Fachbewusstsein der Romanistik

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2 Kognitive Linguistik: Bestimmung und Kontextualisierung

Als kognitive Linguistik wird heute die nordamerikanische, vorwiegend von der Westküste der USA aus geprägte Theorieschule bezeichnet. Als die zentralen Akteure der ersten Jahrzehnte gelten bekanntlich George Lakoff, Ronald Langacker und darüber hinaus Leonard Talmy sowie, daran anknüpfend, Gilles Fauconnier. Die meisten sind selbst im Kontext der Generativen Grammatik ausgebildet worden, jedoch im Laufe der 1970er Jahre zu der Auffassung gelangt, dass sich die beobachtbare Sprachverwendung, insbesondere die Bedeutungs- und Funktionsseite der Sprache, im Rahmen einer von der Syntax ausgehenden Sprachbetrachtung nicht abbilden lässt. Die kognitive Linguistik ist in der Folge zunächst mit Blick auf die semantische Beschreibung der Sprache entstanden und hat sich in besonderem Maße durch die Ablehnung der grundlegenden Annahmen des Vorgängers konstituiert (vgl. etwa Johnson 1992). Während die These von der Angeborenheit der Sprachfähigkeit zumindest in Frage gestellt wird, lehnen die Vertreter der kognitiven Linguistik in jedem Fall die Modularität von Sprache ab. Stattdessen gehen sie davon aus, dass das Sprachvermögen integraler Bestandteil der allgemeinen Kognition ist. Im Vordergrund stehen daher Prinzipien der Weltwahrnehmung, Kategorisierung und Verarbeitung. Annahmen über das Funktionieren von Sprache sollen dem Anspruch psychologischer Plausibilität genügen.

In einem 2016 erschienenen Themenheft der Zeitschrift Cognitive Linguistics (Divjak et al. 2016), das ein Zwischenfazit dieses Paradigmas präsentiert, wird der Versuch unternommen, die kognitive Sprachwissenschaft in einem größeren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu betrachten. Üblicherweise wird die kognitive Linguistik lediglich hinsichtlich ihres Fortschritts (‚Überwindung‘) gegenüber den formalistischen Theorien des Generativismus in den Blick genommen und erscheint in entsprechenden Darstellungen oft als revolutionäres Programm. Dirk Geeraerts wiederholt an dieser Stelle jedoch seine bedachtere, schon 2010 (Geeraerts 2010; vgl. auch schon Lakoffs Kritik an Chomsky bei Harris 1993, Kap. 6) gegebene Einschätzung, dass die kognitive Linguistik eine Grammatikauffassung stark macht, die den Kontext, also die Sprachverwendung und die Funktion von Sprache, wieder in den Blick nimmt:

Generative grammar decontextualizes grammar by disassociating what is considered to be the core of linguistics from the discursive context of performance and language use, from the social context of interaction and variation, and from the cognitive context of meaning and experience. Cognitive Linguistics is a recontextualizing approach in that it reincorporates these contextual domains into the scope of the grammar – including, needless to say, the social perspective. (Geeraerts 2016, 530)

Peter Harder teilt diese Meinung, ist sich aber der inhärenten räumlichen Beschränkung dieser Aussage bewusst, insofern er feststellt, dass der europäische Strukturalismus zwar ebenfalls weniger an der Semantik als an den Formen bzw. deren Strukturen interessiert war, dass jedoch Form und Funktion hier nie in einem so krassen Gegensatz gestanden haben: „Function and structure have co-existed peacefully and productively in European structuralism, as opposed to the polarization that took place in the US“ (Harder 2010, 230, Anm. 4).

