Die Menschen verstehen: Grenzüberschreitende Kommunikation in Theorie und Praxis

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Mehr Sprachen heißt mehr Chancen
Ein Plädoyer für Nähesprachen

Hans-Jürgen Krumm

1 Bildungsnachteil Muttersprache?

Die Sprachwissenschaft liebt den Begriff Muttersprache nicht, denn bei der Sprache oder den Sprachen, in der bzw. in denen ein Kind sozialisiert wird, mit der / denen es in den ersten Lebensjahren aufwächst, kann es sich auch um die Vater- oder Omasprache handeln, oder aber um mehrere Familien- oder Herkunftssprachen. Manchmal ist Deutsch zur ersten Sprache der Kinder geworden oder aber steht gleichrangig neben den in der Familie gesprochenen Sprachen. Ich nenne alle diese Sprachen Nähesprachen, Sprachen also, die im Leben der Kinder eine wichtige Rolle spielen, in denen sie sich sicher und zuhause fühlen und die nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten. Dabei wird der Terminus „Nähesprache“ hier nicht im strengen Sinne von Koch und Österreicher (1986) benutzt: Kriterium ist die Vertrautheit, die Kinder in dieser Sprache empfinden. Da Muttersprache für viele ein Hochwertwort ist – signalisiert es doch die Bedeutung dieser ersten Sprache(n) des Menschen für die Identitätsentwicklung – benutze ich dieses Wort im Folgenden weiterhin in Singular und Plural im Sinne von „Familiensprache(n)“ bzw. „Nähesprache(n)“.

Mit der Muttersprache / Nähesprache – oder, wenn es mehrere sind, mit den Nähesprachen – entwickeln Kinder ihre eigene Persönlichkeit, ihr Selbst-Bewusstsein und ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Familie. Das gilt keineswegs nur für die personale und familiale Sozialisation, sondern ebenso für die sozio-kulturelle, ist es doch die Muttersprache bzw. sind es doch die Nähesprachen, mit der Kinder auch in die Gesellschaft, in erste Welt- und Wertvorstellungen – z.B. der Religion – hineinwachsen. Und schließlich prägt sie die kognitive Entwicklung, indem sie die ersten Wahrnehmungen der Welt bewusst macht, hilft, die Welt in Worte zu fassen.

Wenn wir akzeptieren, dass die Welt für Menschen erst durch Sprache(n) überhaupt als Welt fassbar wird – vom eigenen Namen über die Familie bis zur ersten Begrifflichkeit –, dann ist auch klar, dass die Muttersprache(n) oder die Mutter- und Vater-, die Oma- und Geschwistersprachen dabei die zentrale Arbeit leisten. Und gerade, weil diese Nähesprachen so untrennbar mit der Entwicklung der Persönlichkeit verbunden sind, bleiben ihre Prägungen auch dann erhalten, wenn sie nicht mehr das aktuelle Leben bestimmen. Sie sind Sicherheitsinsel, Anker in Situationen der Unsicherheit und Ungewissheit. In aller Regel wirkt die Bestätigung und Anerkennung der Muttersprache(n) positiv auf die Selbsteinschätzung, die Bildungsaspiration und die Familiensolidarität.

Eine zu frühe Unterbrechung der Sprachentwicklung in der Muttersprache, eine Bedrohung oder ein Verlust der Muttersprache, ehe eine relative Stabilität erreicht, d.h. zumindest eine erste Alphabetisierung erfolgt ist, kann Störungen in der Entwicklung der emotional-affektiven, der sozialen und der kognitiven Entwicklung der Persönlichkeit haben. Für eine große Zahl von Kindern aus Migrantenfamilien in unseren Schulen tritt eine solche Unterbrechung der Sprachentwicklung mit dem Eintritt in Kindergarten bzw. Schule ein. Ihre Muttersprachen werden nicht nur nicht weiterentwickelt, sondern oftmals abschätzig bewertet oder gar verboten.

