Fachbewusstsein der Romanistik

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2 Zur Begriffsgeschichte der political correctness

Der Begriff der political correctness ist im Zusammenhang mit den Emanzipationsbestrebungen von People of Color und Frauen in den USA entstanden. Der Erstbeleg der Formel politically correct wird auf das Jahr 1969 datiert und erscheint in einem Essay von Toni Cade Bambara (Lampert 1995, 249). Während mit der Wendung ursprünglich eine positiv bewertete Haltung bezeichnet wurde, hat sich die Bedeutung mit der Zeit gewandelt. In der Folge diente sie der Signalisierung von Selbstironie, heutzutage ist sie oftmals negativ konnotiert (Lampert 1995, 249–250). In Amerika wie auch in Europa hat sich der Begriff inzwischen von der Einschränkung auf die Bereiche Ethnie und Geschlecht gelöst und umfasst heute auch Diskursvorgaben und -empfehlungen zum Schutz weiterer Minderheiten (Reutner/Schafroth 2013, 12). Über den in semantischer Hinsicht problematischen Ausdruck schreibt Hughes (2010, 17): „[…] the formula political correctness is an inherently problematic semantic construct.“ Auch Merle (2011, 8–9) spricht von einer „formule boiteuse et d’ailleurs polysémique“.

Es ist bereits angeklungen, dass der Begriff der political correctness sehr unterschiedliche Phänomene umfasst. Wir haben es geradezu mit einem Sammelbecken von Erscheinungen zu tun, das der Binnendifferenzierung und Systematisierung bedarf. Eine wichtige Dichotomie ist zunächst die Folgende: Zum einen geht es im Bereich des politisch korrekten Sprachgebrauchs darum, dass etwas nicht gesagt/benannt werden darf – daher der Begriff norma surrettizia von Antonelli (2016, 60) –, zum anderen geht es darum, dass etwas gerade gesagt/benannt werden muss. Man denke hier beispielsweise an die Feminisierung v.a. institutioneller Texte. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang gefordert, dass Frauen explizit benannt und mit angesprochen werden. So positionierte sich die Accademia della Crusca, die sich inzwischen deutlich von den puristischen Zielen früherer Zeiten abgewandt hat (Lieber 1994, 61), im Dezember 2015 in der Rubrik tema del mese sehr deutlich bezüglich der Feminisierung im institutionellen Kontext und forderte:

L’Accademia […] auspica […] che i termini che indicano ruoli istituzionali […] riferiti alle donne siano di genere grammaticale femminile […]. Si eviteranno così anche usi discriminanti e formulazioni che mal si accordano con le funzioni del linguaggio istituzionale, a tutto vantaggio della sua chiarezza e trasparenza. (Marazzini/Robustelli 2015)

Was die erste Spielart des politisch korrekten Sprachgebrauchs betrifft, so sprechen Reutner/Schafroth (2013, 12) von einer speziellen Art der Tabuisierung. Zur Illustration sei ein aktuelles Beispiel aus der Tageszeitung La Repubblica angeführt. Es geht hierbei um die Veränderung von Begrifflichkeiten aus dem Feld des Strafvollzugs mit der Begründung der Anpassung an europäische Verhältnisse.

Cambia il lessico carcerario: ‚Ci adeguiamo all’Europa‘: La cella non si chiamerà più così, ma ‚camera di pernottamento‘. E chi in carcere prende le ordinazioni per il sopravvitto non dovrà essere più definito ‚spesino‘, ma ‚addetto alla spesa dei detenuti‘ […] e non si dirà più ‚piantone‘, ma ‚addetto alla persona‘ per indicare il detenuto che viene pagato per assistere il compagno di cella che, dietro certificazione medica, non riesce a badare a sé stesso. (Cravero 2017)

Mitunter kommt es mit der Zeit zu wahren Ketten von Bezeichnungen, die immer wieder durch neue Formen ersetzt werden. So wurde handicappato durch disabile ersetzt, das wiederum diversamente abile oder auch diversabile Platz machte (Antonelli 2016, 63). Auch das fragwürdige diversamente fortunato begegnet in diesem Kontext. In Analogie zu den Bildungen mit diversamente wurde übrigens die Formel des diversamente corretto gebildet. Eine weitere Bezeichnungskette für das Italienische und Französische ist diejenige des Alters: Italienisch: vecchio → anziano, in età, non più giovane, appartenente alla terza età, dai capelli d’argento; Französisch: vieillard → vieux, ancien, personne âgée, personne du troisième âge, senior (Abalain 2007, 50). Marazzini (2009, 223) liefert für diese Bezeichnungsketten folgende Erklärung:

Le parole adibite allo scopo di correggere i presunti pregiudizi linguistici, insomma, si ‚consumano‘, assumendo via via la connotazione e l’aura negativa dei termini che dovevano sostituire con vantaggio.

