DIE RESIDENZ IN DEN HIGHLANDS

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Erste Tropfen fallen, wenige zunächst, doch schon Augenblicke später nimmt die Intensität des Regens zu. Erst jetzt denke ich daran, dass ich die ganze Zeit über den Brief von Lady de Lily in der Hand halte, und bin einen Moment lang verwirrt, als ich das Schriftstück betrachte. Ich erwartete verlaufene Tinte und nasses Papier, doch die Regentropfen fallen einfach hindurch, so wie durch meine Hände und Arme, meinen gesamten Körper.

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, lacht Doktor Lazarus, »ich arbeite daran und schon bald können Sie sich wie alle anderen den Kopf am Eingang zur Bibliothek stoßen, wie es sich gehört.« Er deutet auf seine Brille. »Und dann brauchen wir auch die hier nicht mehr.« Erneut lacht er. »Aber jetzt kommen Sie erst mal rein, ich führe Sie ein wenig rum und zeige Ihnen Ihre Räumlichkeiten. Herzlich willkommen in der Residenz.«



Ansgar Sadeghi
Der griesgrämige Herr Butzemann

Dies sind die ersten Seiten des Tagebuchs von Bartholomäus Butzemann. Der ausrangierte Nachtmahr und zum Clown gewordene Kinderschreck ist neuer Bewohner der Residenz. Falls Sie einige Zeilen in seinem Tagebuch als Worte eines frustrierten Griesgrams empfinden: Sie haben wahrscheinlich recht.

Die Ankunft

Das ist also mein Ende, die letzte Lebensetappe: eine Residenz im Nichts. Das Nichts liegt im äußersten Nordwesten Schottlands am kleinen und einsamen Ort Shegra. Ich bin jetzt ein Bewohner der Residenz. »Das sei besser so«, meinte mein Manager nach meinem Nervenzusammenbruch. Ich hätte genug gearbeitet. Es sei Zeit für die Rente. Er habe nur Gutes im Sinn. Klar. Mein Geld zum Beispiel.

Die Residenz kommt mir vor wie ein überdimensionierter Schuhkarton, eine Aufbewahrungsbox für hässliche Nutzlosigkeiten, ein Restedepot für abgehalfterte Monster. Das Gebäude ist angemessen reich verziert. Schließlich ist diese Altersresidenz weltweit bekannt und beliebt. Für mich bleibt sie ein Schuhkarton. Vielleicht ist sie etwas besser als die Schulen und Kindergärten, in denen ich im Kreis herumgetanzt bin, weil ein Butzemann nun einmal im Kreis herumtanzt. EIN BUTZEMANN IST EIN KINDERSCHRECK! Keine Witzfigur. Kein Wunder, dass man irgendwann zusammenbricht.

Mein feiner Herr Bruder arbeitet erfolgreich als Horrordarsteller in den USA: der »Bogeyman«. Mein bescheuerter Bruder, der sich mit sechs Jahren noch eingenässt hat, der, blöde Grimassen schneidend, gegen den Laternenpfahl gelaufen ist und der sich vor Zwergkaninchen fürchtet. Mein toller Bruder. Ich mag ihn NICHT. Ich mag ihn wirklich nicht.

Doktor Lazarus habe ich bei meiner Ankunft in der Residenz nicht gesehen. Ist wohl zu beschäftigt, die berühmte Koryphäe. Polt Menschen und Monster um, verwandelt Bischöfe in Satanisten und Kannibalen in Veganer. Toll! Toll! Toll! Ausgerechnet er leitet die Residenz. Der soll versuchen, mich umzupolen, der Gute. Dann gibt es was auf die Mütze! Das schwöre ich. Persönlich begrüßt hat mich der Manager der Residenz, was mich gefreut hat (nicht!). Er war so freundlich wie ein Metzger, der ein Schwein willkommen heißt. Komm rein. Fühl dich wie zu Hause. Du siehst lecker aus, du Kotelett. Er hat gemerkt, dass ich mich unwohl fühle. »Sie gewöhnen sich schnell ein«, meinte er jovial. »In einigen Tagen werden Sie die Residenz lieben.« Klar. Ich liebe ja auch Jauchegruben. Und Fußpilz. Und Mundgeruch.

Es ist nicht schlimm in der Residenz. Es ist schlimmer.

Mittlerweile sind einige Tage vergangen. UND? ICH WILL RAUS! Alle sind schrecklich vornehm. Dieser Graf aus Rumänien beispielsweise, der wohltemperierte blutige Steaks liebt, diese Wind-, Wald- und Feuergeister, überzeugt von eigener Großartigkeit, dieser Basilisk, der sich für den König aller Schlangen hält. Gott! Das ist nicht meine Welt: zu viel Noblesse. Zu wenig Dreck. Matsch. Moder. Morast.

