Einführung in die Publizistikwissenschaft

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3 System- und Strukturtheorien

Systeme als theoretische Konstruktion

Hinter der Bezeichnung „Systemtheorie“ steht eine Vielzahl unterschiedlicher makrotheoretischer Ansätze, deren gemeinsames Ziel es ist, in zumeist abstrakter Form generalisierte Aussagen über die Gesellschaft insgesamt zu machen. Die Existenz von sozialen Systemen ist dabei selbst eine theoretische Abstraktion, die sich nicht direkt empirisch überprüfen lässt. Etwas als ein „System“ aufzufassen, bedeutet, sich einem gewählten Gegenstand mit bestimmten Begriffen und unter einem bestimmten Aspekt zu nähern. Welche sozialen Phänomene dabei als „System“ erfasst werden, ist weniger eine Frage der empirisch zugänglichen Realität, sondern hängt im Wesentlichen vom jeweiligen Erkenntniszweck ab. So liegen in der Literatur verschiedene Vorschläge für den Ausgangspunkt einer Systembildung in unserem Fach vor: die Massenkommunikation (vgl. Luhmann 1996), die Publizistik (vgl. Marcinkowski 1993), der Journalismus (vgl. Blöbaum 2004, Kohring 2004) sowie die Öffentlichkeit (vgl. Görke 2008). Im Folgenden kann daher lediglich auf einige Grundbegriffe der Systemtheorie und ihren Bezug auf kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen eingegangen werden (vgl. als Überblicksdarstellung auch Weber 2003b).

Systeme und ihre Elemente

Systeme bestehen aus Elementen, wobei diese je nach theoretischer Lesart aus Handlungen oder Kommunikation bestehen. Zum Beispiel können alle Handlungen, die der Produktion von Medienaussagen dienen, zu einem System der Medien gerechnet werden.

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System-Umwelt-Differenz

Einen zentralen Stellenwert nimmt in der Systemtheorie der Unterschied zwischen System und Umwelt ein. Alles, was nicht zum System gehört, wird als Umwelt des Systems bezeichnet. Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Erziehung–dies alles wären Systeme in der Umwelt des Systems öffentlicher Kommunikation. Anders formuliert: Erst durch die Existenz einer Umwelt wird das System zum System. Systeme konstituieren und erhalten sich durch Erzeugung und Erhaltung einer Differenz zur Umwelt (Grenzerhaltung = Systemerhaltung).

Kommunikation als Element sozialer Systeme

Das Komplizierte an Luhmanns Systemtheorie besteht darin, dass für ihn Kommunikation die kleinste Einheit und damit das Element sozialer Systeme bildet. Die Menschen aber, die kommunizieren, gehören nicht zum System, sondern zur Umwelt sozialer Systeme. Es ist die Kommunikation, die kommuniziert.

Leitdifferenz und binärer Code

Grundlage der Unterscheidung von System und Umwelt ist die sog. Leitdifferenz oder der binäre Code. Der binäre Code fixiert, unter Ausschluss weiterer Möglichkeiten, einen positiven und einen negativen Wert. Der positive Wert bezeichnet die im System gegebene Anschlussfähigkeit, das, womit das System etwas anfangen kann. Der binäre Code dient daher–als eine Art Leitdifferenz–der Selbstbestimmung des Systems. Mithilfe des binären Codes und entsprechender Programme als Entscheidungsregeln bestimmt das System, welche Operationen zum System gehören und welche in der Umwelt des Systems stattfinden. Dies wird als Selbstreferenzialität bezeichnet: Das System verweist immer auf sich selbst und verschliesst sich so operativ nach aussen. Die Leitdifferenz eines Systems Publizistik bzw. öffentliche Kommunikation ist beispielsweise die Unterscheidung von öffentlich und nicht öffentlich (vgl. Marcinkowski 1993: 149; Marcinkowski 2002): Öffentliche Kommunikation gehört zum System, nicht öffentliche Kommunikation zur Umwelt des Systems. Da jede Form öffentlicher Kommunikation sofort den Bedarf an neuer Kommunikation weckt (z. B. wenn eine Nachricht aufgegriffen und kommentiert wird), reproduziert sich das System der Publizistik fortlaufend selbst. Diese Reproduktion aus sich selbst heraus wird in der Systemtheorie als Autopoiesis bezeichnet.