Am Anfang des Bildungsweges von Kindern mit Migrationshintergrund steht oftmals nicht der Blick auf das, was sie aus ihrer Familie mitbringen, auf das, was sie können, sondern eine Defizitzuschreibung: „Du kannst ja kein Deutsch“. Dass diese Kinder stattdessen eine oder in der Regel zwei und mehr Sprachen beherrschen, nutzt ihnen in diesem Zusammenhang nichts. Und dafür gibt es vor allem zwei Gründe:

1 Die Ablehnung der Muttersprachen,weil unsere Gesellschaft sie als Indiz für „Integrationsverweigerung“ fehlinterpretiert,weil wir selbst diese Sprachen nicht beherrschen und verstehen und uns dieser Kontrollverlust beunruhigt; das gilt auch und gerade für Lehrkräfte,weil wir glauben, hier geborene Kinder der zweiten oder dritten Migrantengeneration hätten ohnehin keinen Kontakt mehr zu und keine Kenntnisse von ihren jeweiligen Herkunftssprachen, diese seien für die Kinder unwichtig und für schulische und berufliche Perspektiven hinderlich, und nicht zuletzt auch,weil wir die Illusion haben, eine frühe Deutschförderung im Kindergarten mache ein Nachdenken über Mehrsprachigkeit in der Schule überflüssig;

2 Kinder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch stellen unsere Vorstellungen von einem monolingualen Bildungswesen, in dem die einzig legitime die deutsche Sprache ist, in Frage (vgl. Gogolin 1994). Unser Bildungswesen präferiert die einsprachigen Kinder – ich bin versucht zu sagen –, weil sie, von der Schuleinschreibung, vom Kontakt mit den Eltern her und bis zur Kontrollierbarkeit dessen, was sie sagen, auch die „einfacheren“ Kinder sind.

Durch die Defizit-Zuschreibung werden Migrantenkinder von vornherein als ‚Versager‘ gekennzeichnet, ehe sie mit dem Lernen richtig angefangen haben: Hier liegt eine große Gefahr früher Sprachstandsdiagnosen, wenn in diesen nur die Deutschkenntnisse abgefragt werden und nicht auch die Nähesprachen, und Kinder dann als ‚sprachlos‘ und nicht schulreif markieren, obwohl diese durchaus sprachreif sind, wenn auch in anderen Sprachen. Kinder empfinden das als Abwertung ihrer Sprachen und ihrer selbst. In Österreich z.B. werden Kinder, die vor der Schuleinschreibung einen Deutschtest nicht bestehen, sogleich in separate, segregierte Deutschförderkurse abgeschoben, was die Kinder wie auch deren Eltern durchaus als Makel empfinden.

Eine der Reaktionen auf die Erfahrung, dass die Muttersprachen unterdrückt werden und durch die Zweitsprache in Gefahr geraten, ist die Abwehr von Mehrsprachigkeit und anderen Sprachen, Deutsch eingeschlossen, und der Rückzug in eine herkunftssprachliche Subkultur.

Oder aber es entsteht Konfliktzweisprachigkeit; Oksaar (2003: 163) spricht von sprachlicher Heimatlosigkeit: Die einsprachige Gesellschaft zwingt Migranten schon in der Kindheit, sich zu entscheiden und provoziert so die Frage, wo man hingehört, sei es im Rollenkonflikt zwischen der Rolle als Sohn oder Tochter einer anderssprachigen Familie und dem Wunsch, Mitglied der deutschsprachigen Peergroup zu sein, sei es auf Grund der Zuschreibungen, durch die man wegen das Namens, wegen des Aussehens oder wegen der Herkunft trotz aller Anstrengungen auf eine Existenz als Migrant fixiert bleibt.

Der Abbruch der Entwicklung der Erstsprachen, bevor diese voll entwickelt sind, die Abwertung der mitgebrachten Familiensprache(n) und die Vermittlung von Wissen in einer Sprache, die das Kind ja erst lernen soll, resultieren in verzögerter und reduzierter Entwicklung der Erstsprache (z.B. im Bereich Begriffsbildung), in einem schulischen Wissen, das außerhalb der Erstsprachenentwicklung bleibt, d.h. zwei Begriffssystemen und Sprachwelten, die unvermittelt nebeneinander stehen. Für die Betroffenen wird damit deutlich, dass die Erstsprache in Gefahr gerät, indem man z.B. neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse nur in der Zweitsprache ausdrücken kann, weil die Erstsprache sich in der neuen Lebenswelt nicht mitentwickelt, man also zu Hause gar nicht mehr von dem erzählen kann, was man außerhalb der Familie in einer ganz anderen Sprache erlebt und in der Schule gelernt hat, oder gar, im schlimmsten Fall, weil man erfährt, dass die Verwendung der Erstsprache unerwünscht oder gar verboten ist. Das aber behindert die Verarbeitung von neuen Erkenntnissen, die ja eigentlich, so funktioniert Lernen, in das schon vorhandene Wissen eingeordnet werden müssen.