Alles hier ist kompliziert. Gestern hätte ich draußen fast eine Fee erschlagen, weil ich sie für eine Motte gehalten habe. »Das ist Pit«, sagte mir später ein alter Mann. PIT! Kann ich etwas dafür, dass diese Fee derart klein ist und wie eine Motte aussieht? Gegen sie bin selbst ich ein Riese. Und dann diese Tomaten. In einer Ecke des Geländes wachsen Tomaten in einem kleinen Gewächshaus und ich hätte fast … fast hätte ich eine gepflückt. Aber bevor ich zugreifen konnte, schrie sie mich an: Ich solle es nicht wagen. Ansonsten mache sie Ketchup aus mir. Sie sei eine berühmte Schauspielerin und verdiene Respekt. Klar! Ich habe nachgeschaut: C-Movie mit D-Promis. Killertomaten. Furchtbar. Alles sehr furchtbar. Und es regnet hier unaufhörlich, als wollte Gott den Ort ersäufen. Ich verstehe das, Gott. Aber bitte: Es nervt. Hör auf!

Bisher habe ich nur wenige Residenzbewohner kennengelernt. Da ist diese kleine Frau. Sie ist kleiner als ich. Nicht so klein wie die Elfenmotte. Aber sehr klein. Sie kam auf mich zu und erzählte mir ungefragt, als ob es mich interessieren würde, dass sie ein Holzfräulein sei. Oh, wie schön. Ein Holzfräulein. Was für ein bescheuerter Name. Dann fragte sie mich, ob ich sie sehe. Natürlich habe ich »Nein« gesagt. Da zuckte sie zusammen, schnitt ein Gesicht, als würde sie losheulen, und zog von dannen. Holzfräulein. Ernsthaft? Jemand erzählte mir, sie entstamme der fränkischen Sagenwelt und sei bisweilen traurig, weil niemand mehr an sie glaube. Ich solle einfach sagen, dass ich sie sehe. »Sie freut sich darüber.« Einen Teufel werde ich tun.

Franky ist interessant. Wie dieses Holzfräulein ist er verrückt. Merke: Monster im fortgeschrittenen Alter neigen dazu, absonderlich zu werden (Butzemänner ausgenommen!). Franky wohnt seit vielen Jahren in der Residenz und ist ein Frankenstein-Monster. Ich dachte, dass es nur eins gibt. Aber es wurden mehrere produziert. Franky gehört zur Serie 4.2.1. »Wir besitzen eine verbesserte Laufleistung und rudimentäre Schweißdrüsen«, sagte er mir. Ernsthaft. Wer braucht das? Welcher bescheuerte Produktdesigner verpasst einem Monster Schweißdrüsen?

Aber das Beste kommt noch: FRANKY GLAUBT, ER SEI EINE ELFE! Kann man sich das vorstellen? Zwei Meter zwanzig groß, ein wandelnder Schrank mit Kantenschädel. Aber er ist davon überzeugt, eine zarte, zierliche Elfe zu sein. Er hasst Spiegel. Verwundert das? Mich nicht. Er erschrickt jedes Mal, wenn er in einen Spiegel schaut. Was er sieht, passt nicht zu dem, was er sehen möchte. Verwundert das irgendwen? Na ja, er ist O. K. Und ein wandelnder Blog, der viel über die Bewohner der Residenz weiß: fast alle Wahrheiten, Halbwahrheiten, angeblichen Wahrheiten, Verschwörungstheorien, fast allen Klatsch und Tratsch und Trallala. Fast ALLES.

Dann ist da noch diese Todesfee, diese dünne, fast dürre Frau namens Elodie mit roten Haaren und blauen Strähnchen, ebenfalls eine langjährige Bewohnerin der Residenz. Hübsch. Intelligent, wie mir scheint. Sie wäre eine würdige Freundin eines Butzemanns. Aber sie ist fast einen Kopf größer als ich. Also … zwei Köpfe. Mindestens. Franky hat mir erzählt, dass sie es spürt, wenn irgendwer in ihrer Nähe bald stirbt, auch wenn sie selten genau weiß, wer es ist. Ihre Vorahnungen bereiten ihr großen physischen Schmerz. »Irgendwann schreit sie«, hat Franky gesagt, »so laut, dass etwas im Hirn derer zersplittert, die es hören.« Was soll ich nur davon halten? Ich glaube, ich hätte jetzt gern einen guten schottischen Whisky. Oder zwei. Es soll einen Pub in der Nähe geben.

Ein Spaziergang mit der Todesfee

Heute klarte der Himmel auf und ich ging spazieren. Bei besserem Wetter wirkt zumindest die Landschaft attraktiver. Sie besteht aus Hügeln, Weiden, einzelnen Bäumen. Ich wanderte bis zum See, der mir wie ein Relikt aus vormenschlicher Zeit vorkam. Auf dem Rückweg begegnete ich dieser Todesfee. Sehr seltsame Person. Wirklich.

»Du bist ein Butzemann?«, fragte sie mich.

»Bin ich«, antwortete ich stolz.

»Wie süß«, fuhr sie fort. »Aber dann bist du kein Monster, oder? Du bist ein Clown!«

Ha. Ha. Ha. Sie zwinkerte mir zu und genoss es, dass ich mich ärgerte. ICH HASSTE SIE. Ein bisschen.

»Immerhin bin ich kein Strich in der Landschaft, der Residenzen zusammenschreit«, antwortete ich mit herausragend gespielter Höflichkeit. Nun ärgerte sie sich. Ein wenig. Hat wohl nicht gedacht, dass ich weiß, was ich weiß. Es ist schön, die Schwächen Anderer zu kennen.