Anders als in den Vereinigten Staaten und der allgemeinen Sprachwissenschaft ist der Generativismus in Europa eben nicht das alles beherrschende Paradigma gewesen, sondern wurde parallel zu genuin europäischen Entwicklungen angewendet, was gelegentlich auch zu gewissen Differenzen zwischen hiesigen Grammatikern bzw. Linguisten geführt hat. Der Generativismus entstand in Gegenbewegung zum amerikanischen Strukturalismus Bloomfields (vgl. die Kritik am Behaviorismus in Chomsky 1959); er setzt die Fokussierung der materiellen und die Ausblendung der funktionellen Seite fort (auch wenn die sogenannte ‚Tiefenstruktur‘ von den Funktionen ausgeht), stellt dabei jedoch erstmals die Syntax in den Vordergrund; dem Bloomfield’schen Antimentalismus wird von Chomsky ein sogenannter Mentalismus, „verstanden als Bezug zur Intuition des natürlichen Sprechers“ (Coseriu 1975, 40) entgegengesetzt. In Europa, dessen eigene Strukturalismen die Bedeutung der sprachlichen Einheiten ja immer mitberücksichtigt haben – schon das Phonem ist ohne Bezug zur bedeutungsunterscheidenden Funktion der Laute nicht definierbar –, nahmen dagegen Semantik und später Pragmatik eine stetig größere Rolle ein und fügten sich in eine tendenziell funktionalistische Sprachauffassung, die im Übrigen der Humboldt’schen Tradition durch ihr Interesse an der Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, also an den Einzelsprachen, treu blieb (vgl. die Auseinandersetzung mit dem Generativismus bei Coseriu 1975, hier: 33–44). Im Sommersemester 1971 merkte Coseriu genau dies in seiner Vorlesung zu Leistung und Grenzen der Transformationellen Grammatik an:

Die europäischen Linguisten haben sich im allgemeinen immer auf die Bedeutung bezogen und versucht, die verschiedenen Formen nicht einfach nach materiellen Gesichtspunkten zu klassifizieren, sondern sie nach ihrer Funktion zu interpretieren. Man vergleiche auch die Arbeiten auf dem Gebiet der Phonemik. (Coseriu 1975, 43)

Die zu würdigenden Leistungen des Generativismus sah Coseriu nun vor allem in den Konstituentenanalysen der Syntax, zumal er einräumte, man „könnte fast […] von einer Art Syntaxfeindlichkeit im Strukturalismus sprechen“ (1975, 43). Doch kann man an dieser Stelle natürlich auf die in der Romanistik erst ein paar Jahre später zur Entfaltung kommende – Syntax und Semantik inhärent verknüpfende – Valenztheorie (vgl. Baum 1976; Koch/Krefeld 1991, 5) verweisen, deren Leistung in der generativistischen Entwicklung der Theorie der Tiefenkasus schließlich auch eine indirekte Würdigung erhalten hat (vgl. Koch/Krefeld 1991, 15) und die – wie schon angesprochen – mit den Prinzipien der Konstruktionsgrammatik weitgehend kompatibel ist (s. dazu ausführlich Ágel 2015). Wenn sich die kognitive Linguistik also weithin als Überwindung früherer sprachtheoretischer Irrwege präsentiert, dann ist dies nicht generell für die Linguistik zutreffend, sondern in erster Linie für die allgemeine Sprachwissenschaft nordamerikanischer Prägung, die lange Zeit nichts als die Betrachtung der sprachlichen Formseite kannte. Lazard (2007, 5–6) stellt diesbezüglich fest:

La „linguistique cognitive“ apparait comme un retour à la vue traditionnelle de la langue en tant que système symbolique servant à la communication entre les humains. C’est cette vue traditionnelle qui a inspiré intuitivement toutes les grammaires et tous les dictionnaires, depuis qu’on en fait, et qui s’est trouvée au XXème siècle théorisée et précisée par le structuralisme. Cette doctrine a défini la langue comme un système synchronique dont les unités se définissent mutuellement par leurs oppositions. Comme chaque unité (chaque signe) est constituée par l’union indissoluble, comme dit Saussure (2002, p. 48), d’un signifiant et d’un signifié et comme seul le signifié [sic!] est observable directement, la description commence nécessairement par l’observation de la forme et du comportement du signifiant. Puis, à partir de cette observation et par confrontation avec les unités voisines, on analyse le contenu du signifié en examinant les contextes et en consultant les locuteurs. Cette analyse peut être poussée aussi loin qu’on voudra. C’est justement ce que font les cognitivistes.