Funktion

Jedes System erfüllt eine spezifische Funktion. Die Funktion der Massenmedien besteht nach Luhmann beispielsweise „im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems“ (Luhmann 1996: 173). Diese Funktion können Massenmedien erfüllen, weil sie „allen |154◄ ►155| Funktionssystemen eine gesellschaftsweit akzeptierte, auch den Individuen bekannte Gegenwart (garantieren), von der sie ausgehen können“ (Luhmann 1996: 176). Massenmedien dienen daher als Gedächtnis der Gesellschaft, das gesellschaftliche Kommunikation überhaupt erst ermöglicht.

4 Kritische Theorie

Theoriegerüst aus verschiedenen Disziplinen

Theorie der Kulturindustrie

Medienorganisationen als Sozialisationsinstanzen

Unter der Bezeichnung „Kritische Theorie“ oder „Frankfurter Schule“ versteht man ein von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründetes, stark sozialphilosophisch, soziologisch und psychoanalytisch ausgerichtetes Theoriegerüst, das Elemente des Idealismus, des Marxismus und der Freud’schen Psychoanalyse integriert und zu einer Kritischen Theorie kapitalistischer Gesellschaften verdichtet. Es ist der Versuch, eine selbstkritische und radikale Wissenschaft der Gesellschaft zu begründen und die gesellschaftlichen Widersprüche im Rahmen eines totalitären Spätkapitalismus in all ihren Aspekten zu analysieren. Die Bedeutung der Kritischen Theorie für die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft liegt nicht so sehr in der Kapitalismus- und Gesellschaftskritik, sondern vor allem in der Medien- und Kulturkritik. Die in der Mitte des letzten Jahrhunderts entstandenen Medien- und Kulturanalysen–insbesondere von Theodor W. Adorno–stehen in einem stringenten Zusammenhang mit der „Theorie der Kulturindustrie“, die wiederum in eine Kapitalismus- bzw. Gesellschaftstheorie eingebettet ist. Die zentrale Fragestellung lautet: Inwiefern trägt die Kulturindustrie als „sozialer Kitt“ (E. Fromm) dazu bei, dass die grundlegenden Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften nahezu ungebrochen fortbestehen (vgl. Gebur 2002: 403)? Im Rahmen der Kritischen Theorie werden die Medienorganisationen im Einzelnen und die Kulturindustrie als Ganzes als Vermittlungsagenturen gesellschaftlicher Tendenzen, konkret als Sozialisationsinstanzen spätkapitalistischer Gesellschaften, verstanden. Die Produktion, Distribution und Rezeption der Medien vollziehen sich im Zuge der kapitalistischen Verwertungslogik (vor allem Waren- und Mehrwertproduktion). Medienanalysen im Rahmen der Kritischen Theorie sind demnach in eine Medienkritik, in eine Kritik der Kulturindustrie und in eine Kapitalismus- bzw. Gesellschaftskritik eingebettet.

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Kritik als zentrales Element der Analyse

Ein ambitioniertes Ziel der Kritischen Theorie besteht darin, alle Aspekte der Medienorganisation, -produktion, -distribution und -rezeption unter Einschluss aller kulturindustriellen und kapitalistischen Elemente zusammenzubringen und gesamthaft zu thematisieren. Die so konzipierte Medien-, Kultur- und Kapitalismuskritik entsteht aus dem Widerspruch zwischen dem Oberflächlichen–der reinen Beobachtung–und dem Wesentlichen, das sich hinter der blossen Beschreibung versteckt hält. Sie entwickelt sich zur Formulierung gesellschaftlicher Alternativen entlang der Leitlinien Freiheit, Emanzipation, Humanität, Aufklärung und Gerechtigkeit. Neben der Dialektik zwischen Beschreibung und Wesen, zwischen Analyse und gesellschaftlicher Praxis, ergibt sich demnach eine weitere dialektische Spannung zwischen dem Möglichen und Wirklichen. Aus den verschiedenen Spannungsfeldern heraus entwickelt sich Kritik als zentrales Werkzeug und konstitutives Element der Kritischen Theorie zur Analyse von Medien, Kultur und Gesellschaft. Der Frankfurter Schule geht es darum, nicht nur die Widersprüche zwischen Gesellschaftsentwurf und den herrschenden Gesellschaftsstrukturen aufzudecken, sondern auch die Kluft zwischen Sein, Sollen und Können zu schliessen.