Der Muttersprachliche Unterricht / Herkunftssprachenunterricht trägt auf Grund seiner jetzigen Konstruktion ein Stück weit zu dieser Abwertung und Marginalisierung der Muttersprache bei: So wie für die deutschsprachigen Kinder Deutsch, so ist für die anderen eben der Muttersprachliche Unterricht Muttersprachenunterricht: Genau genommen gebührt ihm der gleiche Stellenwert, der gleiche Stundenumfang, damit er zur stabilen Identitätsentwicklung beitragen kann, zumindest bis zum Abschluss der Alphabetisierung.

Das Bildungswesen aber marginalisiert ihn: Man muss sich extra anmelden, in Österreich ist er als unverbindliche Übung, also nicht verpflichtend, ohne gebührende Bewertung der Leistungen, mit geringen Stundenzahlen, oft außerhalb der schulischen Kernzeiten, und mit gleichfalls marginalisierten Lehrkräften organisiert – wer ihn besucht, so könnte man die Botschaft verstehen, ist ebenso randständig wie dieses Unterrichtsangebot.

2 Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachentwicklung von mehrsprachigen Kindern

Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprachentwicklung insgesamt, im Besonderen aber auch für einen erfolgreichen Erwerb der deutschen Sprache, sind immer noch nicht gegeben:

1 die Vermeidung von Defizit-Zuschreibungen schon bei Schuleintritt. In der Konsequenz bedeutet das, dass z.B. Sprachstands-Beobachtungen sich nie nur auf die deutsche Sprache beziehen dürfen, sondern immer die gesamte sprachliche Kompetenz der Kinder erfassen und ihnen also immer auch kommunikative Stärken und Fähigkeiten zugestanden werden;

2 die ebenso zentrale Anerkennung und Wertschätzung der Muttersprache(n) / Nähesprachen, z.B. dadurch, dass diese in der Schule sichtbar und hörbar gemacht werden. Es gibt inzwischen viele Schulen, die das mit großem Erfolg betreiben.

Wirksamer noch als die bloße Wertschätzung der Muttersprachen wäre eine zwei- oder auch dreisprachige Erziehung, die sowohl die mitgebrachten Sprachen festigt und fördert als auch die Sprache der neuen Lebenswelt entwickelt. Die Spracherwerbsforschung weiß seit langem, dass ein zweisprachiger oder mehrsprachiger Unterricht, der sich auf die Nähesprachen stützt, für die Entwicklung von Menschen mit anderen Erstsprachen sowohl im Hinblick auf eine stabile Persönlichkeitsentwicklung als auch im Hinblick auf einen erfolgreichen Erwerb der Zweitsprache wichtig und besonders positiv ist: „Zweisprachiger Unterricht, der sich auf die Muttersprache stützt, ist der Ausgangspunkt für langfristigen Erfolg, so hat es der Europarat formuliert (PACE 2006, Report 10837, Gogolin 1988, Oksaar 2003 & Duarte 2011).

 

3 Sprachenlernen unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit

Schule trennt die Sprachenangebote: Deutsch, Deutsch als Zweitsprache, Sprachförderkurse, Muttersprachlicher Unterricht und die Fremdsprachen – es gibt separate Fächer ebenso wie Lehrkräfte, die nicht immer voneinander wissen. Für das Sprachenlernen ist das nicht günstig, denn im Kopf der Kinder werden Sprachen nicht getrennt wie in einem Kasten mit verschiedenen Schubladen gespeichert, das Gehirn sieht keine verschiedenen Speicherorte für verschiedene Sprachen vor. Das Gehirn nutzt verschiedene Areale für unterschiedliche sprachliche Aktivitäten, nicht für verschiedene Sprachen.

Es ist der Vorteil mehrsprachiger Migrantenkinder, dass sie längst gelernt haben, mit Mehrsprachigkeit umzugehen. Mehrsprachige Kinder – das ist ihr großer Startvorteil – müssen ja früh lernen, Ordnung in ihrer Sprachenwelt zu schaffen: Mit welcher Sprache muss ich welche Person anreden? Wie funktionieren meine verschiedenen Sprachen? Mehrsprachige Kinder entwickeln deshalb sehr früh eine erhöhte Sprachwahrnehmung und Sprachenbewusstheit.