Nicht in jedem Fall ist der neue Begriff der eindeutigen Kommunikation zuträglich, wie es Abalain (2007, 50) für die Ersetzung von les aveugles durch les malvoyants feststellt: „Le mot est ambigu, car il peut aussi s’appliquer à ceux dont la vue a diminué.“1

Sowohl in der Literatur zum Italienischen als auch in derjenigen zum Französischen wird diese Form des politisch korrekten Sprachgebrauchs, die Jürgen Trabant (2017) in der Frühjahrsausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte als „Sprachwaschmaschine“ bezeichnete, weitestgehend negativ bewertet. Dies deckt sich mit einer Beobachtung von Reutner (2013), die bezüglich der Verwendungsweisen von spanisch políticamente (in)correcto ein deutliches Vorherrschen an negativen Einstellungen ermittelt hat. Diesen liegt nach Reutner (2013, 152) die Auslegung des Begriffs als Antonym von Wahrheit zugrunde. Die negativen Einstellungen im Italienischen und Französischen werden exemplarisch in folgenden Zuschreibungen manifest: hygiénisme langagier (Santini 1996, 9)2, art de l’esquive (Merle 2011, 8), abile maquillage linguistico (Canobbio 2009, 40), acrobazie verbali (Canobbio 2009, 45). Merle (2011, 16) spricht darüber hinaus von einem terrorisme verbal und von einem empoisonnement et emprisonnement du français (2011, 7). Der Gift-Metapher bedient sich auch Canobbio (2009, 38–39), wenn sie über die Debatten schreibt, die im Zusammenhang mit der political correctness geführt werden:

L’ansia fin troppo spesso ipocrita per il Politicamente corretto ha già fatto scorrere parecchio inchiostro e non poco veleno tra sociologi, linguisti, storici, studiosi di costume […].

Der Linguist Massimo Arcangeli sieht in der Verteidigung des politisch korrekten Sprachgebrauchs eine „subdola e assai ipocrita forma di totalitarismo“ (2005, 125) und bezeichnet dessen Verfechter als „nuovi crociati“ (2005, 135). Ähnlich drastisch formuliert es Crisafulli (2004, 150):

I giacobini della purezza linguistica prendono le mosse da un’idea sacrosanta – la pari dignità di ogni cultura e di ogni persona – ma approdano al fondamentalismo.

Selten finden sich neutralere Zuschreibungen, z.B. die Einordnung als euphemistischer Sprachgebrauch,3 oder differenziertere Betrachtungen wie diejenige von Fabio Rossi (2016), der in einem Interview im April 2016 zwischen einem „guten“ und einem „schlechten“ politisch korrekten Sprachgebrauch unterschied.4 Letzterer trage zu einer verbesserten Kommunikation, zu einem gesitteteren bzw. zivilisierteren, demokratischeren und respektvolleren Umgang bei. Auch Reutner/Schafroth (2013, 12) gestehen dem politisch korrekten Sprachgebrauch eine positive Wirkung zu.5 Sie beziehen sich in dieser Bewertung allerdings auf das, was hier als zweite Spielart der political correctness eingeordnet wurde. Im Feld der Femininbildungen von Berufsbezeichnungen werde – so die Autoren – die Gleichbehandlung durch sprachliche Innovation gefördert.

Exkurs

Politisch korrekte Formulierungen und deren Aushandlung haben auch Eingang in die Literatur gefunden, wie es anhand eines kurzen Romanauszugs illustriert werden soll. In Jean Anglades Erzählung Le Tilleul du soir (1975) wird ein Gespräch dargestellt zwischen einer älteren Dame, Mathilde, und dem Arzt Lenoir, der sie überzeugen möchte, in ein Altersheim zu gehen. Für das, was Mathilde als hospice ‚Heim‘ deutet, führt er allerlei beschönigende Ausdrücke an (hospice → maison de repos, maison de retraite, résidence pour le troisième âge). Zwar verwendet er einen abschwächenden Hedging-Ausdruck, dennoch geht der Arzt Lenoir soweit, die besagte Einrichtung in die Nähe eines Hotels zu rücken (des sortes d’hôtels).

