Ernst Viebig - Die unvollendete Symphonie meines Lebens

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Wichtig ist für mein Leben, dass meine Eltern spät heirateten. Ich wurde geboren, als meine Mutter bereits siebenunddreißig und mein Vater dreiunddreißig Jahre alt waren, und ich blieb das einzige Kind dieser relativ alten Eltern. Die Erinnerung meiner Kindheit kennt eine überaus schöne Frau, hochgewachsen und etwas heroisch, und einen zierlich gewachsenen, geistvollen und witzigen Vater, der ein etwas ungeduldiges und heftiges Temperament hatte. Die Eltern lernten sich dadurch kennen, dass die junge Clara Viebig zu dem Verleger Fritz Th. Cohn, Sozius des Fontane-Verlages, kam, nachdem sie mit ihrer Mutter nach Großvaters Tod nach Berlin verzogen war, um an der Hochschule für Musik Gesang zu studieren, aber nebenbei zu schreiben begann und damals die Erstlinge ihres Schriftstellertalentes meinem Vater zur Beurteilung vorlegte. Es mag wohl 1895 gewesen sein, als beide sich zuerst trafen. Aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich das erste Urteil meines Vaters über das, was sie ihm vorlegte. Er sagte: »Mein liebes Kind – das ist schlecht – aber sie haben Talent.« Und nun begann der Verleger die junge Autorin zu leiten, ihr Rat und Erklärungen zu geben. Das geistige Band wurde geschlossen, dem das einer tiefen Liebe bald folgte. Bis an das Ende seiner Tage hat meine Mutter in ihrem Mann den besten Kritiker gefunden, der sie beraten hat.

Als Kind und Knabe führte ich den Doppelnamen Cohn-Viebig, bis mein Vater die Löschung des Namens »Cohn« durch kaiserliche Kabinettsorder für mich erwirkte und ich seitdem den Namen »Viebig« legaliter allein führe.

Ich kehre zurück zu meiner Kindheit nach dieser notwendigen flüchtigen Abschweifung ins Familiengeschichtliche.

Eine dunkle Erinnerung, wahrscheinlich unterstützt durch Erzählungen meiner Mutter, die später manchmal sagte: »Ernst war ein so liebes Kind«, führt mich in jenes Kinderzimmer gleich rechts neben der Vordertür jener Wohnung, von der ich schon sprach: ein Zimmer, dessen Fenster nach einem halbdunklen Hof hinausging. Ich sehe mich in einem Stühlchen sitzen, in dessen Sitz ein Töpfchen eingelassen war und vor welchem ein Spieltisch das Kind am Herausfallen hinderte. Dieser Tisch hatte rechts und links zwei Reihen bunter Kugeln auf ein Drahtgestell aufgereiht und in der Mitte ein Bild mit vielen Tieren in grellen Farben. Ich sehe mich stundenlang eingepfercht in dieses Stuhltischchen – ganz allein. Und dieses Alleinsein ist mir als wesentlich in Erinnerung geblieben. Ich hatte keine Geschwister, keine Gespielen als Kleinkind, nur das Mädchen Ida (war es die, deren Bräutigam der Feldwebel war, oder eine andere – ich weiß es nicht mehr). Meine Mutter arbeitete, war in der ersten Periode ihres schriftstellerischen Aufstieges. Zwei große Romane, Novellen und anderes waren die »Jahresproduktion«. Sie schrieb alles mit der Hand, erst ins »Unreine« und dann nochmals in »Reinschrift«, diabolische Qual der Arbeit in einer Zeit, da es die Schreibmaschine noch nicht gab. Als sie mit mir im siebenten oder achten Monat schwanger ging, wurde in Frankfurt am Main ihr Einakterzyklus »Der Kampf um den Mann« (in naturalistischem Ibsen- und Hauptmannstil, befruchtet von ihrem Meister Zola) uraufgeführt, ein Stück, in welchem der später so berühmte Victor Barnowsky debütierte und dank seiner und meiner Mutter mäßigen Leistung einen Theaterskandal verursachte. Mutter behauptete stets, dass meine Tendenz zum Dramatischen im Leben und Schaffen jenem Theaterskandal zu verdanken sei. Ihre unglückliche Liebe war das Theater. Da ihr der Theatererfolg nicht beschieden war, trotz der großen Rosa Bertens, die mit der »Bäuerin« triumphale Tourneen durch Deutschland machte, haben Mutter und Sohn, ohne Zweifel, diese Theaterinstinkte weitestgehend ins praktische Leben verdrängt. Erst späte Reife sollte das ändern.