4.1 Historisch-kontextueller Bezug: Faschismus und Kapitalismus

Kritik an Faschismus und Monopolkapitalismus

Historisch gesehen, reflektierte die Frankfurter Schule–in erster Linie Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt und später auch im Exil in Nordamerika–gesellschaftlich erwünschte bzw. anerkannte, aber auch subjektive, ideelle Wertmassstäbe der 1930er- und 1940er-Jahre. Sie prangerte bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen an, nämlich: (1) neue Formen der gesellschaftlichen Kontrolle durch den aufkommenden Faschismus und Stalinismus; (2) den fortgeschrittenen Monopol- und Staatskapitalismus (Planwirtschaft, Profitmaximierung der Unternehmen); (3) die konformistischen und autoritären Neigungen einer immer stärker bürokratisch verwalteten Gesellschaft; (4) die Durchsetzung der technischen Rationalität (d. h. das Denken von Herrschaft über Menschen und Natur im Dienste der herrschenden Klasse); (5) die zunehmende Verdinglichung der Kultur, die sich in der Dominanz des Tauschprinzips|156◄ ►157| und des Warencharakters manifestiert; (6) die Beherrschung und Marginalisierung des Individuums; (7) das grundsätzlich destruktive Potenzial menschlicher Vernunft und menschlicher Aktivitäten.

4.2 Kulturindustrie: Massenbetrug statt Aufklärung

Die Frankfurter Schule rückte im Rahmen ihrer gesellschaftskritischen Theorie Medien, Kultur und Kapitalismus ins Zentrum und legte damit die Basis für eine kritische Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft. Adorno und Horkheimer als die prominentesten Vertreter der Kritischen Theorie verarbeiteten dabei nicht nur ihre konkreten historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen, sondern wurden im amerikanischen Exil auch Zeitzeugen der sich rasch entwickelnden kommerziellen Radio- und Filmindustrie.

Gesellschaftspolitisches Potenzial von Radio und Kino

 

Im Rahmen ihres Buches „Dialektik der Aufklärung“ (1969 [1947]) beschäftigten sich Adorno und Horkheimer in einem längeren Abschnitt kritisch mit dem Phänomen der Kulturindustrie. Dabei interessierte sie nicht so sehr die wachsende Popularität von Radio und Kino an sich, sondern vielmehr deren gesellschaftspolitisches Potenzial. Die beiden Soziologen analysierten die populären Produkte der Massen- und Medienkultur im Kontext kapitalistisch-industrieller Produktionsweise. Dabei behaupteten sie, die kulturellen Artefakte seien auf Massenhaftigkeit, Standardisierung, Trivialisierung und Konformismus ausgerichtet und würden auf den Warencharakter und den Tauschwert reduziert. Dabei seien die Kultur- und Medienindustrien für die Reproduktion der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme von zentraler Bedeutung: Einerseits diene die Massenkultur der Legitimation der herrschenden Gesellschaft, und andererseits ermögliche sie–allen gesellschaftlichen Widersprüchen zum Trotz–die nahtlose Integration der Individuen in die Gesellschaft.

Unmündigkeit versus Aufklärung

Für Adorno/Horkheimer repräsentiert die Kulturindustrie das Gegenteil von Aufklärung, Befreiung und Authentizität. In authentischen Kunstwerken spiegeln sich stets die Widersprüche und Probleme der herrschenden Gesellschaft. Echte Kunstwerke zeigen Originalität, Einzigartigkeit, Komplexität, Dissonanz und Negativität und stehen damit in einem spannungsgeladenen Verhältnis zur Gesellschaft bzw. zur dominanten Interpretation von Gesellschaft. Echte Kunst entideologisiert|157◄ ►158| und entmythologisiert, wirkt demnach aufklärerisch, humanisierend, kultivierend und emanzipatorisch.