Verbal teilten wir aus und steckten ein, aber keiner von uns war lange beleidigt. Unsere Worte stachen wie Nadeln in Fleisch, aber stets so, dass der Schmerz etwas Süße behielt, eine fast masochistische Lust bediente, ohne nachhaltig zu verletzen. Diese Kunst beherrschten wir beide. Auf sonderbare Weise hatten wir unseren Spaß: bis zum Ende des Gesprächs. Da wurde Elodie ernst. Wir sprachen über Angst und Schmerz, der keine Lust bedient.

»Was weißt du von Schmerz?«, fragte sie. »Nichts weißt du! Der Schmerz Sterbender und Trauernder. DAS IST SCHMERZ.«

Was für eine Arroganz. Als ob ein Nachtmahr nichts von Schmerzen wüsste. Trotzdem hat mir ihre Nähe gutgetan: zumindest eine Weile lang. Wie wir uns ähneln: Auch sie genießt Gesellschaft nur in kleinen Dosen. Irgendwann hatten wir einander fürs Erste genug erzählt. Also ging sie hierhin und ich ging dorthin.

Kurz vor meiner Rückkehr in die Residenz begann es, zu nieseln. Ich sah das Holzfräulein auf einer Wiese. Sie tanzte zu einer Musik, die nur sie alleine hörte. Sie winkte mir zu. »Siehst du mich?«, fragte sie laut. Ich verneinte erneut. Aber dieses Mal schien es, als glaubte sie mir nicht. Sie lächelte. Wie zufrieden sie wirkte, wie glücklich, zumindest für den Augenblick. Regen. Unhörbare Musik. Ein Tanz. DAS ist Glück. In einer von Tausenden Varianten. Nur Narren sind dafür blind.

 

Ein Hoch auf Schottlands Whisky

Gestern Abend bin ich mit Franky in den Pub gegangen: Drunken Mermaid. Der Wirt heißt Conner Mackay und ist ein Bruder von Angus Mackay, des verehrten Managers der Residenz. Zufall? Niemals. Wahrscheinlich besetzen die Mackays zahlreiche Positionen in der Residenz und im Dorf. Jämmerliche Provinzfürsten. Hamish Mackay, ein Sohn des Managers, arbeitet bei uns als Pfleger. Der Lebensmittelshop im Ort gehört wahrscheinlich Roana Mackay und Colin Mackay schneidet den Dorfbewohnern die Haare. Davina Mackay leitet die Mehrheitspartei und Bonnie Mackay ist Bürgermeisterin, die von Ian Mackay bestochen wird, während Lennox Mackay die Opposition in den Abgrund führt. So ist das. Bestimmt!

Franky ist ziemlich abgedreht. Gestern hat er mir seine Schweißdrüsen gezeigt: mit fünfstufigem Geschwindigkeitsregler und Turboschalter. Das Beste: Der Schweiß duftet nach Rosenblatt und Minze. Er meinte, bei Frauen käme das sehr gut an. Das glaube ich sofort (nicht). Franky hat mich mit Gerüchten und Klatsch versorgt, während wir uns volllaufen ließen. In der Residenz soll ein Trakt für besonders schreckliche Monster existieren, den wir normalen (normalen!!!) Monster nicht betreten dürfen. Einige behaupten sogar, dass der Sensenmann dort lebt. Fakt ist: In der Residenz gibt es diverse verschlossene Türen, hinter denen sich – so glaube ich – mehr als einzelne Räume verbergen.

Was gab es noch? Man erzählt sich, dass der Doktor eine Affäre mit Lady Banshee hat, die hier angeblich viel Einfluss besitzt. Die Killertomaten sind angeblich mutierte Karotten, ein missglücktes Experiment des Doktors, über das er nicht gerne spricht. Der rumänische Graf ist (ebenfalls angeblich) laktoseintolerant. Und die schwarz gekleidete Violinistin namens Jill, die im Westtrakt der Residenz wohnt? Ihre Musik sei in der Lage, Löcher in die Wirklichkeit zu reißen. Löcher. Klar. Und der Butzetanz öffnet das Tor zur Hölle. Schwachsinn. Auf dem Rückweg vom Pub schaute ich fasziniert in den Himmel. Er war schön: so viele Sterne. Ich sah mehr Sterne als je zuvor, sank auf die Knie … und kotzte. Der gute Whisky. Alles raus. Merke: Butzemänner können sehr verschwenderisch sein. Und sehr romantisch!