— L’été, passe encore. Mais l’hiver ! […] Savez-vous ce que vous devriez faire ? Vous avez de bonnes pensions, n’est-ce pas ?

— Oh ! bonnes !

— Suffisantes, je crois savoir, pour que vous vous retiriez dans une de ces maisons où l’on reçoit les vieilles personnes. Elles y sont bien nourries, bien logées, bien chauffées, bien soignées. Libres de sortir à leur fantaisie. Jamais seules, toujours en compagnie de gens de leur âge. La télévision, un jardin, des bancs à l’ombre. Que peut-on désirer de plus ?

— L’hospice ! Vous voulez m’envoyer à l’hospice ?

— Il ne s’agit pas d’hospice ! Ça n’existe plus, les hospices ! Je vous parle d’une maison de repos, d’une maison de retraite, d’une résidence pour le troisième âge. Des sortes d’hôtels.

— Le troisième âge ? Qu’est-ce que c’est, le troisième âge ?

— Celui que vous avez. On trouve de ces hôtels un peu partout dans la région : à Maringues, à Lezoux, à Aigueperse, à Thiers, à Billom, à Pont-du-Château… Voulez-vous que je m’en occupe ? Que je vous cherche une place ?

— Non, non… Pas encore.

3 Situierung der political correctness im Diasystem der Sprache

Der politisch korrekte Sprachgebrauch wird weit häufiger bewertet und kritisiert als dass versucht würde, seinen Geltungsbereich zu erfassen oder auch ihn in das Sprachsystem bzw. Diasystem der Sprache einzuordnen. Daher soll an dieser Stelle eine diesbezügliche Annäherung unternommen werden. Canobbio (2009, 36) zufolge geht es hierbei um ein „rimodellamento del lessico e delle sue regole d’uso“. Hughes (2010, 59, Hervorhebung im Original) betont seinerseits den Aspekt des Sprachgebrauchs:

 

The enterprise of political correctness was and continues to be an attempt to change or suppress, not the whole langue or linguistic system, but the meanings of particular paroles.

Zu weitreichend scheint die Einschätzung von Stefano di Michele, der im Vorwort des Buches von Crisafulli (2004) den politisch korrekten Sprachgebrauch als linguaggio geneticamente modificato bezeichnet. Ein zentraler Aspekt wird m.E. von der Autorin Natalia Ginzburg eingebracht. In ihrem Essay L’uso delle parole (Scarpa 2001, 149–152) schreibt sie 1989 über die mit heuchlerischer Motivation künstlich geschaffenen Wörter:

Ci troviamo […] circondati di parole che […] sono state fabbricate artificialmente con motivazioni ipocrite, per opera di una società che ne fa sfoggio e crede con esse di aver mutato e risanato il mondo. […] Per docilità, per ubbidienza […] ci si studia di adoperare quei cadaveri di parole quando si parla in pubblico o comunque a voce alta, e il nostro vero linguaggio lo conserviamo dentro di noi clandestino. Toccherebbe agli intellettuali […] fare in modo che sui giornali e nella vita pubblica riappaiano le parole della realtà.

Hier erscheint der politisch korrekte Sprachgebrauch als diaphasische und auch diamesische Varietät, die situativ an die Öffentlichkeit gebunden ist und dem mündlichen Realisierungsmodus vorbehalten scheint. Ebendiese Dimensionen werden bei Canobbio (2009, 36) nicht genannt. Sie beschreibt das Phänomen sprachlicher Verbote vielmehr als querlaufend zur diastratischen, diatopischen und diachronischen Dimension:

Fenomeno dunque tipicamente relativo questo dell’interdizione; trasversale alla diastratia e alla diatopia dei diversi gruppi umani, e naturalmente variabile in diacronia […], e in ogni caso così capillarmente diffuso che proprio la sua evidenza rappresenta una delle più convincenti dimostrazioni del legame tra lingua e cultura.