Das Kinderzimmer wurde später, als ich sechs Jahre alt war, durch eine Art von Katheder bereichert, an dem ich unter eines Herrn Borkenhagens Leitung das Lesen, Schreiben und Rechnen lernte. Aus einem mir unbegreiflichen Grunde gab man mir einen Hauslehrer, anstatt mich in den normalen Schulgang einzureihen. Es war gewiss nicht »Protzerei« meiner Eltern, eine hässliche Eigenschaft, die beide nie hatten und damals schon gewiss nicht, denn sie waren keineswegs reiche Leute, sondern kämpften sich durch. Vater hatte seinen Fontane-Verlag inzwischen umgewandelt in den Verlag Egon Fleischel & Co., in dem Fleischel der Geldmann und Vater der gestaltende Kopf war, und Mutter verkaufte die Vorabdrucke ihrer Arbeiten an »Velhagen & Klasing«, »Über Land und Meer« – also Familienblätter, bis schließlich die »Berliner Illustrierte« fünfzigtausend Goldmark für den Vorabdruck eines ihrer Bücher zahlte. Aber das war viele Jahre später.

Dieser Herr Borkenhagen, ich habe ihn dunkel in Erinnerung, ein armer Kerl, der von meiner Mutter mit dem albernen Vers bedacht wurde: Herr Borkenhagen, darf ich’s wagen, Sie zu fragen, wie viel Kragen Sie getragen etc. – war gewiss keine Leuchte unter den Pädagogen. Auch glaube ich, dass ich von Anbeginn ein sehr schlechter Lerner war, eine Plage meiner Lehrer. Meine Schulzeit ist mir in Erinnerung als die schrecklichste Epoche meines Lebens, zweifellos für alle, die mit mir zutun hatten, gleichermaßen. Das kleine Einmaleins habe ich bis zum heutigen Tage nicht gelernt. Acht mal sieben, fünf mal neun, sechs mal acht und ähnliches sind heute noch für mich Aufgaben, die ich nur mit Hilfe von »Umdenken« lösen kann. Wie das möglich ist, bleibt mir ein Rätsel, denn das logische Denken habe ich frühzeitig erfasst dank der Belehrung durch meinen Vater und der Beschäftigung mit Philosophie und Klassik. Aber das Einmaleins blieb mir allzeit Hekuba.

Aus jener frühesten Kindheit ist mir ein Erlebnis stets gegenwärtig geblieben: Die erste erotische Sensation. Nicht bewusst, aber sie blieb im Unterbewusstsein: ein Kindermädchen, das mich nachts in ihr Bett nahm und an mir – wie man sagt – »unzüchtige Handlungen« vornahm, mir ihre Brüste zeigte, mich daran saugen ließ und sinnliche »Spiele« mit mir trieb. Ob ich, der ich mit dem »Soxhlet«, also mit der Flasche aufgezogen wurde, triebhaft handelte, und ob diese Tatsache für mich eine psychologische Zukunftsbelastung darstellte, kann ich nicht entscheiden. Ich erinnere mich aber der Tatsache lebendig. So lebendig, dass vor ihr viele andere Erinnerungen an die frühe Kindheit verblassen. Später – ich besaß schon viele Spielsachen, wie Unmengen von Zinnsoldaten, Ritterburgen mit Zugbrücken, Stofftiere und sogar eine Eisenbahn mit einer Lokomotive zum Aufziehen, ein Kasperletheater mit den Figuren des Teufels, des Krokodils, dem Kasper mit einer Zipfelmütze und anderen; und als schönstes eine Arche Noah, die einen wahren Zoo an Tieren enthielt – hatte ich einen ersten Spielkameraden, den Sohn eines damals sehr berühmten Magenspezialisten, Gerhard Kuttner, der ein Stockwerk über oder unter uns wohnte, gleichermaßen ein verhätschelter »Judenjunge«. Wesentlich ist mir nur der Name in Erinnerung, der Junge nicht. Viel lebendiger aber blieb mir die Erinnerung an unsern Portierssohn, dessen Name mir allerdings nicht mehr gewärtig ist. Dieser Junge war halbblöde, und ich liebte ihn sehr. Er war älter, und ich schaute zu ihm auf, wie später meine Landsleute zu ihrem »Führer«. Er durfte gewiss nicht in unsere Wohnung kommen, dieser schlecht angezogene, zwergenhafte Bursche mit dem Wasserkopf und den Basedowaugen, körperlich verfettet durch Drüsenstörungen, mit schwerer Zunge, aber ich fand genug Gelegenheit, mit ihm zusammen zu sein.