Vor diesem Hintergrund ist sie für die europäische Theoriebildung aber nur ein interessantes Modell, eine funktionalistische Grammatik, welche sich ‚kognitiv‘ nennt, weil sie die Zusammenhänge zwischen Denken und Sprechen besonders stark betont und zur Erklärung sprachlicher Phänomene heranzieht.1 Als funktionalistisches Sprachmodell bietet sie aus europäischer Perspektive also viele Gemeinsamkeiten und interessante Anknüpfungspunkte; es als revolutionär zu bezeichnen, wäre hingegen eine traditionsvergessene Einschätzung. Insofern ist Lazards Kritik, es handele sich bei der kognitiven Sprachwissenschaft schlicht um Linguistik, für die europäische Tradition durchaus zutreffend (vgl. insbesondere die französische Auseinandersetzung: Mathieu 2003; Fuchs 2004, 2008; François 2005, 2008; Legallois/François 2006).

Was nun die kognitive Semantik anbelangt, so ist diese längst in sämtlichen Philologien angekommen. Auch ohne dass diese gleich immer als ‚kognitiv‘ bezeichnet würden, gehören die Theorie der konzeptuellen Metapher (Lakoff/Johnson 1980), die Prototypentheorie (Berlin/Kay 1969; Labov 1973; Rosch 1973) und die Frame-Semantik (vgl. etwa Busse 2012) natürlich längst zum Kernbestand der Semantik und sind auch aus der Romanistik nicht mehr wegzudenken. In diesem Kontext genügt es vielleicht, neben den schon erwähnten Prinzipien Blanks (1997), auf die zahlreichen Arbeiten Kochs zur Semantik (z.B. Koch 1995, 1996, 1998, 2001, 20122) sowie, in ganz ähnlicher Weise, die Theorie der Expressivität von Pustka (2015) hinzuweisen.

Darüber hinaus wurden aber auch umfassendere grammatische Modelle entwickelt, die auf denselben Prämissen aufbauen, ihrerseits jedoch dort ansetzen, wo die generative Syntaxtheorie an ihre Grenzen gestoßen ist, nämlich bei der Phraseologie. Hier beschäftigen sich die ersten Arbeiten entsprechend mit idiomatischen Ausdrücken, deren Semantik nicht kompositionell erklärt werden kann, wie engl. let alone (Fillmore et al. 1988; siehe zuvor bereits Lakoff 1987) und welche die Einführung eines erweiterten Symbolbegriffs erforderten. Dieser ist in der Folge auch auf ‚reguläre‘ grammatikalische Strukturen angewendet worden, wodurch sich die sogenannte ‚Konstruktionsgrammatik‘ gewissermaßen zu einer vollständigen Sprachtheorie entwickelt hat (Goldberg 1995, 2006). Neben diesem erweiterten Zeichenbegriff gehört es weiterhin zum Kernbestand dieser nur im Detail unterschiedlichen Modelle, dass sie grammatische Struktur als ‚emergent‘, d.h. im Sprachgebrauch (usage-based) entstehend, betrachten.3

 