Lampert (1995, 253) verweist ebenfalls auf ein Delta zwischen öffentlichem – „politisch-korrektem“ – und privatem Sprachgebrauch nach den „alten“ Mustern. Und auch bei Hughes (2010, 292) wird das Phänomen innerhalb der diaphasischen Dimension verortet. Er unterscheidet verschiedene „levels of discourse“, die einen je spezifischen Grad an political correctness aufweisen, und setzt mitunter gar einen „double standard“ an. So schreibt er mit Bezug zur Pressesprache: „Frequently the double standard is apparent in that the headline of a story will use sex worker, but the main body of the text will use prostitute“ (Hughes 2010, 292).

Geht es nun um die Frage nach dem Geltungsgrad und nach der Verbindlichkeit des politisch korrekten Sprachgebrauchs, liefert Arcangeli (2005, 125, Hervorhebung im Original) folgende Antwort:

Chi sono i padroni di una lingua? Chi ne governa l’uso? Difficile, per il tempo presente, affermarlo con risoluta certezza. Un ruolo di primo piano giocano però sicuramente i paladini a oltranza del politicamente corretto.

Analog geht Antonelli (2016, 61) bezüglich der amerikanischen Gesellschaft so weit zu behaupten, dass es sich bei der political correctness um eine Sprachnorm handelt, die in gewisser Hinsicht stärker ist als die grammatikalische Norm. Zur Begründung führt er an, dass es sich bei der Ahndung von Verstößen um einen Verweis oder eine Maßregelung moralischer Art handelt.

[…] il politically correct ha finito col diventare – nella società americana – una norma linguistica più forte, per certi versi, di quella grammaticale, perché espone i trasgressori a una censura di tipo morale. Censura che ha in molti casi perso la sua originaria caratterizzazione progressista ed egualitaria, finendo cosil diventare una versione nobilitata dell’eufemismo.

Demgegenüber sieht Merle (2011, 17) im politiquement correct nur eine „apparence de norme“:

Le propre d’une mode qui réussit, donc qui s’installe, c’est de finir par avoir l’air d’une évolution naturelle. C’est très exactement ce qui s’est passé pour un politiquement correct désormais bien implanté dans notre façon de parler, et cela jusqu’à s’être donné […] une apparence de norme.

4 Fallbeispiel: Feminisierung

Ergänzend zum vorgestellten, politisch motivierten Nichtsagbarkeitskodex, der in Italien und Frankreich in vergleichbarer Weise diskutiert wird, soll ein kontrastives Fallbeispiel angeführt werden, in dem unterschiedliche normative Ausprägungen und Bestrebungen zum Ausdruck kommen. Dieses Fallbeispiel bezieht sich auf einen ausgewählten Aspekt der geschlechtergerechten Sprache, die nach Robustelli (2016, 13) insbesondere in institutionellen und politischen Zusammenhängen von höchster Aktualität ist.

In Frankreich ist das Aufkommen des geschlechtergerechten Sprachgebrauchs eng verbunden mit der Regierung von François Mitterrand, der zu Beginn seiner Präsidentschaft (1981) eigens ein Frauenministerium eingerichtet hat. Es dauerte jedoch bis zum Jahr 1999, bis unter der Regierung Lionel Jospins ein Feminisierungsleitfaden veröffentlicht werden konnte (Femme, j’écris ton nom… Guide d’aide à la féminisation des noms de métiers, titres, grades et fonctions) (Becquer et al. 1999; s. auch Berschin et al. 2008, 410). Im italophonen Raum erhielt die geschlechtergerechte Sprachverwendung zentrale Impulse durch das Werk von Sabatini Il sessismo nella lingua italiana (1987; 1993). Hierin stellt die Autorin einen Katalog sog. „raccomandazioni“ auf (1993, 97). Es sei festgehalten, dass es sich hier um eine der seltenen Maßnahmen des italienischen Staates handelt, die die Sprachverwendung beeinflussen und regulieren sollten. Eine aktuellere Handreichung bilden zudem die Linee guida per l’uso del genere nel linguaggio amministrativo, die von Cecilia Robustelli in Zusammenarbeit mit der Accademia della Crusca im Jahr 2012 veröffentlicht wurden.

Unter den romanischsprachigen Ländern ist Frankreich das erste Land, das hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit sprachpolitische Maßnahmen eingeleitet hat. Diese Maßnahmen sind jedoch auf die Feminisierung von Berufs- und Funktionsbezeichnungen beschränkt, so dass der geschlechtergerechte Sprachgebrauch in Frankreich auf ein Terminologieproblem reduziert wird (Burr 1999, 133–134). Fragen der Kongruenz von Adjektiven und Partizipien, deren Relevanz Robustelli (2016, 16) hervorhebt, werden vernachlässigt. Robustelli schreibt:

La riflessione sulla possibile discriminazione linguistica non si ferma al piano delle scelte lessicali, ai suffissi che indicano le uscite femminili dei vocaboli riferiti alle professioni, ma investe, per esempio, la concordanza di aggettivi, pronomi, sostantivi.