Meine Großmutter, Mutters Mutter, wohnte ein paar Häuser von uns entfernt, und ich durfte, so etwa mit vier Jahren, morgens allein zur »Omama« gehen, da ich den Fahrdamm nicht zu überschreiten hatte. Dort waren auch Portierskinder, von denen ein kleines Mädchen eine Nähmaschine mit Handbetrieb hatte – man stelle sich vor, welch ein Monstrum das 1901 oder 1902 gewesen sein mag. Da Großmutter ja nun, damals schon weit über siebzig Jahre alt, nicht allzu viel mit ihrem Enkelsohn anzufangen wusste, war es verständlich, dass die Portierskinder mit mir spielten. Der halbblöde Junge aus unserem Haus schleppte mich aber eines Tages mit sich unter den »Bülow-Bogen«, die Kreuzung der Bülow- und Potsdamerstraße, wo für damalige Verhältnisse ein lebensgefährlicher Wagen- und Straßenbahnverkehr herrschte, um mitten auf der Straße, zwischen den Wagen stehend, die Straßenbahnschaffner um leere Billetblocks anzubetteln: »Ha’m se ’n leeren Block?« Das Abenteuer endete damit, dass Großmutter und Eltern die Polizei alarmierten und ich samt meinem »Führer« heil ins Elternhaus geschafft wurde. Die Kontrolle wurde verschärft, und es blieb nur der Weg zur Großmutter am Morgen, wohin ich jeden Tag marschierte, mit Stentorstimme den Schlager des Tages singend: Hab’n se nich den kleinen Cohn gesehn?

Ich wurde sieben Jahre und sollte in die Schule, das »Hohenzollern-Gymnasium[2]«, hatte also nach einem Jahr Privatunterricht die »Reife« für die damalige zweite Vorschulklasse. Von dieser Schule weiß ich nur, dass sie ein großes Gebäude aus rotem Backstein war und dass ich dort wenig reüssierte. Denn aus jener Zeit stammt meine Erinnerung des Hinter- und Vordereingangs, den ich im Anfang meiner Erzählung als bezeichnend für meine wissenschaftlichen Fortschritte erwähnte. Mein Vater, der herzensgütigste Mensch meines ganzen Lebens, war ein jähzorniger Mann. Er sah in seinem Sohn sein Idol, wünschte ihn vollkommen, musterhaft und untadelig. Ach, was wurde der arme Mann enttäuscht! Erst Jahrzehnte später (1936), als ich den jähen Tod meines Vaters durch Telegramm »Vater sanft entschlafen« in Brasilien erfuhr, lernte ich, was er war, wer er war und wie er war. Ich weinte wohl die echtesten und bittersten Tränen meines Lebens, und niemals wieder war der Begriff des »Mea culpa, mea maxima culpa« so lebendig in mir wie damals.

 

Doch ich greife wieder vor, die Gedanken tragen mich fort, und ich muss sie zügeln, um bei der Sache zu bleiben. Vater schlug mich oft in seiner Heftigkeit, oft wegen wenig belangvoller Dinge. Er schlug mich nicht ins Gesicht, verlangte von mir, dass ich in mein Zimmer ginge, um die Hosen auszuziehen. Dann kam er und schlug mich mit der Rute und später mit einem Rohrstock (die Rute hing irgendwo an der Wand in meinem Zimmer, sie hatte ein rotes Band, welches die Reiser zusammenhielt) kräftig auf meine Sitzfläche. Es liegt mir ferne, durch diese Erzählung das Andenken meines Vaters herabzusetzen, denn die körperliche Züchtigung war ja zu jener Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches, sondern gang und gäbe in Elternhaus und Schule (Erbe preußischer »Zucht«, durch die sich der sogenannte »Alte Fritz« so unsterblich gemacht hat), doch muss ich dieses Faktum besonders eingehend behandeln, denn lange Jahre hindurch währte diese törichte Form der Erziehung in mein Leben, deren Folgen für mich und für meine Eltern katastrophal werden sollten. Ein selbstquälerischer Zug meines Wesens und eine gewisse Form von Sado-Masochismus hat ohne Zweifel seine Wurzeln im Nährboden dieser für unsere heutigen Begriffe sinnlosen Form der Erziehung, die mir bei einem Vater hoher Kultur und echter Herzensgüte einfach unfassbar ist.