Kulturindustrie als Anti-Aufklärung

Demgegenüber werden die Produkte der Kulturindustrie in allen Sparten (Sport, Medien und Freizeit) mehr oder minder planvoll hergestellt, sind auf den Konsum durch Massen zugeschnitten und strukturieren diesen Konsum in weitem Masse. Durch die Mittel der Technik und der Wirtschaft wird von der herrschenden Klasse die Integration ihrer Abnehmer intendiert und erreicht. Es kommt zum Massenbetrug durch die hintergründige ideologische wie finanzielle Ausbeutung und die vordergründige Anpassung. „Was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt, das unablässig Neue, das sie offeriert, bleibt die Umkleidung eines Immergleichen; überall verhüllt die Abwechslung ein Skelett, an dem so wenig sich änderte wie am Profitmotiv selber, seit es über Kultur die Vorherrschaft gewann“ (Adorno 1999 [1963]: 203).

Horkheimer und Adorno kritisieren die Auswirkungen der Kulturindustrie als Anti-Aufklärung. Die Kulturindustrie „verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wären die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich erhalten und entfalten kann“ (ebd.: 208).

Populärkultur als Betrug am Publikum

Aus dieser Perspektive entpuppt sich die Vergnügungs- und Freizeitindustrie als aggressiv, monolithisch, totalitär und manipulativ. Die Folgen werden kulturpessimistisch gedeutet: Die Massengesellschaft ist träge, passiv, apathisch, konformistisch, unkritisch, narkotisiert und demoralisiert. Mit dieser niederschmetternden Beurteilung beschränkt die Frankfurter Schule die subversive und emanzipatorische Wirkung auf Artefakte der Hochkultur und entlarvt die Populärkultur als umfassenden Betrug am unmündigen Publikum.

5 Politische Ökonomie

Kritik an neoklassischer Wirtschaftswissen- schaft

Politische Ökonomie verkörpert eine Denk- und Forschungsperspektive, deren Untersuchungsobjekte, Erkenntnisziele und Methoden sich sowohl auf der Ebene des theoretischen Diskurses als auch im Forschungsalltag stark unterscheiden können (vgl. Golding/Murdock 1997, Calabrese/Sparks 2004, Mosco 2009). Politische Ökonomie kann als eine Art Sammelbecken unorthodoxer Ansätze verstanden werden, die sich |158◄ ►159| theoretisch vor allem aus der Kritik an der traditionellen neoklassischen Wirtschaftswissenschaft und am doktrinären Marxismus sowie aus den konkreten und aktuellen Widersprüchen des jeweiligen Kapitalismus entwickelt haben. Allen Richtungen gemeinsam ist die Fokussierung auf Macht, Konflikte und den gesellschaftlichen Wandel (vgl. Meier 2003). Die Politische Ökonomie analysiert nicht nur die mehr oder weniger sichtbaren gesellschaftlichen Konflikte, sondern beschäftigt sich auch mit der ideologischen Rechtfertigung herrschender sozialer, institutioneller und gesamtgesellschaftlicher Machtverhältnisse.

Überwindung der traditionellen Wirtschaftswissenschaft

Die Politische Ökonomie betrachtet die Trennung von Wirtschaft und Politik als künstlich und akademisch. Sie kann als Gesellschaftswissenschaft aufgefasst werden, weil sie sich schwergewichtig mit Institutionen und Organisationsformen von Wirtschaft und Politik, den Wechselwirkungen von Staat und Markt sowie mit der Analyse historischer und aktueller Formen des Kapitalismus beschäftigt (vgl. Bürgin/ Maissen 1999). Politische Ökonomie beansprucht für sich, die Mängel der traditionellen Wirtschaftswissenschaft (u. a. Rechtfertigungslehre für die Unfehlbarkeit des Marktes, Enthistorisierung der ökonomischen Theorie und der ökonomischen Gesetze, Verschleierung von Macht und Herrschaft) zu überwinden. Gegenstand der Politischen Ökonomie sind die historisch unterscheidbaren gesellschaftlichen Produktions-, Verteilungs- und Steuerungsstrukturen, die kritisch im Hinblick auf eine gestaltbare Zukunft analysiert werden. Auch werden moralische und ethische Problemstellungen angegangen, d. h. Fragen nach Eigentum, Vielfalt, Zugang, Teilnahme etc. berücksichtigt (vgl. Golding/Murdock 2005). Dies hat zur Folge, dass auch die Politische Ökonomie–analog zur Kritischen Theorie–vielen Erscheinungsformen kapitalistischer Medienproduktion skeptisch gegenübersteht.