Chaos im Gemeinschaftsraum

»Jemand wird sterben, hat Franky heute gesagt. »Bald schon. Elodie spürt es. Ihr Kopf zerplatzt. Ihre Muskeln bersten. Ihr Herz schlägt aus dem Takt.«

Was soll ich davon halten? Frankys Satz war am Abend der Abschluss einer hässlichen Szene im Aufenthaltsraum. Ich war noch draußen, als ich das Geschrei hörte. Franky und Elodie. Franky klang verzweifelt, Elodie wie ein kreischender Dämon. »Schau! Schau hinein«, schrie sie. Als ich den Raum betrat, sah ich folgende Szenerie. Franky saß auf einem Stuhl an einem Tisch und bedeckte seine Augen mit beiden Händen. Elodie stand vor ihm und hielt ihm einen Handspiegel vors Gesicht. »Du belügst dich. DU BELÜGST DICH!«, schrie sie ihn an. »DU BIST EIN IDIOT.«

Alle anderen im Raum schwiegen, während die Schwestern Lavinia und Moira versuchten, Elodie von Franky wegzuzerren. Aber Elodie entwand sich ihrem Griff, warf den Handspiegel auf den Tisch, drehte sich um hundertachtzig Grad und stapfte wutschnaubend aus dem Raum. Ich eilte zu Franky, dessen massiger Körper heftig zitterte. Nie habe ich ein derart verzweifeltes Wesen gesehen. Ich fand es abscheulich, was Elodie ihm angetan hat. Aber er nahm sie in Schutz. »Sie meint es nicht so«, sagte er. »Und eigentlich hat sie recht. Ich bin keine Elfe. Ich war nie eine, werde nie eine sein.«

Vielleicht war dem so. Vielleicht ist die Sache mit der Elfe wie eine Krücke, auf der Franky durch sein Leben stapft. Aber darf man jemandem eine Krücke entreißen, wenn man ihn nicht zugleich lehrt, ohne sie zu laufen? Und überhaupt: Ist nicht vielleicht doch jeder eine Elfe, der Elfe sein möchte? Ich war wütend auf Elodie. Aber ich mochte sie auch. Immer noch. Ganz am Ende sagte Franky diesen Satz, dass bald jemand sterben wird. Soll ich das ernst nehmen? Das ist doch Unfug. Oder?

Heute sah ich das Fräulein

Heute Morgen traf ich Franky wieder. Franky, die Elfe. Elodie hat sein Selbstverständnis nicht nachhaltig beschädigt. Ist das gut? Ich weiß es nicht. Mir geht Frankys Satz, dass bald jemand sterben wird, nicht mehr aus dem Schädel. Etwas hat sich verändert in der Residenz. Viele Bewohner fürchten sich, weil sie an Elodies Vorahnung glauben. Wer wird sterben? Niemand weiß es. Niemand mutmaßt. Auch ich bin nervös.

Am frühen Mittag begegnete ich im Flur erneut dem Holzfräulein. Ehe sie ihre Frage stellen konnte, rief ich: »Ja. Ich sehe dich!« Die Wirkung war bemerkenswert. »Oh«, sagte sie überrascht und errötete, »Wirklich?«

»Rede ich Chinesisch, oder was? ICH SEHE DICH!«, erwiderte ich.

»Oh«, wiederholte das Holzfräulein, lächelte verträumt und zog zufrieden von dannen. Erstaunlich, was Worte manchmal bewirken.

»Das hat ihr gut getan«, sagte der Hausmeister, der die Szene beobachtet hatte. »Du bist ein feiner Kerl. Manchmal. Vielleicht nicht sehr charmant. Aber trotzdem …«

Ein feiner Kerl. Nicht sehr charmant. Als ob ein Butzemann charmant sein müsste.

Der schrecklichste Tag meines Lebens

Man hätte meinen können, Elodies Schreie seien mir nach der Szene im Aufenthaltsraum vertraut gewesen. Aber dem war nicht so, nicht einmal annähernd. Der Schrei einer Todesfee ist schrecklich. Brutal. Vernichtend. Er übertrifft alles, was ich zuvor gehört habe. Der Kopf vibriert. Tausende Nadeln stechen ins Hirn. Man möchte sterben.

Es war später Morgen. Ich stand in der Empfangshalle, bereit für meine tägliche Wanderung. Da begann ihr Schreien. Ich sah, wie Elodie die Treppe hinunterhetzte, Stufen übersprang und fast stürzte. Sie erreichte den Fuß der Treppe, verfolgt von zwei Schwestern, von Pfleger Mackay und vom Hausmeister. Elodie hastete zum Ausgang, stieß dabei mit mir zusammen und fiel – ohne jede Eleganz – auf den Boden, wo der Hausmeister und eine Schwester sie festhielten.

Elodie wehrte sich heftig. Ihr Schreien verwandelte sich in Lachen, gemischt mit Kreischen und undefinierbaren Lauten. »Ein Vollpfosten! Ausgerechnet ein Vollpfosten hält einen auf«, schrie sie, lachte und lachte, schaute mich an und lachte immer weiter, bis sie in Ohnmacht fiel. »Vollpfosten.« Ich hätte beleidigt sein müssen, aber ich war es nicht. »Was weißt du schon von Schmerz?« Gerade jetzt erinnerte ich mich an unser Gespräch. Wahrscheinlich wusste ich nichts. Gar nichts. Elodie tat mir leid, als sie am Boden lag. Zugleich hatte ich Angst. Der Einzige war ich nicht. Das unerträgliche Schreien der Todesfee. Irgendwer wird sterben. Jetzt glaubte auch ich es.

