw. 1788, das für Oberhofen bis 1740 und das für Pfaffenhofen bis 1784 in Flaurling, dem Sitz der Pfarre, geführt. Auffallend ist, dass vereinzelt auch Kinder von auswärtigen Soldaten und deren Frauen in diesen Listen genannt werden. Eine Überprüfung, inwiefern diese Eltern „Vagabund*innen“ waren oder zumindest zeitgenössisch als solche betrachtet wurden, steht noch aus. Schließlich könnte auch das Fehlen eines festen Wohnsitzes vor Ort grundsätzlich die Ursache für die Einordung in diese Rubrik gewesen sein.

23 TLA: Taufbuch Ranggen, „Vagi & Illegitimi“ (MF 0753-04).

24 Büchner 2011, S. 15f. u. 72–83.

25 Ammerer 2003b, S. 84.

26 Büchner 2011, S. 251–258.

27 Ebd., S. 255f.

28 TLA: Beschwerde „Gewerbspartheyen“, 04.01.1823, Aktenserie LG Matrei, Fasz. 2, 1823, Abt. IV. Ausführlicher zu den Bemühungen der Stubaier Wirtsleute im Kampf gegen illegale Konkurrenz: Span 2017, S. 420–422.

29 TLA: VB Petersberg/Silz 1795, Bl. 32v.

30 TLA: VB Petersberg/Silz 1799, Bl. 177r–v.

31 TLA: VB Petersberg/Silz 1802, Bl. 59v–60r.

32 Neyer 1996, S. 61. Zahlenmaterial für das 19. Jahrhundert z. B. in: Deák 1974. Auch die jüngere Migrationsforschung zur Habsburgermonarchie beschäftigt sich vorrangig mit der Phase ab ca. 1850: Bethke 2020.

33 SLA: VB Oberamtsgericht Bruneck 1782/1783, Abschnitt 1782, Bl. 116r–117v (inkl. Beilagen).

34 Hahn 2012, S. 41; Rohrer 1796.

35 Rohrer 1796, S. 28.

36 Ebd., S. 29.

37 Ebd., S. 40–51.

38 Hahn 2012, S. 86. Vgl. auch Reith 2010, S. 1034f.

39 Noflatscher 2002, S. 18 u. 35–37.

40 Z. B. Spiss 2010; sowie Ulmer 1943; sowie Uhlig 1998.

41 Z. B. literarisch von Lang 1989 und Bereuter 2002 sowie im Film von Baier 2003.

42 Büchner 2011; sowie Hahn 2012, S. 41, 86f. u. 123f.; sowie Ammerer 2003a sowie 2003b, S. 84–91.

43 Ein Beispiel, anhand dessen die unterschiedlichen „Handelsmodelle“ vom einzelnen Hausierer bis zum Verleger und Spediteur in Personalunion – gut ersichtlich sind, ist der Stubaier Metallwarenhandel. Vgl. Span 2017, S. 359–409.

44 Vgl. z. B. Wadauer 2005.

45 Vgl. Span 2017, S. 51–54.

 

46 TLA: VB Petersberg/Silz 1802, Bl. 28v.

47 Ammerer 2003a, S. 203–209.

48 Ammerer 2003b, S. 86.

49 Siehe auch: Ammerer 2003a, S. 212.

50 Ebd., S. 212–220.

51 Heine 1834, S. 70–72.

52 Der Kaiserlich Königlich privilegirte Bothe von und für Tirol und Vorarlberg, Nr. 2, 05.01.1829, S. 8; Nr. 3, 08.01.1829, S. 12; Nr. 4, 12.01.1829, S. 16; Nr. 5, 15.01.1829, S. 20.

53 Heine 1834, S. 70–72. Zur Familie Rainer eingehend: Hupfauf 2016. Die von Heine festgestellte Vermarktung von Volkskultur durch Tiroler*innen im 19. Jahrhundert fand auch Eingang in: Hügel 2003, S. 84f.