Ein kritischer Punkt in der Entwicklung mehrsprachiger Kinder ist die Leistungsbeurteilung: Das Bemühen von Schülern mit einer anderen Muttersprache um die deutsche Sprache kann leicht entmutigt werden, indem ausschließlich nach den Kriterien der Einsprachigkeit beurteilt wird. Verschiedenheit gleich zu behandeln, also mehrsprachige Kinder so wie einsprachige, ist nicht gerecht, sondern ungerecht. Bewertet man die sprachlichen Leistungen von Migrantenkindern nach den gleichen Maßstäben wie die diejenigen deutschsprachiger Kinder, so bleiben die meisten Migrantenkinder chancenlos – so sehr sie sich auch anstrengen, so große Lernfortschritte sie auch machen, sie werden gegenüber den meisten muttersprachlich deutschsprachigen Kindern durch die gesamte Schulzeit schlechter abschneiden, sie werden trotz Anstrengungen quasi bestraft und damit dauerhaft demotiviert. Insofern wäre hier eine doppelte Bewertung –einmal nach dem individuellen Lernfortschritt, zum andern durchaus auch gemessen an den Lehrplananforderungen – angebracht.

4 Mehrsprachigkeit als Grundlage für die Entwicklung der Bildungssprache Deutsch

Spätestens mit Klasse 3 und 4 tritt beim schulischen Lernen neben die Alltagssprache die Bildungssprache: Eine mehr an der Schriftsprache orientierte Ausdrucksweise, das Verstehen immer komplexerer Texte – bildungssprachliche Kompetenz setzt ein hohes Maß an Sprachenbewusstheit, an De-Kontextualisierung, an Übersetzungsfähigkeit aus der Alltagssprache voraus. Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit sind für den Erwerb der Bildungssprache eine sehr gute Grundlage, denn mehrsprachige Kinder bringen dafür wertvolle Erfahrungen mit: Das Laien-Dolmetschen zwischen den Sprachen in der Familie, die Erkenntnis, dass ein Tisch nicht ein Tisch ist, sondern dass Tisch lediglich die Benennung ist, dass der gleiche Gegenstand auch asztal (Ungarisch), cto (Serbisch) oder tavola (Italienisch) heißen kann, all das sind wichtige Schritte bei der bewussten Fokussierung auf die Trennung und den Zusammenhang von Inhalt und sprachlicher Form, wie er für die Bildungssprache und das Erschließen von Bedeutungen unumgänglich ist.

Abstrahieren, Vergleichen und Unterscheiden sind Fähigkeiten, ohne die Bildungssprache nicht funktioniert. Aus einem richtig angelegten Mehrsprachigkeitsunterricht bringen Kinder diese Fähigkeiten bereits ein Stück weit mit. Der personale Kommunikationsmodus wird abgelöst durch die „kognitiv-akademische Sprachfähigkeit“ (Cummins) – der Inhaltsaspekt, die Sache, das Fach tritt in den Vordergrund. Mehrsprachigen Kindern fällt dieser Sprachwechsel von der Alltags- in die Bildungssprache vielfach leichter, haben sie doch bereits Erfahrungen mit Sprachwechseln.

Derzeit herrscht ein zu kurzsichtiger Blick auf Sprachförderung: Der Glaube, wenn man Migrantenkinder vor Schulbeginn sprachlich fördere, dann sei alles erledigt, ist falsch. Die Bildungssprache entwickelt sich erst mit dem zunehmend fachlichen Lernen – Förderung vor Beginn der Schulzeit macht eine Förderung in der Schule nicht entbehrlich – Spracherwerb ist eine langfristige Angelegenheit – und die bildungssprachlichen Anforderungen treten ja vor allem ab Klasse 3 und 4 auf.