Marxistische Politische Ökonomie

Die Politische Ökonomie als wissenschaftliche Disziplin verfügt über eine lange Tradition. Die Marxistische Politische Ökonomie des Kapitalismus entstand in der kritischen Auseinandersetzung von Karl Marx und Friedrich Engels mit den Klassikern der Politischen Ökonomie. Im Industrie-Kapitalismus wird dabei das politische System in Abhängigkeit zur Herrschaft gesehen, die dadurch Kontrolle über die Produktionsmittel ausübt. Der Staat dient den Kapitaleigentümern als Instrument zur Unterdrückung und Ausbeutung der werktätigen, lohnabhängigen Arbeiterschaft. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor die Politische Ökonomie bzw. die Nationalökonomie im Zuge |159◄ ►160| der disziplinären Ausdifferenzierung der modernen Wirtschaftswissenschaften und der Fokussierung auf den Markt, auf die „reine Ökonomie“ an Bedeutung, während sie in Soziologie, Politik-, Publizistik-und Kommunikationswissenschaft als kritische Theorie und Methode aufgegriffen wurde.

Kritik an Machtstrukturen

Politische Ökonomie kritisiert bestimmte Macht- und Herrschaftsstrukturen aus einer Vielzahl theoretischer Perspektiven. Die Kritik ermöglicht die Selbstreflexion, die notwendig ist, um das Erkenntnisobjekt angemessen analysieren zu können. Kritik wird grundsätzlich als geeignete Methode betrachtet, um soziale Probleme aufzugreifen, zentrale Konflikte ganzheitlich zu thematisieren, empirische Evidenzen zu generieren und Theorien zu entwickeln. Zusätzlich werden gesellschaftliche Alternativen zu den herrschenden Machtstrukturen und Möglichkeiten zu deren Überwindung aufgezeigt. Dennoch muss auch Kritik als Methode als historisch, kontextuell, offen und überwindbar betrachtet werden. Weder Theorien noch Methoden der Politischen Ökonomie beanspruchen universelle Gültigkeit.

5.1 Politische Ökonomie von Kultur, Kommunikation und Medien

Analyse der institutionellen Zwänge

Das aktuelle Lehr- und Forschungsfeld der Politischen Ökonomie im Rahmen der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ist interdisziplinär und sozialwissenschaftlich geprägt, mit Verbindungen zur Kritischen Theorie und den Cultural Studies. Der Politischen Ökonomie kommt die Aufgabe zu, herauszuarbeiten, auf welche Weise kapitalistische und marktwirtschaftliche Produktionsverhältnisse die über Massenmedien vollzogene gesellschaftliche Kommunikation beeinflussen. Fokussiert werden dabei die wirtschaftlichen Strukturen der Produktions- und Eigentumsverhältnisse der Medien-, Kultur- und Telekommunikationsindustrie und deren Implikationen für Politik und Kultur. Im Speziellen konzentriert sich die Politische Ökonomie auf die Analyse der wirtschaftlichen und politischen, d. h. institutionellen Zwänge, denen öffentliche Kommunikation ausgesetzt ist. Gleichzeitig macht sie auf vielfältige Disparitäten im Zugang und in der Verteilung von kommunikativer Macht aufmerksam.