54 Prosch 1789.

55 Mitterer 1992.


Darstellungen von Landfahrerfamilien im 19. Jhd. nach Joseph Scholz

Die Jenischen im Tiroler Oberland
Roman Spiss/Elisabeth Maria Grosinger-Spiss
Klassische abwertende Stereotype

Im Jahr 1910 verfasste Pfarrer Johann Weber aus Hall in Tirol für die Innsbrucker Nachrichten einen Feuilleton-Artikel über „Die Dörcher“, der weitestgehend gängigen Klischeebildern und Vorurteilen über die Jenischen entsprach:1

Ab dem Frühjahr würden sie mit ihrer Familie das Heimatdorf verlassen und als Kesselflicker, Korbflechter, Scherenschleifer oder Geschirrhändler durch die Lande ziehen: ökonomisch besser gestellte Familien mit einem vom mageren Pferd gezogenen vierrädrigen Karren, die meisten aber nur mit einem zweirädrigen Gefährt, das von einem Esel oder vom Landfahrerpaar gezogen werde. Die Frau habe

in ihrem zarten Munde die Tabakspfeife, welche fortwährend dampft und glüht. Die größeren Kinder, welche barfuß und in Lumpen gehüllt hinten nachlaufen, haben den strengen Auftrag und Befehl, jeden Wanderer um einen Kreuzer anzubetteln, und sie tun dieses mit beispielloser Aufdringlichkeit, ja Unverschämtheit und zäher Ausdauer. Die jüngsten Sprößlinge, halbnackte Fratzen mit zerzausten Haaren, sitzen oder liegen im Karren. 2

Der Kleinhandel sei nur Vorwand für das Betteln, in dem man es zu einer wahren Meisterschaft bringe. Die

armen Bauern, welche im Schweiße ihres Angesichts erworbenes Brot zum eigenen Unterhalt notwendig brauchen, scheuen sich, dem Laniger nichts zu geben; sie fürchten sein böses Maul, seine gräßlichen Flüche und Verwünschungen, seine schrecklichen Drohungen mit dem „roten Hahn“ und überhaupt seine tückische Rache. 3

Das solcherart erworbene Geld werde dann vom Familienoberhaupt im Wirtshaus für Alkohol ausgegeben, was beim Ehepaar in der Folge zu einem heftigen Disput führe:

Fast täglich geraten sie unter sich in hitzigen Zank und Streit, wobei sie die häßlichsten Schimpfworte gebrauchen und denselben mit Faust und Fingernägeln kräftigen Nachdruck zu geben wissen. Deshalb zeigen die Gesichter der Dörcher nicht selten blutige Furchen und andere Merkmale ehelicher Zärtlichkeit. Es ist aber durchaus nicht ratsam, in den häuslichen Zwist der Laniger sich einzumischen oder gar es zu versuchen, die raufenden Gatten zu versöhnen. Ja, der Friede ist bei den Dörchern bald wieder hergestellt; liebevoll reichen sie einander die Rechte und überhäufen sich gegenseitig mit den größten Zärtlichkeiten, so daß man in Tirol von Eheleuten, bei denen Sturm und Sonnenschein schnell wechselt, sprichwörtlich zu sagen pflegt: „Sie leben wie die Dörcher!“ 4

Im Herbst kehrten sie wieder in die zuständige Gemeinde zurück, wo sie auf deren Kosten einquartiert werden müssten.

Die Kinder kommen im Winter entweder gar nicht zur Schule, oder, wenn sie kommen, nützt bei ihnen der Unterricht wenig oder nichts, weil zu Hause wieder „niedergerissen wird, was in der Schule ist aufgebaut worden“. Zudem verderben sie ihre Mitschüler und verleiten dieselben zur Trägheit und Ungezogenheit. 5

Als Stammsitz der „tirolischen Zigeuner“ nannte der Geistliche die armen Dörfer Mötz, Schönwies und Stilfs. Dies rief eine harsche Reaktion von Leopold Gatt, Obmann des Verschönerungsvereins eines der „aufblühendsten und schönsten Dörfer des Oberinntales“6, Mötz, auf den Plan,

das derart herabgesetzt, bzw. erniedrigt wird, als ob dort nur ein niederträchtiges und im ganzen Lande gefürchtetes Gesindel hausen würde. Demgegenüber muß hier öffentlich festgestellt werden, daß wohl wenige Orte im Lande sich eines so großen Aufschwunges und eines so massenhaften Besuches erfreuen, wie gerade der von dem uns leider unbekannten Herrn J. Weber beschimpfte Ort Mötz.7

Der Ort verfüge nicht nur über eine Hochdruckwasserleitung, elektrisches Licht, diverse humanitäre Vereine, Feuerwehr und Scharfschützenkompanie, eine Viehzuchtgenossenschaft und eine Raiffeisenkasse, sondern werde jährlich auch von Tausenden von Fremden und Wallfahrern besucht und könne sich eine derartige Schmähung auf keinen Fall gefallen lassen.