Andererseits wurde ich ebenso ohne vernünftiges Maß verwöhnt. Jedoch – ich kann das heute rückschauend wohl beurteilen – in einer Form, die ich als Kind, namentlich etwas später, als ich ein Urteil über die Dinge im Allgemeinen bekam, einfach nicht verstehen konnte, weil meine Eltern ihre Wohltaten an mir, ihre Güte und Liebe von ihrem eigenen und nicht von meinem Kinderstandpunkt aus betrachteten, und oft unglücklich waren oder mich gar »undankbar« nannten, weil ich das mir Gebotene nicht gebührend schätzte oder mich sogar dagegen zur Wehr setzte. Mir ist eine typische Geschichte in Erinnerung, die klar und eindeutig diese permanent durch meine Jugend gehende Situation aufzeigt. Ich mag wohl sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, da reisten meine Eltern mit mir in die Schweiz und versprachen sich davon, dass der Anblick der Viertausender-Gipfel mit dem ewigen Schnee auf mich einen gewaltigen Eindruck machen müsste. Vorauszuschicken ist, dass die damalige »Mode-Ernährung« (kein rohes Obst, sondern alles gekocht und ähnlicher Unsinn) unter anderm auch den Genuss von Käse als zu schwer für den Kindermagen betrachtete. Ich erinnere mich, dass wir in Bern ankamen und in einem der schönen Schweizer Hotels abstiegen (das Kindermädchen war natürlich mit), und dass meine Mutter mir die weißen im Abendsonnenglanz ruhenden Schneegipfel der Berner Alpen, besonders die Jungfrau, die von unserm Hotel aus prächtig zu sehen war, zeigte. Wir gingen zur Table d’hôte, um das Diner einzunehmen, welches selbstverständlich mit der köstlichen »Beurre et fromage«-Platte schloss. Und es geschah das Wunder, dass meine Eltern das große Risiko auf sich nahmen, mir etwas Gervais-Käse zu gestatten. Kurzum – nachdem ich ins Bett gebracht worden war, kam meine Mutter zum Gutenacht-Kuss und zum Beten, und ich brach schließlich in den Ruf aus: »Ach Mutti, ich bin ja so glücklich!« Meine Mutter, gerührt über den gewaltigen Eindruck, den die herrliche Landschaft auf das zarte Kindergemüt gemacht hatte, antwortete denn auch natürlich: »Ja, mein Jungchen, es ist wirklich ein Erlebnis, zum ersten Mal die Schneeberge, die Jungfrau, gesehen zu haben.« Aber mein damals noch ehrliches Kinderherz enttäuschte sie arg, denn ich schüttelte den Kopf: »Nein nicht deswegen, Mutti, nein, weil ich Käse bekommen habe!«

Diese kleine lustige Episode war bezeichnend für die Art, wie man mich behandelte, ich könnte zahllose ähnliche Fälle meiner Kinderjahre aufzählen. Die Deduktion würde stets die gleiche bleiben.

Gleichermaßen bemühte man sich, mir eine Sonderstellung zu schaffen. Außer den erwähnten kennt meine frühe Kindheit keine Gefährten gleichen Alters. Ich wuchs auf zwischen – im Verhältnis zu meinen Jahren – uralten Leuten, glaube aber nicht, dass ich ein typisch altkluges Kind war. Das einzig Schöne, dessen ich mich erinnere, waren meine Krankheiten, Kinderkrankheiten, wie sie alle Kinder haben, die damals, da es noch keine modernen pharmazeutischen Mittel gab, meist in üblicher altväterischer Weise mit Prießnitzumschlägen, kalten und warmen Wickeln, heißer Milch mit Honig, »Emser Kränchen« und ähnlichem behandelt wurden. Eine Mandel- und Nasenwucherung-Operation bleibt mir eine blutig-grausige Erinnerung, so sehr, dass ich mich des Namens des Arztes, eines Dr. Schoetz, noch erinnere, ebenso wie an die ganze abscheuliche Prozedur. Solche Krankheiten aber sind mir gewärtig, weil dies die eigentlich einzige Zeit war, während der meine Mutter mir gehörte. Sie saß dann stundenlang an meinem Bett und las mir vor. Sie war eine bewundernswerte Leserin. Ihre Stimme und Art machten die Figuren der Märchen und Sagen unsterblich lebendig in mir. Die Märchen von Bechstein und Andersen, die »Träumereien an französischen Kaminen«, die Sagen der deutschen, griechischen und römischen Geschichte, Defoes Robinson, Coopers Lederstrumpf grub sie unverlöschbar bis zum heutigen Tag in meine Seele und meinen Geist. Grimms Märchensammlung las ich erst später. Mutter hielt Grimms für »zu roh«, dagegen las sie mir etwas später E. T. A. Hoffmann und den Scheffel’schen Ekkehard vor, und Frau Hadwig und die schöne Praxedis bevölkerten meine Phantasie. Auf einer verregneten Schweizer Sommerreise las Vater uns »Hermann und Dorothea« vor (ich war damals wohl acht bis zehn Jahre alt), und so pflanzten mir – um dies wenige zu nennen – meine Eltern in den Garten meiner Kindheit die prächtigsten Blüten und Bäume der deutschen klassischen und besonders romantischen Literatur. Schundheftchen wie »Die Gartenlaube«, »Sherlock Holmes« und andere, heute als »comic strips« die Jugend verpestend, sowie der »verlogene« Karl May kamen nie in unser Haus, und ich habe nicht bemerkt, dass die Unkenntnis solcher Machwerke mir je gefehlt hätte.