Private Güter versus öffentliche Ressourcen

Während die traditionelle Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sich auf Analysen von Medieninhalten und Rezeption konzentriert,|160◄ ►161| wendet sich die Politische Ökonomie den grundsätzlichen Spannungen und Konflikten zwischen institutionellen Erfordernissen von Medien, Kapitalismus und Demokratie sowie zwischen privaten Gütern und öffentlichen Ressourcen zu. Aufgezeigt wird, wie Produktion und Distribution von der Kapitallogik und vom Vermarktungsdruck geprägt werden. Profitmotive, hierarchische Kontrolle durch Eigentum und Managementbefugnisse sowie institutionelle Herrschaftsbeziehungen schaffen bestimmte Produktionszwänge, die nicht selten mit demokratischen Erfordernissen kollidieren.

5.2 Kritik am Propagandamodell als Ausgangspunkt für politökonomische Medienforschung

Machtfrage steht im Zentrum

Herman/ Chomsky: Propagandamodell

Der kanadische Kommunikationswissenschaftler Dallas Smythe plädierte vor gut 40 Jahren erstmals für eine „Politische Ökonomie der Kommunikation“. Dabei konzentrierte er sich auf die Analyse staatlicher Regulierungsbehörden, die er bei der Zuweisung und Aushandlung von politischer und wirtschaftlicher Macht innerhalb jeder Gesellschaft von zentraler Bedeutung hielt (vgl. Smythe 1960: 563). Noch deutlicher stellte sein Kollege, William H. Melody, in Analogie zur bekannten Formel von Harold Lasswell, die „Machtfrage“: „Who has freedom to speak to whom about what (…) by what media?“ (vgl. Melody 1978: 218). Zehn Jahre später versuchten Edward Herman und Noam Chomsky mit ihrem „Propagandamodell“ eine erste politökonomische Antwort darauf zu geben (Herman/Chomsky 1988, Herman 2002). Dieser strukturelle Erklärungsansatz journalistischer Normen und Verhaltensweisen steht in klarem Gegensatz zu den gängigen kommunikationswissenschaftlichen Analysen, die den Eigentumsverhältnissen, den Organisations- und Finanzstrukturen nur geringe Bedeutung beimessen. Als Strukturmerkmale des Propagandamodells gelten a) die Integration der führenden Medien in das kapitalistische System, b) ihr fast ausschliesslich profitorientiertes Geschäftsgebaren, c) die Eigentumsverhältnisse –Medien sind hauptsächlich im Besitz reicher Männer oder Unternehmen–sowie d) die indirekte Finanzierung über die werbungtreibende Wirtschaft. Dazu kommt e) eine wachsende Abhängigkeit der Medien von Regierung und grösseren Firmen als Informationsquellen und Werbeauftraggeber. Herman/Chomsky gehen einerseits von überlappenden|161◄ ►162| Interessen führender gesellschaftlicher Gruppierungen und andererseits von institutionell verankerten Strukturmerkmalen aus, die sich im Verbund als Filter auf die Selektion und Aufbereitung der durch Medien verbreiteten Nachrichten und Bilder auswirken. Die fünf Filter sind: die Eigentumsstrukturen der führenden Medien (1. Filter), die Finanzierung der Medien über Werbung (2. Filter), die Fokussierung der Medien auf etablierte organisierte Interessen (3. Filter), das Droh- und Machtpotential der zentralen Finanzierungs- und Informationsquellen (4. Filter) und der Antikommunismus–und neuerdings–Antiterrorismus als ideologische Disziplinierungsstrategie (5. Filter). Gemäss Herman liegt die Macht des amerikanischen Mediensystems in seiner Fähigkeit, einen Elite-Konsens herzustellen und durchzusetzen, den Schein eines demokratischen Konsens zu wahren und zu vermitteln, sowie ausreichend Konfusion, Missverständnisse und Apathie in der Bevölkerung zu schaffen, damit sich dieser konstruierte Elite-Konsens als einzig valable Referenz diskursiv etablieren kann. Als Folge der Herausbildung eines dominanten Diskurses im doppelten Sinne werde die unorganisierte Zivilgesellschaft durch die wirkungsvolle Propagandamaschinerie zur Untätigkeit erzogen. Der einzelne Bürger sei sich in der Regel kaum bewusst, was für ihn in einer konkreten Angelegenheit überhaupt auf dem Spiel stehe. Die Stärke der Argumentation von Herman/ Chomsky ist gleichzeitig auch deren Schwäche. Die Zuspitzung zu einer Interessenharmonie von mächtigen, global agierenden Industrie- und Medienkonzernen im Verbund mit Regierungen, Verwaltung, Arbeitgeberverbänden, konservativen Parteien und Expertenkommissionen, provoziert aufgrund ihres umfassenden Erklärungsanspruchs vielfältige Kritik (vgl. Klaehn 2002, 2003), die aber, als Differenzierungsmöglichkeiten verstanden, interessante Ansatzpunkte für aktuelle Forschungen liefert.