Abb. 1: Fotografie „Karrner“ aus der Innsbrucker Kunsthandlung Carl Alexander Czichna, Aufnahme von 1880


Abb. 2: Adolf Haslacher nach der Arbeit beim Sandwirt in der Reichenau, ca. 1958

Ähnlich wie im Oberinntal war einige Jahre zuvor schon im Pustertal gegen die durchziehenden Jenischen aus dem westlichen Tirol argumentiert worden, die sich ausschließlich auf Kosten der Bauern und städtischen Grundbesitzer ernähren würden:

Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, daß die Karrner eine höchst unliebsame Belästigung der Sommerfrischler betreiben, denen sie ihre Kinder auf den Hals schicken. Dadurch wird noch die Gegend in Verruf gebracht, da der Fremde nicht wissen kann, daß der bettelnde Fratz kein Einheimischer, sondern ein zugewanderter Schmarotzer ist. […] Wir betrachten das Treiben der Karrnerbanden als einen Schandfleck für das Land Tirol, indem es nichts anderes ist, als eine Landstreicherei unter dem Titel eines Gewerbebetriebes. Die zahlreichen Personen, die als Törchler8 ihr Leben verbringen, sind für eine anständige, bürgerliche Beschäftigung, überhaupt für die bürgerliche Gesellschaft verloren; die tirolischen Zigeuner bilden ein Element im Lande, dem jede Daseinsberechtigung mangelt. Es gibt auch andere Gegenden mit einer Überfülle armer Bewohner, die ihr Brot auswärts suchen müssen, sie thun es aber ehrlich durch ihrer Hände Arbeit und sind nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft, während unsere Karrner eine verwerfliche Proletarier-Colonie bilden.“9

Abwehrmechanismen der Sesshaften

Diese gehässigen und pauschalierenden Abwertungen wurzeln letztlich in unterschiedlichen Werthaltungen und Lebensentwürfen. Viele Bauern und Bäuerinnen hatten vor allem ein Problem mit dem Eigentumsbegriff der Jenischen: „Was aber frei wächst, das ist für alle, und keiner hat Ursache zu sagen, das ist mein. Das hat der Herrgott wachsen lassen, nicht der Bauer. Also ist’s für alle.“ Pflücken von Feldfrüchten, aber auch das Einfangen von Kleintieren wie z. B. Hühnern verstanden sie daher nicht als Diebstahl, sehr wohl aber das Mitnehmen von „toten“ Dingen wie Werkzeugen. Hinzu kamen kleine Betrügereien wie der Taufschwindel, wenn Fahrende unter dem Vorwand, sie hätten ein Kind zu taufen, die Übernahme einer Patenschaft erbaten. Die Bauern pflegten sich nämlich der angeblich bevorstehenden kirchlichen Handlung durch Loskaufen zu entziehen. Die ländliche Bevölkerung behelligte die Gerichte wegen der angeführten Delikte meist nicht, sie hatte sich, um mit einer Quelle aus der Schweiz zu sprechen, „an den Kessler-Tribut10 geradeso gut gewöhnt […] wie heutzutage ans Steuerzahlen.“11

Mag auch im Text der Innsbrucker Nachrichten von einer „Proletarier-Colonie“ die Rede gewesen sein, so hat sich die junge Arbeiterbewegung dennoch keineswegs energisch der Sache der Jenischen angenommen. Die Sozialdemokraten sangen das „Lied der Arbeit“, hielten die Arbeit hoch, während es die Landfahrer durchaus verstanden, in den Tag hinein zu leben. Energisch reagierte man in der Arbeiterbewegung vor allem dann, wenn man selbst als „Karrner“, als „rote Karrner“ angegriffen wurde. In Landeck gingen die Gehässigkeiten gegenüber den „Roten“ sogar so weit, dass im Stadtratssitzungsprotokoll vom 24.03.1925 auf Veranlassung des christlichsozialen Bürgermeisters statt vom Ball der Sozialdemokraten vom „Dörcherball“ die Rede ist. Überliefert ist auch eine Episode aus dem Tiroler Landtag im Jahr 1921, wo sich die Sozialdemokraten die Beschimpfungen als „Karrner“ nicht mehr gefallen lassen wollten und in Gestalt ihres Landeshauptmannstellvertreters Dr. Franz Gruener die provokante Forderung „Tirol den Karrnern!“ erhoben, was zu einem Riesenwirbel führte, weil der politische Gegner darin eine Beleidigung des Tirolertums erblickte.12