Jemand starb

Das Holzfräulein ist tot. Ausgerechnet sie. Schwester Moira fand sie mittags in ihrem Zimmer. Das kleine Herz schlug nicht mehr. Vielleicht überforderte das Leben irgendwann so ein kleines Herz. »Sie lag auf ihrem Bett und lächelte«, erzählte man mir. Glücklich habe sie ausgesehen. Ich denke gerade an jenen Tag, an dem ich sie tanzen sah. Sie war ein liebes Geschöpf, manchmal anstrengend, bisweilen unglücklich, aber oft zufrieden, sichtbar auf dieser Welt zu sein, als Geschöpf unter Geschöpfen. Ich bin froh, ihr noch rechtzeitig gesagt zu haben, dass ich sie sehe.

Ich glaube, man kann einiges lernen von einem Holzfräulein, selbst ich alter Butzemann. Auch ein Monsterleben, das das der Menschen überdauert, ist schnell vorbei. Man sollte es mit schönen Momenten sprenkeln, den bestmöglichen ihrer Art. Man sollte versuchen, das Leben zu durchtanzen, selbst bei Regen, wir alle hier, selbst der alte Butzemann, der das hier gerade schreibt.

Am Ende wartet immer der Tod

Ein wolkenloser blauer Himmel. Der Himmel weint nicht, wenn jemand stirbt. Vielleicht weinen Hinterbliebene. Den Himmel interessieren die Toten nicht. Er kleidet sich in graue Wolken oder in Blau. Er spendet Wärme, Regen, Schnee oder Eis. Wie jeden Tag. Ein einzelner Tod ist belanglos für die Welt. Das Meer nagt weiter am Felsen, als sei nichts geschehen. Der Mond zieht seine Bahnen. Zurück bleibt Erinnerung und auch sie wird mit jenen vergehen, die später sterben.

Fast alle Einwohner der Residenz kamen, um das Holzfräulein zu beerdigen. Die Gemeinschaft der Unterschiedlichen nahm Abschied. Auch ich gehöre jetzt zu ihr. Elodie fehlte am Grab. Sie war zu schwach. Ich werde sie nachher besuchen. Ich mag sie und ich glaube, sie mag mich ebenso: den kleinen Herrn Butzemann, der einst Kinderschreck war. Und Clown. Was die Zukunft ergibt: Wer weiß das schon?

Die Residenz ist für mich heute viel mehr als der Schuhkarton, den ich anfangs gesehen habe. Wir alle sind die Residenz: Franky (die Elfe), Elodie mit den roten Haaren und den blauen Strähnchen, Doktor Lazarus und der Manager, die Lady und selbst der alte Graf, der blutige Steaks liebt und nie mein bester Freund sein wird. Wir alle leben hier das Leben, das uns bleibt. Wir alle leben es gemeinsam. Und es ist gut so, wie es ist.


Vincent Voss
Halber Mensch

Seine Königin in Gelb stand allein auf dem weit ins Land reichenden, englischen Rasen vor den blühenden Rhododendren, als es zu regnen begann. Sie klappte einen Schirm auf, der eigentlich als Schutz vor den Strahlen der heißen Junisonne dienen sollte, um jetzt ihr zitronengelbes Kleid und den gleichfarbigen Hut zu schützen, verweilte so einen Augenblick unter dem Schirm und verzog das Gesicht, was ihrem Antlitz in seinen Augen eher ein niedliches Schmollen, denn ein zorniges Grimmen verlieh, klappte den Schirm wieder zusammen und begann, im Regen zu tanzen. Sie breitete die Arme aus und hieß die dicken Tropfen auf ihrem Kleid und ihrem Körper willkommen.

Er war dreiundachtzig Jahre und lag auf der Mauer auf der Lauer, wie man es so schön sagte, und beobachtete die Bewohner der Residenz, die in einiger Entfernung seines Dorfes hier oben an der Steilküste des Loch na Lerig stand. In seine Königin in Gelb verliebte er sich spätestens an diesem Tag hoffnungslos und für immer. Sie war der Sinn seines Lebens. So viel stand fest.

Der Pub Drunken Mermaid zog an ihm vorbei, während die Kutsche sich die Anhöhe hinaufarbeitete. Das Holz ächzte, das Geschirr der Pferde klirrte, denn es war keine gewöhnliche Kutsche, sondern eine, die es ihren Gästen auf der womöglich letzten Fahrt so angenehm wie eben möglich machte. Die Wände strahlten in rotem Samt mit goldenen Mustern, es gab ein Fach, in dem der Champagner gekühlt wurde und ein weiteres, das edle Gaumenfreuden enthielt. Es gab federleichte Daunendecken, die für Wärme sorgten, denn die alten Herrschaften froren schnell. Die Residenz verließen die meisten Bewohner im Sarg, daher sollte ihnen die Anreise wenigstens Freude bereiten. Und er freute sich wirklich, ganz besonders auf seine Königin in Gelb, die er in all der Zeit, bis die Aufnahme endlich geregelt gewesen war, weiter beobachtet hatte. Und er glaubte, sie hatte seine Anwesenheit gespürt. Manches Mal hatte sie ihren Hals gereckt und in den Himmel geschaut, sich umgesehen und er hatte sich unter ihren Blicken in seinem Versteck noch kleiner zusammengerollt, als er es eh schon war, bis sie wieder ihrer Tätigkeit nachging. Meistens jedoch irgendwie trauriger und bedrückter als zuvor, wie es ihm schien. Das ließ sein altes, verliebtes Herz nur noch doller für seine Liebe pochen. Die Kutsche hielt, die Tür wurde geöffnet und er durfte aussteigen. Doktor Renato Lazarus, der Chefarzt der Residenz, erwartete ihn schon unter einem Regenschirm stehend draußen vor dem Tor des Gebäudes, eine Eigenart, die er bei jedem Neuankömmling pflegte, wie er später noch oft beobachten konnte.