Um das Jahr 1905 herum – ich war also damals acht Jahre alt – zogen wir aus der eigentlichen Stadt Berlin in den Villenvorort Zehlendorf, der bis zu meiner Auswanderung nach Brasilien 1934, also fast dreißig Jahre lang, meine eigentliche Heimat wurde.

Das Elternhaus meiner Jugend, meiner Freuden und Leiden, das Haus, in dem sich der größte Teil meines Lebens als heranwachsender Knabe, als Jüngling und junger Mann abspielte, war dort im Haus Nr. 3 der Königstraße, die darum so hieß, weil weiland der Weg von Potsdam nach Berlin durch diese Straße führte und der »große König« von Sanssouci dort entlang kutschierte durch die Felder und Waldungen des großen Rittergutes Düppel, von dem nur noch ein kleiner Rest erhalten war, als wir dorthin zogen. Zehlendorf war damals weit abgelegen und nur in fünfundzwanzig Minuten Bahnfahrt mit der »Wannseebahn«, die in der Nähe des Potsdamer Platzes endete, zu erreichen. Vaters Verlag lag jedoch eine Minute vom Bahnhof entfernt und unser Haus sieben oder acht Minuten Fußweg von der Bahnstation, so dass die Entfernung kein Problem darstellte. Die Bewohner des Vorortes waren fast durchweg wohlsituierte Leute, Kaufleute, höhere Beamte, Offizierswitwen mit Pension, einige Ärzte, kurz: ein gehobener Mittelstand, leicht aufgeputzt durch einige Millionäre wie den bekannten Optiker Ruhnke, den Nachbarn in unserer Straße, Herrn Engel (ein alter Wucherer), dessen Grundstück an das unsere stieß, und noch ein paar andere.

Unser Haus, ein schon mindestens zwanzig Jahre altes Gebäude im einigermaßen verworrenen Stil der Gründerzeit, aber doch noch Landhauscharakter tragend, lag inmitten eines herrlichen großen Gartens. Eine hundertjährige Linde beherrschte den Vordergarten, in Blüte alles in der Runde mit ihrem lieblichen Duft erfüllend. Diese Linde bleibt in meiner Erinnerung der schönste Baum meines Lebens, ihre Äste breiteten sich zehn bis fünfzehn Meter in der Runde, und der stärkste Regen drang nicht so leicht durch ihr Blätterdach. Leute standen am Gartenzaun auf der Straße, die Schönheit dieses Baumes zu bewundern. Der Garten war überreich mit Fliederbüschen, weiße und lila Dolden, mit etwa sechzig alten schönen Obstbäumen, Sträuchern und Blumen aller Art gefüllt: das ganze, vielleicht wirklichste Glück meiner Eltern, die beide die Natur über alle Maßen liebten. Vater widmete sich der Rosenveredlung, züchtete die köstlichsten Artischocken, eine Seltenheit im nordischen Bereich Deutschlands, ließ Mistbeete anlegen, wo ich weiß nicht was alles gezüchtet wurde, und freute sich an jeder reifenden Frucht, während meine Mutter in der sogenannten »Einmachzeit« nicht mehr Schriftstellerin war, sondern ganz deutsche Hausfrau, Hunderte von Gläsern köstliches Eingemachte selbst zubereitend (zuerst in traditioneller Form, später mit dem »modernen« Weck-Apparat). Nie habe ich in meinem Leben mehr so gute Äpfel und Birnen, nie schmackhaftere Kirschen oder Pflaumen gegessen wie die aus dem elterlichen Garten, nie so duftende Pfirsiche vom Spalier und nie bessere Hasel- und Walnüsse.