Der Symbolbegriff wird sowohl in dem wohl umfassendsten und heute einflussreichsten Modell, der Cognitive Grammar (CG) Langackers (1987–1991, 2008), als auch in den verschiedenen, nur in Nuancen unterscheidbaren sogenannten Konstruktionsgrammatiken (CxG), wie Goldbergs Cognitive Construction Grammar (1995, 2006) und Crofts Radical Construction Grammar (2001) insofern erweitert, als anstelle der traditionellen Trennung von Wortschatz und Grammatik von einem Kontinuum zwischen beiden ausgegangen wird. Sprache besteht demnach ausschließlich aus symbolischen Zeichen, die sich einerseits in der Komplexität unterscheiden, also vom Morphem bis hin zu abstrakten Textschemata reichen können; andererseits wird der Saussure’sche Zeichenbegriff ausgeweitet, sodass sprachliche Elemente jeder Komplexität als bedeutungstragende Einheiten begriffen werden, wobei die Bedeutung ihrerseits als eher spezifisch (d.h. traditionell bezeichnet ‚lexikalisch‘) oder eher schematisch (d.h. traditionell ‚grammatisch‘ bzw. ‚ohne Bedeutung‘) aufgefasst wird. Wie Tomasello (2003) in seinen Studien zum Spracherwerb zeigt, wird Sprache in der konkreten Erfahrung durch bedeutungstragende Versatzstücke erlernt, deren interne Strukturiertheit und Variabilität dann schrittweise von den Sprechern abstrahiert wird. Prinzipiell sind valenztheoretische und konstruktionsgrammatische Ansätze dabei kompatibel, wenngleich sie den Gegenstand aus unterschiedlicher theoretischer Richtung erfassen: Während die Valenztheorie das Verb in das Zentrum stellt und dessen Ergänzungen untersucht, werden verbale Strukturen in der Konstruktionsgrammatik als bedeutungstragende Konstruktionsschemata begriffen, deren Leerstellen nur prototypisch von Verben mit entsprechender Valenz gefüllt werden, die jedoch auch von Verben ‚bestückt‘ werden können, deren Valenz prototypisch nicht der geforderten entspricht und deren Semantik sich dann an die Konstruktionsbedeutung anpasst. Goldberg (2006, 7) veranschaulicht dies an der sogenannten caused motion construction durch die Gegenüberstellung eines für die Vorstellung der versprachlichten Szene prototypischen Verbes mit einem Verb anderer Valenz:


(1) [Subj. Verb Object Place]
He threw the napkin off the table
He sneezed the napkin off the table

Aus der Konstruktionsbedeutung lässt sich erklären, dass das eigentlich intransitive Verb sneeze ‚nießen‘ eine semantische Erweiterung erhält und damit eingebettet in den Diskurs gewissermaßen in eine Verbklasse wechselt, die mit der abgebildeten Szene kompatibel ist.

Bislang ist das Modell nur selten auf die romanischen Sprachen angewendet worden. Nach Pionierarbeiten des in Houston, Texas, lehrenden französischen Linguisten Michel Achard (Achard 1996, 2010, 2015), welche auf der Cognitive Grammar Langackers aufbauen, sowie verschiedenen (kontrastiven) Einzelstudien (Martínez Vázquez 2003; Boas 2010; Yoon/Gries 2016), sind in der Romanistik nach Martínez Vázquez (2003) vor allem die auf entsprechende romanistische Kongresssektionen zurückgehenden Sammelbände von Bouveret/Legallois (2012), De Knop et al. (2013) und Boas/Gonzálvez-García (2014) sowie die Bände von Selig/Morlicchio/Dittmar (2016), Erfurt/De Knop (2019) einschlägig, zu denen sich in naher Zukunft Bände von Hennecke/Wiesinger (in Vorb.), Gévaudan/Hennemann (in Vorb.) und Döhla/Hennemann (in Vorb.) gesellen werden. Darüber hinaus ist das seit 2018 von der DFG geförderte Projekt „Gebrauchsbasierte Phraseologie des Italienischen“ von Elmar Schafroth zu nennen (vgl. auch Schafroth 2015; Benigni et al. 2015; Imperiale/Schafroth 2016). Trotz der geringen Zahl der Studien, lässt sich in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse, insbesondere für synchrone Studien, erkennen. Doch bietet das Theoriemodell durch die Annahme komplexer sprachlicher Einheiten mit gesamtheitlicher Konstruktionsbedeutung auch für diachrone Studien wichtige Anknüpfungspunkte, wie ich am Beispiel des morpho-syntaktischen Wandels von Zeigeaktkonstruktionen veranschaulichen werde (Abschnitt 5).

3 Kognitive Linguistik und junggrammatische Sprachpsychologie: Alter Wein in neuen Schläuchen?

Doch viel interessanter als die heutige Rezeption der kognitiven Linguistik im Allgemeinen ist die Tatsache, dass deren Prämissen, also eine funktionalistische Sprachauffassung, nach der die Sprachverwendung auf allgemeinen kognitiven Fähigkeiten basiert und sich das Funktionieren der Sprache wie auch Sprachwandelphänomene durch diese erklären lassen, ebenfalls unmittelbar kompatibel mit der europäischen Theoriebildung sind. Hier liegen die Ursprünge jedoch noch vor den Strukturalisten, nämlich – wie bereits angesprochen – bei den Junggrammatikern, die sich neben der Physiologie des Sprechens, also den Lautgesetzen, auch für ihre Psychologie, in besonderem Maße für das Prinzip der Analogie, interessierten.