»Herzlich willkommen in der Residenz, mein lieber Argyle Findlay. Haben Sie viel Gepäck mitgebracht?« Der Alte antwortete nicht, wandte sich aber auch nicht ab, sondern sah dem Chefarzt mit offenem Blick entgegen und trat selbstbewusst unter den Schirm des Arztes, um nicht nass zu werden. Er zückte stattdessen ein kleines in Leder gebundenes Büchlein hervor und notierte sich etwas mit einem Bleistift.

»Der redet nicht, der schreibt nur!«, schallte es vom Kutschbock herab, der Kutscher stieg ab, umrundete die Kutsche und stellte das Gepäck heraus. Doktor Lazarus nickte nur.

 

»Danke«, wandte er sich an den Kutscher und dann wieder an den alten Mann. »Dort steht Schwester Brianna, sie wird Sie in Ihr Zimmer bringen, und das ist Hausmeister Morgan, er wird so freundlich sein und Ihr Gepäck tragen.« Der Greis nickte beiden zu und lächelt. Brianna erwidert es, Morgan tippte sich mit dem Zeigefinger an den Schirm einer Mütze, die er nicht auf dem Kopf trug. Diese Geste in diesem Umfeld machte ihn für den Senior sofort sympathisch. Der Kutscher bemühte sich, wieder auf den Kutschbock zu steigen, um abzufahren, die Entourage war im Begriff, das altehrwürdige Gebäude zu betreten, als Argyle, wie er jetzt noch genannt wurde, seiner Königin gewahr wurde. Sie stand an einem Fenster im zweiten Geschoss hinter einer weißen, halb durchsichtigen Gardine und kaum, dass er den Blick hob, verschwand sie auch wieder aus seiner Sicht. Er hatte winken wollen, unterdrückte diesen Impuls aber sofort. Und er spürte selbst hier unten ihre Melancholie, die wie ein feines Gespinst auf ihn einwirkte.

»Das ist Kassandra«, sagte Doktor Lazarus, der diesen ersten Blickkontakt bemerkt hatte. »Sie hat allen Grund, traurig zu sein. Es ist besser, Sie halten sich von ihr fern.« Er sagte nichts und nickte dieses Mal auch nicht. Auf Geheiß des Chefarztes betraten sie die Residenz. So begann also sein erster Tag als Bewohner der Residenz.

»Sie möchten also Ihren Namen ändern, richtig?«, fragte Doktor Lazarus angesichts des schriftlich formulierten Wunschs des Alten, der vor ihm in seinem Büro saß. Draußen, so konnte man von hier aus zwei großen Fenstern mit Blick auf den See beobachten, rangen Regen und Sonnenschein um die Vorherrschaft des Tages und es sah wieder einmal so aus, als würde der Regen obsiegen. Der Greis legte sein Notizbuch auf dem Schreibtisch ab und nickte. Doktor Lazarus Blick haftete auf dem Buch. Ihm fiel auf, dass der Ledereinband eine Nuance heller war, als er ihn in Erinnerung hatte.

»Sie schreiben viel, oder?«

Nicken.

»Ist das schon Ihr zweites Buch?«

Nicken.

»Sie können sprechen, oder?«

Nicken.

»Aber Sie wollen nicht?«

Kopfschütteln.

Nicken.

Schwierig formuliert, dachte sich Doktor Lazarus.

»Ich rede nicht gerne, sondern beobachte lieber«, antwortete der Senior und überraschte damit Doktor Lazarus, der schon von einem traumatischen Erlebnis in der Vergangenheit des Mannes ausgegangen war, das diesem die Stimme geraubt hatte und seine Lust daran, sich der Welt mitzuteilen.

»Mhm«, antwortete Doktor Lazarus und schien enttäuscht von seinem neuen Patienten. Er war so … unspektakulär bisher. Seine ersten Elektroversuche und Hypnosen an und mit ihm zeigten nicht die Anzeichen einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung. Zwar gab sich der Alte oft so, als wäre er desorientiert, verwirrt, autoaggressiv, aber die tiefer gehenden Untersuchungen zeigten ihm jedes Mal eine ausgesprochene Reife und Klarheit bei diesem Bewohner. Doktor Lazarus griff nach einer Haselnuss in der marmornen Schüssel vor sich und öffnete sie mit dem Nussknacker, ohne dabei den Mann aus den Augen zu lassen. Dieser reagierte nicht auf sein Starren, saß ruhig und gelassen vor ihm. Er erinnerte Doktor Lazarus irgendwie an eine faule Nuss mit brüchiger Schale … »Nun gut, Sie können also reden, ziehen es aber vor, es nicht zu tun. Das ist nichts Ungewöhnliches. Ebenso wenig ungewöhnlich wie die ersten Testreihen, die wir hinter uns haben.« Er zog zwei Patientenbücher zu sich heran, schlug sie auf und überflog zur Sicherheit noch einige Ergebnisse, sah dann wieder zu dem Greis und faltete den Brief auseinander, den er von ihm bekommen hatte.