Abb. 3: Martin und Josef Haslacher in Flecken am Pillersee, ca. 1965. Im Hintergrund eine alte Zeltbauweise: Es wurde eine Rosshaardecke verwendet, das Zelt mit Stroh ausgelegt. Mit einer Decke zugedeckt, schlief man in der freien Natur.

Die ebenfalls im Zeitungsartikel angesprochenen Bürgerlichen störte einerseits der jenische Drang zur Ungebundenheit und ein angebliches Leben völlig frei von Zwängen des Anstands und der Moral, wobei des Öfteren die verwendeten Zuschreibungen auf eigene unterdrückte Wünsche und Sehnsüchte hindeuten. Da seitens der Gemeinden meist keine Eheerlaubnis vorlag, lebten Jenische häufig in illegitimen Partnerschaften, die Kinder galten als unehelich. Geistliche wie der Landtagsabgeordnete Franz Speckbacher aus Mieming (1813–1901) prangerten in aller Öffentlichkeit den „unsittlichen Lebenswandel von Dörchern“ an, die in einem Fall sogar „schon zehn uneheliche Kinder erzeugt haben.“13 Den Jenischen wurde auch die Leichtigkeit des Gelderwerbs und die Genusssucht vorgeworfen, womit neben der angeblich ausschweifenden Sexualität auch Ess- und Trinklust gemeint waren, falls einmal genügend Verpflegung zur Verfügung stand. Liberale stießen sich auch am Aberglauben, den sie bei den Fahrenden für noch wesentlich stärker verankert hielten als bei der restlichen ländlichen Bevölkerung:14

 

Im Karrnerleben ruht ein Stücklein übrig gebliebener mittelalterlicher Poesie! Der Mann und das Weib ziehen lieber im Schweiße ihres Angesichts den Gratten über die sonnen- und staubbedeckte Straße dahin, als daß sie „dienen“ mögen. Ein Freiheitsdrang, eine innere Auflehnung gegen alles, was der Knechtschaft nur im Entferntesten ähnlich sieht, bildet den Grund zu diesen ziel- und planlosen Wanderzügen. Der eigentliche Dörcher ist auf seinen Vagabundenstand stolz wie ein König! […] Auf unserem Bilde lagern die Dörcher wohl nicht aus Zufall neben dem gekreuzigten Christus, nein, es möge damit angedeutet werden, daß gerade unter den Karrenziehern oftmals die Religion stark vertreten ist, wenn auch leider durch den krassesten Aberglauben entwürdiget! Die Familie hat z. B. seit Jahren an dieser Stelle ihr Lager aufgeschlagen – würde sie heuer einen anderen Platz wählen, so würde nach ihrer Meinung das Unglück auf dem Fuße folgen. 15

Eine klassische Denkfigur der Bürgerlichen war die „Weisheit“, sich nur ja nicht in die „Händel“ der Jenischen einzumischen, das Sprichwort besage: „Wer Dörcher einigen will, der darf sich blos in ihre Händel mischen. […] Man hat auch Beispiele, daß diese Vagabunden Scheinhändel anstiften, um Einheimische daran zu kriegen.“16 Bei Bürgern wie Bauern grassierten Ängste, die Landfahrer könnten überhandnehmen und letztlich nicht mehr kontrollierbar sein. In der Gemeinde Schönwies, an der östlichen Grenze des Bezirks Landeck gelegen, wurden im Jahr 1862 insgesamt 194 „Lahninger“ gezählt. In bayrischen Besatzungszeiten hätten vier „Dörcher-Burschen“ erklärt, sie würden für die Gemeinde zum Militär gehen, wenn man sie danach in Schönwies aufnehme. Diese vier wären die Stammväter der oben angeführten überaus großen Zahl der „Lahninger“. Am Sterbebett der kürzlich verstorbenen „Dörcher-Nale“17 wären nicht weniger als 42 lebende Nachkommen gestanden. Aber das sei noch nicht alles:

Eine andere „Dörcherin“ hat vier Töchter und sieben Söhne. Zwei Töchter haben jede vier, eine drei und die Älteste sieben uneheliche Kinder; der Sohn von der ältesten Tochter hat auch schon wieder zwei uneheliche Kinder. 25 Dörcher-Kinder sind schulpflichtig aber besuchen die Schule ungemein nachlässig, und wachsen so unter dem fortwährend schlechten Beispiel der Eltern und der Geschwister als wahre Wildlinge auf. Auch bedeutende materielle Auslagen muß die Gemeinde für diese Leute machen. 18

Zwar wäre das Bild, das dieser Bericht erzeugte, durch eine landesweite Zählung im Kronland Tirol von Kufstein bis Ala im Jahr 1864 konterkariert worden, die Angstszenarien blieben aber auch in diesem Fall dieselben und hatten Forderungen nach rigorosen Maßnahmen zur Eindämmung des Landfahrertums zur Folge. Johann Sartori berichtete für das Gemeindekomitee in der 17. Sitzung des Landtags,

daß sich in ganz Tirol 1.564 Individuen dörcherlichen Standes befinden, die sich auf 35 Bezirke vertheilen, worunter der Bezirk Silz, der sich einer Dörcherschaft von 387 Köpfen erfreut, als der mit dieser Menschenrasse am meisten beglückte sich herausstellt. Zum eigentlichen Vagabundieren trage die nachlässige Handhabung der Gesetze seitens der Gemeinden, der Sicherheitsorgane und der Behörden bei. Aufgabe dieser und vorzüglich der Gemeinden werde es sein, den Übelständen abzuhelfen und besonders für die Erziehung der Kinder zu sorgen, damit wenigstens die künftige Generation veredelt werde. 19

Obwohl der Landtag daraufhin mit einem strengen Maßnahmenpaket den Jenischen das Leben wesentlich erschwerte (Entfernung fremder Bettler*innen, Begünstigung der Auswanderung, Erschwerung des Wanderns, Hausierpatente, Verbot der Mitnahme von Kindern, Arreststrafen oder körperliche Züchtigung), erkannte der Abgeordnete Johann Scharmer aus Mieming (1811–1866) „die angenommenen Maßnahmen als ungenügend und nur dazu angethan, die Last der Dörcher noch mehr auf die betreffenden Gemeinden zu wälzen.“20 Die Volks- und Schützen-Zeitung hielt seine Arbeit für umso „anerkennenswerther, als es einigen Muth voraussetzt gegen eine Klasse Menschen von dieser Sorte zu kämpfen, neben welcher man leben muß.“21 Unter den Auswanderern des Jahres 1868 in das südamerikanische Pozuzo befanden sich zahlreiche Jenische aus seiner Heimatgemeinde, aber auch aus Obsteig, Schönwies oder Telfs, deren Reisekosten von diesen Orten „großzügig“ übernommen wurden, um sie für immer loszuwerden.22


Abb. 4: Josef Haslacher, Korbflechter und Handwerker, in Laimach im Zillertal, ca. 1965. Auch Arbeitspausen mussten gemacht werden. Die noch nicht schulpflichtigen Kinder wurden zum Korbflechten mitgenommen.

Mit seinen bösartigen Diffamierungen stand Scharmer sogar in bemerkenswertem Gegensatz zu zeitgenössischen Darstellungen, wie zum Beispiel einer in der Österreichischen Alpenpost, die sehr wohl zu differenzieren versuchten:

Es sind aber auch vereinzelte Fälle bekannt, wo sich diese Leute durch Geschirrhandel ein kleines Vermögen erworben haben und sich nachher in der oberinntalischen Heimat angekauft haben. Wenn man vor den Laningern Tür und Tor versperrt, so mag dies im Allgemeinen eine gut angebrachte Vorsichtsmaßregel sein, jedoch gibt es unter ihnen auch viele ehrliche Familien, besonders diejenigen, welche mit Geschirr aus Steingut handeln. Mancher Steingutfabriksbesitzer vertraut ihnen Waren für bedeutenden Wert ohne Sicherheit an und in der Regel wird nach beendeter Reise das Verkaufte pünktlich bezahlt. 23