Um die Konzeption dieser Sprachpsychologie hat sich dabei schon damals eine aus heutiger – wieder kognitivistischer – Perspektive bemerkenswerte Diskussion entwickelt, denn ähnlich wie bei den Lautgesetzen lag hier zu Anfang noch eine rein mechanistische, gar volkspsychologische, auf der Herbart’schen Psychologie bzw. „Vorstellungsmechanik“ beruhende und durch Steinthal vermittelte Sichtweise zugrunde. Diese prägte auch noch das epochemachende Werk von Hermann Paul, was Ottmar Dittrich dazu veranlasste, in seiner Rezension zur dritten Auflage der von ihm als „allgemeine[s] Programm der neuen [= junggrammatischen] Lehre“ (Dittrich 1899, 538) gefeierten Prinzipien des Sprachwandels „zu zeigen, wie [die von Wundt ausgebaute Experimentalpsychologie] sich für die Zwecke der Sprachwissenschaft nutzbar machen läßt, wie sich verschiedene grundlegende Fragen von ihrem Standpunkte aus anders, und, wie ich glaube, richtiger darstellen“ (Dittrich 1899, 540; vgl. in diesem Sinne schon die Rezension von Misteli 1882 zur 1. Auflage).

Dies muss in der Perspektive der gegenwärtigen kognitiven Sprachwissenschaft bekannt klingen, sofern man die damalige Bindung an spezifische psychologie-theoretische Paradigmen durch die heutige allgemeine Anlehnung an die Psychologie ersetzt. Gleiches ließe sich auch über die am individuellen Sprecher orientierte, heute als usage-based bezeichnete Sprachauffassung Pauls sagen. Interessanterweise ist es im Übrigen ein Anliegen Dittrichs, das Paul’sche Werk als den Vorboten einer „Principienwissenschaft“ (Dittrich 1899, 539, 552f.) herauszustellen, in der es um den „Ausdruck von Regelmäßigkeiten“ (Dittrich 1899, 552) und eben nicht um Gesetze geht. Und daran erinnert ganz (selbst-)bewusst auch das von Andreas Blank (1997) als Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels betitelte Werk. In diesem Sinne geht es der nordamerikanischen kognitiven Linguistik auch heute generell darum, das Funktionieren der Sprache im Sinne von Prinzipien, die an den allgemeinen kognitiven Fähigkeiten der Sprecher orientiert sind, zu erklären.

In der romanistischen historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft lag der Schwerpunkt der Theoriebildung zwar weniger deutlich als bei Hermann Paul in der Sprachpsychologie, doch hat dessen Sprachwandelauffassung unübersehbaren Einfluss auf die noch als junggrammatisch betrachtete Grammatik der romanischen Sprachen Meyer-Lübkes (1890–1902) ausgeübt, in der insbesondere morphosyntaktische Analogieprozesse genuin kognitivistisch erklärt werden. Gleiches gilt freilich für die Studien zum Bedeutungswandel im Rahmen der ausführlichen wortgeschichtlichen Erläuterungen des nun nicht mehr junggrammatischen FEW. Und wenn die Betrachtung der Syntax hier gegenüber Laut- und Formenlehre mitunter noch im Hintergrund stand (vgl. Wunderli 2001, 165f.), so wurde mit dem Altfranzösischen Wörterbuch von Tobler-Lommatsch (TL) doch ein Werk vorgelegt, das die Wörter im Kontext ihrer syntaktischen Fügungen, einschließlich ggf. spezifischer – man würde heute sagen – ‚Konstruktionsbedeutungen‘ betrachtet (zu weiteren Überschneidungen vgl. Tacke 2020a, 184f.).