»Gesuch«, las er vor. »Hiermit bitte ich darum, wie viele der Insassen hier meinen Namen zu ändern. Zukünftig möchte ich nicht mehr mit Argyle, sondern mit dem Namen Aristophanes angesprochen werden. Aristophanes, ja?«

Nicken.

»Wie der griechische Diplomat?«

Kopfschütteln.

Doktor Lazarus hob eine Augenbraue. »Nicht?«

Erneutes Kopfschütteln. Der Alten nahm sein Buch zur Hand, schlug es auf und blätterte.

»Im Symposium von Platon lässt der Philosoph den fiktiven Komödiendichter über Eros und die Kugelmenschen reden. Ich bin der fleischgewordene Aristophanes, der von seiner Liebe getrennt wurde, nur eine Hälfte von etwas, und die andere ist unerreichbar.«

Nicken. Doktor Lazarus schrieb etwas auf.

»Ich werde Ihren Gesundheits- und Geisteszustand weiter beobachten und nur einschreiten, sollten sich Veränderungen ergeben. Ist das in Ordnung für Sie?«

Nicken.

»Gut. Dann verabschiede ich mich für heute, Sie können gehen.«

Der alte Mann ging und Doktor Lazarus nahm sich eine weitere Nuss. Mit dieser hatte er erhebliche Mühe, sie zu knacken.