Mehrsprachige Kinder entwickeln bereits eigene Strategien im Umgang mit ihren vielen Sprachen, sie versuchen selbst, Ordnung in die Sprachen zu bringen. Das beginnt mit einfachen Einsichten, welche Sprache oder welche Sprachvarietät sie mit wem sprechen: Mit Mutter und Vater eventuell andere als mit Oma und Opa, andere wiederum mit den Peers und mit ihren Lehrerinnen und Lehrern. Da sich auch bei mehrsprachigen Kindern das Vergleichen von Sprachen gar nicht verhindern lässt, entwickeln sich bald auch weitergehende Einsichten in das unterschiedliche Funktionieren verschiedener Sprachen. Der Junge zum Beispiel, von dem die Frage stammt „Wieso die Tür, das Fenster – beides ist Loch in Wand?“, hatte versucht, sich die Genus-Regeln von der Bedeutung her zu ordnen, stößt damit aber an Grenzen. Genau hier brauchen Kinder Hilfe: Wie passt die neue Sprache in die schon vorhandene Sprachenwelt hinein, was unterscheidet sich und was ist gemeinsam? Wie kann ich sprachliche Fähigkeiten, die ich im Deutsch- oder im Muttersprachenunterricht oder auch im Fremdsprachenunterricht erwerbe, für die Lösung sprachlicher Aufgaben in allen anderen Unterrichtsfächern nutzen? Nur wenn Sprachen koordiniert erworben werden können, haben Kinder, die in zwei oder mehr Sprachen leben, Vorteile davon. Es geht um Gleichwertigkeit – deshalb sollte der sogenannte Muttersprachliche Unterricht eigentlich so wie der Deutschunterricht einfach sprachlich benannt werden: Türkischunterricht, Ungarischunterricht usw. Und es geht um die stärkere Integration dieser getrennten Fächer – etwa im Sinne eines Flächenfachs oder eines Gesamtsprachencurriculums.

Optimal wäre eine durchgängige mehrsprachige Erziehung. Dass eine solche möglich ist, zeigt das österreichische Bundesland Niederösterreich:

Seit gut 15 Jahren gibt es die niederösterreichische Sprachoffensive mit den niederösterreichischen Nachbarsprachen Tschechisch, Slowakisch und Ungarisch, so als hätte Albert Raasch Pate gestanden: Mehr als 15.000 Kinder in über 100 niederösterreichischen Kindergärten nahmen und nehmen daran teil; bisher ca. 35.000 Schülerinnen und Schüler sind es an den beteiligten 133 Schulen. Es ist schwer zu verstehen, weshalb dieses gut funktionierende Modell nicht längst in allen österreichischen und auch in deutschen Bundesländern Schule gemacht hat – und zwar in der Fläche, nicht bloß im Schulversuch. Bildungsgerechtigkeit, der Zugang zur Mehrsprachigkeit darf ja eigentlich nicht vom Wohnort abhängen.

Der Vorteil mehrsprachiger Angebote im Gegensatz zum jetzigen Konzept des Muttersprachlichen Unterrichts ist, dass davon alle Kinder profitieren, nicht nur die Migrantenkinder: Es ist nach meiner festen Überzeugung die Aufgabe der Schule, alle Kinder zu einem Leben in einer mehrsprachigen Welt unter den Bedingungen der sprachlichen und kulturellen Vielfalt zu befähigen. Das bedeutet,

1 dass mehrsprachige Kinder nicht einsprachig gemacht werden dürfen,

jedoch auch,

1 den einsprachigen Kindern diese Mehrsprachigkeit von Anfang an nicht vorzuenthalten und sie nicht auf Deutsch und Englisch zu beschränken.

Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, den Muttersprachlichen Unterricht zu einem Angebot für alle Kinder unabhängig von der Herkunft zu öffnen, wie das viele Schulen schon tun – die Lehrpläne sind vorhanden, die Lehrkräfte auch.

Beispielhaft verweise ich auf die Sprachen-Volksschule in Wiener Neustadt: Sie beginnt in Klasse 1 mit drei Sprachen: Deutsch, Englisch und – je nach Familiensprache eines Teils der Schüler – Ungarisch oder Türkisch; d.h. hier hat jedes der Kinder seine Nähesprache als Sicherheitssprache; mit Englisch gibt es sodann eine Sprache, in der alle Kinder unabhängig von der Familiensprache gemeinsam als Nullanfänger beginnen, und es gibt jeweils eine Peer-Sprache, auf die man neugierig werden kann, weil ein Teil der Kinder sie schon mitbringt, Deutsch im einen, Türkisch oder Ungarisch im anderen Fall. Das wird in der Schule dann zu einer neuen Nähe-Sprache.

Ein solches Konzept hat natürlich Voraussetzungen: Zusammenarbeit mit Eltern, Team Teaching, Zusammensetzung des Lehrerkräfteteams und viel Fortbildung. Aber das sind realistische Voraussetzungen.