 

6 Cultural Studies

Integration kulturwissenschaftlicher Perspektiven

Auch wenn die sich als kritisch bezeichnenden Ansätze der Kritischen Theorie und der Politischen Ökonomie durch die zunehmende Entpolitisierung der Sozialwissenschaft bzw. die Dominanz einer vordergründig entideologisierten Systemtheorie einen schweren Stand haben, können in vielen publizistikwissenschaftlichen Darstellungen Elemente|162◄ ►163| der Cultural Studies (CS) identifiziert werden. Auf dem Wege zu einer zeitgemässen Gesellschafts-, Kultur- und Medientheorie scheint es folgerichtig, nicht nur eine auf den Kapitalismus ausgerichtete Politische Ökonomie der Medien zu forcieren, sondern auch kulturwissenschaftliche Perspektiven in die Gesellschafts- und Medienanalysen zu integrieren.

6.1 Cultural Studies als Kritik an der Kritischen Theorie und der Politischen Ökonomie

Primat der Kultur

Die Vertreter der Cultural Studies gehen vom Primat der Kultur aus und betrachten die Kulturindustrie als weit weniger totalitär und manipulativ als die Frankfurter Schule. Die CS wollen bewusst die unterschiedlichen Lebensbedingungen und sozialen Erfahrungen der Rezipienten mit populärkulturellen Texten in die Analyse einbeziehen. Die Vertreter der CS stehen zwar der populären Unterhaltungsindustrie eher distanziert gegenüber, fassen aber die Populärkultur als Ausdruck genuiner Lebenserfahrung im Alltag als eher wertfrei bzw. positiv auf. Medienkonsumenten werden nicht nur als passive Opfer, sondern gleichsam als „Täter“ verstanden, die sich ihrer Klassenlage bewusst sind und fallweise Widerstand gegen einen dominanten, meist konservativen Herrschaftsanspruch von wirtschaftlichen und politischen Eliten leisten können. Die Botschaft der Cultural Studies lautet: Die gesellschaftlich benachteiligten Arbeiter, Jugendlichen und Frauen lesen und verstehen die Medienbotschaften nicht nur im Sinne des herrschenden Systems, sondern auch aufgrund individueller Interessen und spezifischer gesellschaftlicher Rollen und sozialer Kontexte. Im Gegensatz zur Politischen Ökonomie steht nicht ausschliesslich die wirtschaftlich fokussierte Produktion im Vordergrund, sondern es geht vielmehr um die kulturelle Komponente bei der Produktion von Kulturgütern und bei der Reproduktion der Gesellschaft sowie um die Repräsentation und Bedeutungsgehalte kultureller Produkte (vgl. Göttlich 2003).

6.2 Genese und Kern der Cultural Studies

Kritisch-konstruktiver Umgang mit Medien

Die CS entstanden nicht im Umfeld der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, sondern im Rahmen der englischen Literaturwissenschaft in den 1960er-Jahren. Dabei waren die CS zu Beginn |163◄ ►164| keine ausschliesslich akademische Disziplin, sondern vielmehr ein politisches und pädagogisches Projekt, das von der Handlungsfähigkeit jeder Person ausging, auch und gerade wegen des Konsums von Populärkultur. Richard Hoggart, Raymond Williams und Edward P. Thompson, die Gründerväter der britischen CS, suchten einen kritischkonstruktiven Umgang mit alltäglicher Medien- und Freizeitkultur (vgl. Bromley u. a. 1999, Hörning/Winter 1999). Dazu hatten die CS, ähnlich wie die Kritische Theorie und die Politische Ökonomie, die disziplinären Grenzen zu überschreiten, indem sie Kulturanalyse, Kulturkritik, Politik und Sozialtheorie in einem transdisziplinären Projekt zusammenzubringen versuchten.