In den kommenden Monaten lebte sich Aristophanes in das Residenzleben ein. Auf seine eigene Art, denn er verschmolz mit der Residenz, wurde zu einem Inventar oder Möbel, das niemand mehr bewusst wahrnahm. Obwohl er zu den gewöhnlichen Essenszeiten mit den anderen speiste, an Exkursionen ins Umland teilnahm und sich oft und viel außerhalb seines Zimmers bewegte. Es war auch nicht so, dass er Kontakte mied. Oder Gespräche. Aber er war derjenige, der zuhörte und notierte. Und nach dem Gespräch wieder in Vergessenheit geriet. Seine Unscheinbarkeit erlaubte ihm auch nachts unauffällig durch die Residenz zu streifen, was eigentlich verboten war, denn ab zweiundzwanzig Uhr galt die Bettruhe. Aber nur die wenigsten hielten sich daran, wie Aristophanes schnell feststellen konnte. Ebenso wie er entdeckte, dass die Nacht und vor allem der Mond auf viele der Bewohner einen besonderen Reiz ausübte, vor allem der Vollmond. Nachdem er aber ausfindig gemacht hatte, dass seine gelbe Königin einfach keine festen Gewohnheiten pflegte und nicht einzuordnen war, stellte er seine nächtlichen Streifzüge bis auf Weiteres ein. Sie waren ihm zu unheimlich und gefährlich. Es gab zum Beispiel den Butzemann, der ihm nicht geheuer war, oder die Lady Banshee de Lily, die angeblich vorwiegend nur wie ein Schatten durch die Residenz geisterte und sich von den geheimen Ängsten der Insassen ernähren sollte. Wie Mücken Blut tranken, so labte sie sich an den Albträumen und Ängsten der Mitbewohner. Aristophanes glaubte sie mehrmals gespürt zu haben, wie einen eiskalten Hauch, der einem in den Rücken wehte oder ein Huschen, das flugs im Zwielicht verschwand. Jetzt kannte er also die dunkelsten Winkel der Residenz und ihrer Bewohner und sei es nur vom Hörensagen, sodass er wusste, wer sich zum Beispiel Tag für Tag überwinden musste, in den Speisesaal zu kommen oder wer in der Nacht geschrien oder geweint hatte, ebenso wie er alle kannte, die glaubten, längst Verstorbene gesehen zu haben, aber er wusste nichts über seine Liebe. Nur den einen Satz von Doktor Lazarus an dem Tag seiner Ankunft gesprochen hatte. Ihren Namen, Kassandra und, dass sie allen Grund hatte, zu leiden und er sich von ihr fernhalten sollte. Ansonsten traf er sie nur zufällig und unter Menschen, nie hat er sie seither so privat und vertraut gesehen, wie damals, als er sich verliebt hatte und er sie beim Tanzen beobachten konnte. Und er konnte nicht unauffällig bleiben und rund um die Uhr ihre Zimmertür bewachen, obwohl sie im etwas ruhigeren Westflügel am Ende eines Ganges ein Zimmer bewohnte und zwischen ihrem und dem nächsten Zimmer ein Schwesternzimmer untergebracht war. Er wartete also oft in der Umgebung ihres Zimmers, am liebsten lungerte er an jener Kreuzung, wo der Korridor in ihren Trakt auf den Hauptgang des Westflügels führte. Hier stand an einer Wand ein runder Tisch mit Glasaufsatz, auf diesem waren wiederum immer frische Schnittblumen und links und rechts zwei gemütliche Stühle. Wenn nicht Kapitän Ahab dort saß und verdrießlich dreinschaute, wurde dieser Platz zu seinem Lieblingsort, aber Kassandra hatte er dennoch bisher nicht abpassen können. Der Herbst ging in den Winter über, der Winter wurde zum Frühling und mit der einsetzenden Schneeschmelze traf er endlich, endlich wieder auf sie. Ihm war klar, dass sie wahrscheinlich nicht ständig in gelbe Kleidung gewandet war, aber auch an diesem Tag trug sie ein goldgelbes Kleid sowie einen schwarzen Hut mit einem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte. Eine auffallende und ungewöhnliche Kombination, wie Aristophanes fand, ohne über Kenntnisse oder reichhaltige Erfahrungen über die Kleiderwahl der Frauen zu verfügen. Sie eilte an ihm vorbei in den Hauptgang, er erhob sich von seinem Sitz, hätte beinahe die Blumen umgestoßen (er fragte sich immer noch, wie es in der Residenz auch im Winter frische Schnittblumen geben konnte, aber das war nur eines von vielen Geheimnissen, die die Residenz betrafen und sich mittlerweile vor ihm auftürmten) und lief ihr nach. Dieses Mal blieb sie nicht stehen oder verharrte, weil sie ihn in irgendeiner Weise spürte. War sie etwa aufgeregt und dadurch abgelenkt? Wenn ja, warum? Er spürte den großen Drang in sich, sie zu beschützen und auch, wenn er den Drang aufgrund seines Alters irgendwie albern fand, er konnte ihn nicht unterdrücken. Seine Königin lief zum Haupteingang und anstatt durch das Tor zu gehen, verweilte sie kurz vor einem Fenster und spähte auf den Platz. Jetzt fiel ihm ein, dass sich dort heute in der Frühe alle Ausflügler treffen wollten, die eine Reise zur Küste unternehmen und über Nacht auch dort bleiben würden. Versprochen war, dass alle dort Muscheln sammeln, sie in einem Kübel voll Eis hierher bringen, damit es dann für alle in der Residenz Muschelsuppe geben konnte. So wie er das sah, war das zu einer gewachsenen Tradition geworden, da er den Namen Kassandra aber nicht auf der ausgehängten Liste gefunden hatte, schenkte er dem Ausflug selbst auch keine weitere Beachtung. Bis jetzt. Sie verharrte dort, ging einen Schritt zurück, einen wieder vor, als haderte sie mit einer Entscheidung. Dann fasst sie sich ein Herz und stürmte mit Elan aus der Tür hinaus auf den Vorplatz. Aristophanes lief zum Fenster und beobachtete. Er sah, wie Kassandra auf die Reisegesellschaft zuhielt, aber immer langsamer wurde und dann etwa fünf Meter vor dem Kern der Gruppe als Satellit stehen blieb. Nicht auffällig, denn auch die Kutscher und andere Insassen standen vereinzelt drum herum. Einige rauchten, alle genossen die Sonnenstrahlen, die hier so selten Wärme spendeten, wie Wasser in der Wüste auftauchte. Es sah aus, als würde Kassandra wie zwanghaft versuchen, niemanden von den Mitinsassen anzusehen, sie wandte den Blick zu Boden oder gen Himmel und beobachtete das Geschehen nur aus den Augenwinkeln. Er erschrak, als sie wie ein Rochen auf Beutejagd auf einen Mann zustürzte, der gerade aus der Gruppe hinaustrat, um sich eine Zigarette anzuzünden und gleichfalls erschrak, als Kassandra sein Gesicht in beide Hände nahm, ihn ansah und dann auf die Stirn küsste. Sie ließ ihn los, strich ihm mit der rechten Hand über seine linke Wange, eine Szene mit einer Zärtlichkeit, die sich für immer in Aristophanes Geist brennen und ihn fortan verfolgen würde. Sie wandte sich um und eilte genauso geschwind, wie sie gekommen war, wieder zurück. Er verbarg sich in der Ecke, kroch beinahe hinter die Gardine und warf einen Blick auf den Mann, dem diese außergewöhnliche Liebkosung zuteilgeworden war. Er hieß Paul, war alt, aber gut aussehend, mit noch relativ dunklen Haaren, die ihm stets etwas in die Stirn fielen und einer Jacke, deren Kragen er immer aufstellte. Paul malte. Oft verstörende Familienporträts mit Menschen ohne Gesichter und nachts hatte Aristophanes ihn auch schon einmal in seinem Zimmer schreien gehört. Paul sah Kassandra nach, andere Männer lachten, einer schlug ihm anerkennend auf die Schulter und Aristophanes konnte im Blick des Künstlers etwas Gefährliches lodern sehen. Auch dieser hatte sich in diesem Moment unsterblich in seine Königin in Gelb verliebt. Also musste Aristophanes Paul kennenlernen. Seinen Konkurrenten. Er musste mit auf den Ausflug.