So kann man festhalten, dass es durchaus schon vor den nordamerikanischen Linguisten Ideen zu einer funktionalistischen Sprachlehre gab, welche die Sprachverwendung unter kognitiven Gesichtspunkten untersuchte und die in Ansätzen bereits umgesetzt wurden. Man muss zwar einräumen, dass diese Gesichtspunkte vom europäischen Strukturalismus eher vernachlässigt wurden und das Interesse an der Kognition somit in einer teleologisch betrachteten Wissenschaftsgeschichte, als deren Höhepunkt man stets das aktuelle Paradigma betrachten möchte, historisch unterbrochen wurde. Aber die Rezeption älterer Werke geschieht ja stets nach Maßgabe der je aktuellen Fragestellungen. So wurde Hermann Pauls Werk Anfang der 1990er Jahre im Text „En relisant Hermann Paul“ (Malmberg 1990) bereits strukturalistisch ausgedeutet. Und nach demselben Prinzip ist vor einigen Jahren am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies) eine neue Teilübersetzung – nun ins Englische – und kognitivistische Neubesprechung unter dem Titel Hermann Paul’s ‚Principles of Language History‘ Revisited. Translations and Reflections (Auer/Murray 2015) entstanden, die hervorhebt, dass Paul in mancher Hinsicht seiner Zeit voraus gewesen und dessen nicht nur positive zeitgenössische Rezeption zumindest teilweise mit „Paul’s status as a cognitivist, usage-based linguist“ (Auer/Murray 2015, 8) zu begründen sei. Darüber hinaus werden aber auch die Ideen eines Romanisten, nämlich die Hugo Schuchardts, heute neu entdeckt; so etwa von Joan Bybee, die in Vorlesungen über historische Sprachwissenschaft, die Theo Vennemann in den 1970er Jahren an der UCLA hielt, auf dessen Ausführungen zum Zusammenhang von Frequenz und Sprachwandel (vgl. Schuchardt 1885) aufmerksam wurde und in diesem folgerichtig einen Vorboten der heute als usage-based bezeichneten kognitiven Sprachwissenschaft sieht (vgl. Bybee 2007, 8, 12, 23–27, 235f.). Die Kompatibilität mit den heutigen Modellen rührt hier freilich auch daher, dass – wie Wunderli schreibt – Sprache für Schuchardt weniger Organismus oder System als vielmehr Produkt menschlichen Handelns ist, Sprachwissenschaft für ihn daher eine Handlungswissenschaft darstellt und sich Schuchardt zu seiner Zeit folglich wie kaum ein anderer „als legitimer Nachfolger Humboldts“ (2001, 130) erwiesen habe. Anders als dem Generativismus liegt der kognitiven Sprachwissenschaft nämlich zumindest implizit ein Humboldt’scher Sprachbegriff zugrunde (vgl. dazu Tacke 2020a).1 Vor diesem Hintergrund darf man also konstatieren, dass Teile der gegenwärtigen kognitiven Linguistik, gerade wenn sie sich Sprachwandelphänomenen zuwenden und das usage-based-Postulat konkret zur Anwendung kommt, die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft als historischen Vorläufer und Anknüpfungspunkt erkannt haben. Und umgekehrt lässt sich für die europäische im weiteren Sinne und die romanistische Sprachwissenschaft im engeren Sinne feststellen, dass eine Affinität zur kognitiven Linguistik besteht, insofern beiden eine funktionalistische Sprachauffassung zugrunde liegt, die, wenn wir an das einflussreiche Modell Coserius denken, philosophisch noch immer auf Humboldt fußt. Dies ist grundsätzlich erfreulich, denn so ist die Forschung der allgemeinen Sprachwissenschaft, in der die kognitive Linguistik mittlerweile dominiert, mit den traditionelleren Modellen der europäischen Tradition bestens kompatibel. Zugleich könnte letztere dabei selbstbewusster sein und diese Verknüpfungen auch explizit hervorheben. Statt neuen Untersuchungen bloß das Etikett und die Terminologie der Cognitive Linguistics anzuheften, wäre eine reflektierte Synthese beider Traditionen – der europäischen und der amerikanischen – wünschenswert. Dabei wäre differenzierter als bisher zu würdigen, was früher schon erkannt wurde und was im Lichte der heutigen, deutlich reiferen Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Sprache und Kognition etwa im Lichte der Prototypentheorie noch plausibler erklärt werden kann.

 
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