5 Das Curriuclum Mehrsprachigkeit als Weg zu einer mehrsprachigen Schule

Mit dem Curriculum Mehrsprachigkeit haben mein inzwischen leider verstorbener Kollege Hans Reich und ich versucht, ein solches integriertes schulisches Angebot für diese möglich zu machen. Wir haben dieses Curriculum 2010 / 2011 für die Schulstufen 1-12 im Auftrag des österreichischen Unterrichtsministeriums entwickelt: Es zielt auf die schulische Unterstützung sprachlicher Bewusstwerdungsprozesse. Es expliziert und differenziert den Begriff der Sprachenbewusstheit als Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler,

sich in der heutigen Welt sprachlicher Vielfalt zu orientieren, sich selbstbestimmt und zielbewusst neue sprachliche Qualifikationen anzueignen und sich in vielsprachigen Situationen kompetent zu bewegen. (Krumm & Reich 2011: 2; vgl. auch Reich & Krumm 2013).

Das Curriculum versucht, Bezüge zwischen dem Muttersprachlichen Unterricht, dem Deutsch- und dem Deutsch als Zweitsprache-Unterricht, aber auch der ersten Fremdsprache und – zumindest exemplarisch – zu den sogenannten Sachfächern herzustellen.

Gegliedert ist das Curriculum jeweils in drei – bzw. ab der Sekundarstufe – in vier Bildungsbereiche:

1 Wahrnehmung und Bewältigung vielsprachiger Situationen

2 Wissen über Sprachen ab Sekundarstufe 2: Vergleichen von Sprachen

3 Erarbeiten sozialer und kultureller Bezüge von Sprachen

4 Sprachlernstrategien

Die kognitiven, bildungssprachlichen Aspekte kommen in konzentrierter Weise in dem Bereich des Erwerbs von Wissen über Sprachen bzw. des Vergleichens von Sprachen zum Tragen. Es geht um die Kompetenz, sprachliche Elemente, Strukturen und Regeln in mehreren Sprachen und eben auch in den Fächern des schulischen Unterrichts zu beschreiben und in Beziehung zueinander zu setzen.

Es geht darum, die Sprachwahrnehmung der Kinder zu unterstützen, die unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen Laut und Buchstabe mit den jeweiligen Sprachen in Verbindung zu bringen und erste Begriffe dafür zu etablieren, d.h. es geht hier um eine gezielte Entwicklung der Bildungssprache Deutsch – allerdings unter bewusster Einbeziehung und Nutzung der in der Klasse vorhandenen Nähesprachen: Mehrsprachig, sprachenübergreifend ist es leichter, das Unterscheiden und Vergleichen zu lernen als einsprachig.

Ab Klassenstufe 3 nimmt der Mehrsprachigkeitsunterricht systematischeren Charakter an: Er vermittelt Strategien des Sprachenlernens, Begriffe und Fähigkeiten der vergleichenden Sprachanalyse und Kenntnisse zur Sprachenvielfalt auch außerhalb der unmittelbaren Erfahrungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler. Das Entdecken von sprachlichen Regularitäten, die Einsicht in die Funktion von Sprache wird in längeren Unterrichtssequenzen erarbeitet. Die Aneignung des Registers Bildungssprache wird damit als eine eigene Sprachlernaufgabe anerkannt, und zwar nicht nur als Bildungsaufgabe für den Deutschunterricht, sondern auch für den Sachunterricht.

 

Zur Bewältigung dieser Aufgabe kann das Curriculum Mehrsprachigkeit grundlegende Lernfähigkeiten vermitteln. Dazu gehört auf dieser Schulstufe die Arbeit mit dem Sprachenportfolio, die Entwicklung zwei- oder dreisprachiger Wortkarteien und die Einführung in die Benutzung zweisprachiger Wörterbücher, lauter auf Sprachenbewusstheit zielende Verfahren. Dazu bietet das Curriculum Themen und Materialien an und macht die Bezüge zu den vorhandenen Sprach- und Fachlehrplänen deutlich.

In Südtirol wurde das Curriculum Mehrsprachigkeit für die dortige Schulsituation adaptiert und erweitert und wird genutzt, um die Grenzen zwischen Sprachen und Sprachgruppen zu überwinden (vgl. Schwienbacher u.a. 2017).

Durch Förderung der Mehrsprachigkeit kann die grenznahe Region eines Landes zusammen mit einer Nachbarregion jenseits der Grenze eine neue, grenzüberschreitende Identität bilden (Raasch 2004: 3).

Was Albert Raasch hier für Grenzregionen formuliert hat, ist vielleicht auch eine Perspektive für das Bildungswesen: Mit Mehrsprachigkeit beizutragen zu der Überwindung von Sprachgrenzen und zum Entstehen mehrsprachiger Identitäten in der Migrationsgesellschaft.