Centre for Contemporary Cultural Studies

CS als Disziplin der radikalen Kontextualisierung

Das Zentrum der britischen CS befand sich lange Zeit im 1964 in Birmingham gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS). Im Umfeld von Stuart Hall, der dem CCCS als Direktor vorstand, und auf der Basis unorthodoxer marxistischer Autoren wie Gramsci und Althusser bildete sich eine theoretische Richtung, die mit den Konzepten Hegemonie, Ideologie und Identität umschrieben werden kann. Mit der Rezeption dieses Ansatzes Mitte der 1980er-Jahre in den USA und–mit einer augenfälligen Verzögerung–in den 90er-Jahren auch im deutschsprachigen Raum, setzte sich dieses „intellektuelle Projekt“ (Grossberg 1999) in ganz unterschiedlichen akademischen Milieus durch. Antidisziplinarität wurde zu einer Art Leitlinie (vgl. Renger 2003: 164) dieser–auch in der deutschsprachigen Publizistikwissenschaft –bekanntesten Kulturtheorie. CS werden weder von einer bestimmten Disziplin, noch von einer bestimmten Methode oder Theorie dominiert, sondern fördern bewusst die „Disziplinlosigkeit“, indem sie keine Berührungsängste an der Schnittstelle zwischen kritischer Sozialforschung und Kulturwissenschaft zu kennen scheinen (vgl. Göttlich 2001: 15). Der Preis für diese Offenheit manifestiert sich auch in vagen Definitionen. Grossberg (1999) hat den Versuch unternommen, die für ihn zentralen Charakteristika von CS zu erfassen. Gemäss Grossberg können CS nur betrieben werden, wenn rigorose Ausbildung forciert, die intellektuelle Argumentation gefördert, die Analyse von empirischer Forschung nach bestimmten Regeln vollzogen, die Interdisziplinarität als kontradisziplinäre Logik vorangetrieben und die Selbstreflexivität als Form diskursiver Praxis gepflegt werden. Grossberg versteht CS als die Disziplin der radikalen Kontextualität, d. h. der Kontext ist alles und alles ist kontextuell. Für Grossberg sind |164◄ ►165| CS immer theoretisch und politisch, jedoch konsequent in einer kontextuellen Weise. Theorie ist dabei auf zwei Arten kontextspezifisch. Erstens ist Theorie immer eine intellektuelle Antwort auf spezifische Fragen und spezifische Kontexte. Zweitens werden CS niemals von einer einzigen Theorie überwältigt, sondern dienen als Instrument zur politischen Einmischung. CS können demnach als interventionistisch bezeichnet werden, weil sie versuchen, die besten verfügbaren intellektuellen Ressourcen zu verwenden, um zu vertieften Einsichten in Machtbeziehungen zu gelangen. In diesem Sinne sind CS immer auch politisch und parteiisch. Für Grossberg müssen CS daran interessiert sein, nachzuspüren, wie Macht in das Potenzial der Menschen eindringt, wie sie dieses beschneidet und sich der Menschen bemächtigt. Dabei sollen nicht nur die Machtstrukturen analysiert, sondern auch das eigene Widerstandspotenzial fokussiert werden.

Zentraler Begriff der Kultur

Zugespitzt können folgende Leitsätze formuliert werden 1. Alles ist Kultur. 2. Kultur findet immer in bestimmten Kontexten statt. 3. Kultur ist immer mit Macht verbunden bzw. in Machtbeziehungen verstrickt. 4. Kultur ist ein hybrides Phänomen, d. h. sie manifestiert sich als Institution mit Strukturen, Prozessen und Netzwerken. 5. Im Mittelpunkt steht die individuelle oder kollektive Erfahrung im Alltag. 6. Widerstand ist möglich. 7. Die Rolle des Forschers ist gleichzeitig sowohl eine intellektuelle als auch eine politische und praktische (vgl. Bennet 1998: 535 ff.).

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