Sehen wir uns die einzelsprachlichen Regeln des accordo/accord näher an. Zum Italienischen schreibt Serianni (1989, 199) in der Grammatica italiana:

Se i nomi sono di genere diverso, l’aggettivo assume il numero plurale e, di preferenza, il genere maschile.1 […] Ma si può anche avere, per ragioni d’immediata contiguità sintattica, la concordanza dell’aggettivo con l’ultimo nome della serie, e quindi il maschile se questo è un maschile […], il femminile se esso è femminile […]. La concordanza dell’aggettivo con l’ultimo nome al femminile va però soggetta ad una duplice restrizione: l’ultimo nome deve essere plurale, e riferirsi ad un’entità inanimata. […] Nel dubbio, e per evitare ambiguità, sarà comunque preferibile attenersi alla concordanza dei nomi di genere non omogeneo con l’aggettivo al maschile plurale.

Hiernach erscheint ein Adjektiv, das sich auf Substantive unterschiedlicher Genera bezieht, im Plural im Maskulinum. Ausnahmen hiervon sind möglich. So kann das Adjektiv auch im Femininum erscheinen, allerdings müssen hierzu zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss das letzte Substantiv einer Reihe im Plural stehen, zweitens muss es sich auf einen unbelebten Referenten beziehen. Diese Verhältnisse wurden von Sabatini (1993, 24) als „dissimmetrie grammaticali“ beklagt, die zu „cancellazione“, „marginalizzazione“ und „riduzione delle donne“führe. Ihr Unmut richtete sich insbesondere gegen die unterschiedliche Handhabung der Feminisierung bei belebten und nichtbelebten Referenten:

Questa regola, detta anche dell’„assorbimento“ o „inglobamento“ del femminile da parte del maschile, è generalmente trattata dalle grammatiche in modo sommario, come se fosse „naturale“ e ineluttabile, mentre per la concordanza di nomi di inanimati si prevedono anche altre soluzioni (ad es. l’accordo con l’ultimo nome). (Sabatini 1993, 24)

In ihrem Feminisierungsleitfaden forderte sie daher bezüglich des participio passato (1993, 105):

Evitare di accordare il participio passato al maschile, quando i nomi sono in prevalenza femminili. Si suggerisce in tal caso di accordare con il genere largamente maggioritario oppure con il genere dell’ultimo sostantivo della serie.

Unter Berufung auf Dardano/Trifone (1985, 138) heißt es weiterhin: „In caso di difficoltà nel determinare il genere maggioritario si suggerisce di accordare con l’ultimo sostantivo della serie“ (Sabatini 1993, 105).

Zum accord im Französischen lesen wir bei Grevisse/Goosse (2016):

L’épithète se rapportant à plusieurs noms coordonnés […] se met d’habitude […] au pluriel. a) Si les noms sont de même genre, l’épithète prend ce genre. […] b) Si les noms sont de genres différents, l’épithète se met au genre indifférencié, c’est-à-dire au masculin. (Grevisse/Goosse 2016, 460–461)

Contrairement à la règle générale […], mais, selon une tendance spontanée très ancienne […], on trouve assez souvent des accords avec le donneur le plus proche. […] Rarement, fém. au lieu du masc. : […] Dans les mouvements et les habitudes les plus JOURNALIÈRES (Giraudoux, Littérature, p. 310). (Grevisse/Goosse 2016, 607–608)

Im Französischen gibt es nun seit einigen Jahren Bestrebungen, die Regeln des accord zu reformieren und die sog. règle de proximité, wie sie bis zum 17. Jh. Bestand hatte, wieder einzuführen. Während es im Altfranzösischen (ebenso wie im Griechischen und Lateinischen) durchaus üblich war, das attributive Adjektiv, das sich auf Substantive unterschiedlicher Genera bezieht, im Plural im Femininum aufzuführen, vollzog sich hier im 17. Jh. ein Wandel. Bei Ménard (1994, 120–121) heißt es zum Altfranzösischen noch:

Lorsqu’un adjectif se rapporte à deux substantifs coordonnés, il n’est généralement exprimé qu’une seule fois et il s’accorde avec le substantif le plus proche. Il n’avoit onques veü plus richement encortinee eglise ne mostier. (Mort Artu, 48, 82) „Il n’avait jamais vu d’église et de monastère plus richement ornés de tentures.“

Demgegenüber lesen wir in den Remarques sur la langue françoise von Vaugelas (1647, 381) aus dem 17. Jh.:

Trois substantifs, dont le premier est masculin, & les deux autres, féminins, quel genre ils demandent. Parce que le genre masculin est le plus noble, il prévaut tout seul contre deux féminins, même quand ils sont plus proches du régime.

Auch Bouhours führt in seinen Remarques nouvelles sur la langue françoise aus dem Jahr 1675 das Kriterium der noblesse an: „[…] quand les deux genres se rencontrent, il faut que le plus noble l’emporte“ (1675, 4). Noch expliziter ist Beauzée in seiner Grammaire générale (1767, 358): „Le genre masculin est réputé plus noble que le féminin à cause de la supériorité du mâle sur la femelle.“

Bereits in der französischen Revolution hatte es einen Versuch gegeben, diese Regel abzuschaffen (Harten/Harten 1989, 4). Aus dem Jahr 1792 datiert ein projet de décret, die sog. Requête des dames, à l’Assemblée nationale, in der es in Artikel 3 heißt:

Le genre masculin ne sera plus regardé, même dans la grammaire, comme le genre le plus noble, attendu que tous les genres, tous les sexes et tous les êtres doivent être et sont également nobles.2

Etwa zweihundert Jahre später wurde in dem Runderlass (circulaire) von 1976 zu den sog. „tolérances grammaticales et orthographiques“ eingeräumt, dass die Berechtigung manch einer Norm schwierig aufrechtzuerhalten sei. So heißt es im Journal Officiel de la République Française Nr. 827 vom 9. Februar 1977:

 

La dernière catégorie est celle des expressions auxquelles la grammaire, dans son état actuel, impose des formes ou des accords strictement définis […]; dans certains cas, ce sont les normes elles-mêmes qu’il serait difficile de justifier avec rigueur, tandis que les transgressions peuvent procéder d’un souci de cohérence analogique ou logique.

Auf Initiative des Verbands L’égalité, c’est pas sorcier und der Ligue de l’enseignement wurde nun im März 2015 die Petition: Que les hommes et les femmes soient belles! initiiert und bei der damaligen Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem eingereicht.

In den alten und neuen Medien finden rege Debatten um diese règle de proximité statt. Ergänzend zur Berichterstattung in der Tagespresse, z.B. in Le Figaro (Leclair 2015), wird die Diskussion intensiv in den sozialen Medien, v.a. auf Facebook, befeuert. Neben der Ankündigung der Petition und Aufforderung zur Unterzeichnung ergeben sich ganze Kommunikationsstränge. Die Aufforderung zur Unterzeichnung wird entweder höflich als Frage formuliert oder aber expliziter mittels Imperativen der 1. oder 2. Person: Continuons à nous mobiliser; Signez et partagez la pétition. Auch familiäres und vergemeinschaftendes on wird verwendet: on signe, on partage, on se mobilise. Schließlich wird das Thema auch in Blogs von Politikern aufgegriffen, wie es bei Marc Jammet (2015) deutlich wird.

Im Herbst des Jahres 2017 erfährt die Debatte einen neuen Höhepunkt, als 314 Lehrerinnen und Lehrer ein Manifest unterzeichnen, in dem sie erklären: „Nous n’enseignerons plus que ‚le masculin l’emporte sur le féminin‘“ (s. a. 2017). In diesem Zusammenhang wird auch eine neue Petition initiiert („Nous ne voulons plus que ‚le masculin l’emporte sur le féminin‘“, Viennot 2017). Die Académie Française reagiert mit einem Communiqué, in dem gar von einem „péril mortel“ für die französische Sprache gesprochen wird (Académie française 2017). Um dieser Debatte ein vorläufiges Ende zu setzen, veröffentlicht der französische Premierminister Édouard Philippe am 22. November im Journal Officiel die sog. circulaire du 21 novembre 2017 relative aux règles de féminisation et de rédaction des textes publiés au Journal officiel de la République française. Der écriture inclusive und der règle de proximité wird hierin eine Absage erteilt.