Das Haus selbst war geräumig und wurde, ehe wir es bezogen, etwas umgebaut, aus einem Riesenatelier im obersten Geschoss wurden die Angestelltenräume. Für meine Großmutter gab es zwei Räume, die nach ihrem Tode die Arbeitszimmer Vaters und Mutters wurden, vieles wurde modernisiert, so dass das Ganze zwar keinen geradezu »modernen«, aber doch recht geschmackvollen und sehr persönlichen Charakter erhielt. Besonders die Einrichtung eines »Wintergartens«, der eigentlich mehr eine Art »Treibhaus« war, lag meiner Mutter am Herzen. Sie züchtete dort Kakteen, Palmen und tropische Pflanzen, und sogar eine Passionsblume (Passiflora), wie ich sie dreißig Jahre später in Brasilien in freier Natur finden sollte.

Der schriftstellerische Ruhm meiner Mutter stieg gewaltig schnell. Die Fotografen drängten sich, Maler, Bildhauer, Journalisten baten um Interviews und Sitzungen, die Post brachte täglich eine Flut von Bitten um Autogramme oder um geldliche Unterstützung. Eine Korrespondenz mit einem jungen Grafen von der Goltz, der aus Oran, dem Hauptquartier der Fremdenlegion, an sie schrieb und sie bat, ihn zu retten, regte Mutter ungemein auf; sie setzte sich mit der Familie von der Goltz in Verbindung, die natürlich leugnete, einen Angehörigen der alten Adelssippe in der Legion zu wissen. Sie schrieb, Vater sandte Geld und Lebensmittel. Ich erinnere mich, wie Mutter bitter weinte über die Verzweiflungsrufe dieses Menschen, und es hätte gewiss nicht viel gefehlt, dass sie nach Afrika gefahren wäre, um den Unglücklichen zu befreien. Schließlich aber – so scheint es mir – endete die Sache damit, dass die Geschichte als Chantage aufgedeckt wurde. Da der Nachlass meiner Mutter wohl nicht mehr existiert oder in unberufene Hände fiel, wird diese Korrespondenz mit dem Fremdenlegionär von der Goltz wohl nie mehr auftauchen.

So war Mutter überlastet in jeder Weise und wehrte sich gegen alle Art von gesellschaftlichem Leben, zum Ärger meines Vaters. Ich übernahm von ihr unbewusst diese Abneigung, denn – ein so guter Gesellschafter ich auch sein kann – ich habe bis heute stets ein sogenanntes »Society Life« verabscheut und mich darum gedrückt, wann immer ich es konnte.

Meines Vaters Verlag florierte, er war einer der führenden Verleger Deutschlands und wurde »Vorsitzender des Vereins der schönwissenschaftlichen Verleger Deutschlands«, Handelsrichter und später Handelsgerichtsrat. Bis 1918, resp. bis zur alles zerschmetternden Inflation waren meine Eltern finanziell glänzend gestellt, hatten ihre Reitpferde, machten Erholungsreisen in die Schweiz, nach Tirol, Italien, an die Mosel in Mutters engere Heimat, hatten ein beneidenswertes Leben, arbeitsam und fruchtbringend, wenn der Götter Neid ihnen nicht einen Sohn beschert hätte, der der stete Kummer ihres Lebens geblieben ist.

Kehren wir also zu mir, diesem Sohne, zurück, der stets wie eine gewitterdrohende Wolke am blauen Zenith ihrer bürgerlichen Saturiertheit drohte.

Mit der Übersiedlung nach Zehlendorf beginnt recht eigentlich die Geschichte meines Lebens.

[1] Anm.: Elssholzstraße 13 II vgl. Irene Fritsch: »Wo Clara Viebig in Berlin wohnte …« in Clara Viebig - Ein langes Leben für die Literatur, Zell/Mosel 2010, S. 125f

[2] Anm.: Berlin-Schöneberg, Belzigerstr. 48/52. Vgl. Pharus-Plan Berlin, Berlin 1902