Deutschland trauert

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43 Dazu finden sich sehr unterschiedliche Positionen in den Beiträgen des Buches Liturgische Normen. Begründungen, Anfragen, Perspektiven, hg. v. M. Stuflesser – T. Weyler, Regensburg 2018 (Theologie der Liturgie 14).

44 Dazu demnächst die Erfurter Dissertation von Brigitte Benz.

45 Tote begraben (wie Anm. 8), 47.

46 Tote begraben (wie Anm. 8), 58. Zur Markierung der Person im Ritus wird das Kürzel „L“ verwendet, das wohl für Leiter/Leiterin stehen soll. Damit übernimmt die Kirche hier eine prominentere Rolle, als sie sich selbst im Text zugesteht.

47 Vgl. Tote begraben (wie Anm. 8), 58.

48 Es werden nur Aussagen für die katholische Kirche gemacht. In der Praxis sind evangelische und katholische Kirche leitend tätig und verantwortlich.

49 Tote begraben (wie Anm. 8), 58.

50 Tote begraben (wie Anm. 8), 48.

51 Tote begraben (wie Anm. 8), 48.

52 Tote begraben (wie Anm. 8), 47.

53 Tote begraben (wie Anm. 8), 48.

54 Neben der Begräbnisliturgie gilt das u. a. für die Feier der Trauung und für die Feier der Taufe.

55 Vgl. Leitlinien (wie Anm. 9), 40.

56 Leitlinien (wie Anm. 9), 41.

57 Vgl. dazu überzeugend St. Winter, „Bloß nicht aus dem Rahmen fallen …“ (wie Anm. 2), 189.

58 Leitlinien (wie Anm. 9), 61.

59 Alle Angaben und Zitate zum Gebet der UN nach: http://www.liturgie.de/liturgie/index.php?bereich=publikationen&datei=pub/oP/Frieden/UnoInfo [28.12.2018].

60 Vgl. F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 2.Teilband (Lk 9,51–14,35), Zürich - Düsseldorf 1996 (EKK III/2), 82.

61 F. Bovon, Evangelium nach Lukas (wie Anm. 60), 90.

62 F. Bovon, Evangelium nach Lukas (wie Anm. 60), 82.

63 F. Bovon, Evangelium nach Lukas (wie Anm. 60), 90.

64 F. Bovon, Evangelium nach Lukas (wie Anm. 60), 92.

65 F. Bovon, Evangelium nach Lukas (wie Anm. 60), 98.

66 F. Bovon, Evangelium nach Lukas (wie Anm. 60), 82.

67 Der Begriff geht zurück auf P. M. Zulehner, Ritendiakonie, in: Die diakonale Dimension der Liturgie, hg. v. B. Kranemann – Th. Sternberg – W. Zahner, Freiburg/Br. u. a. 2006 (QD 218), 271–283.

68 L. Friedrichs, Kasualpraxis (wie Anm. 10), 220.

Trauern – Erinnern – Mahnen.Zum Umgang mit einer Katastrophe an betroffenen Einrichtungen

Kollektive Trauer und ihre Rolle im Aufarbeitungsprozess einer Schule

Christiane Alt

Wenig mehr als 9 Minuten währte der Mordfeldzug des Täters, der sechzehn Menschen das Leben kostete, über 500 Schüler und 50 Lehrer/innen, Schulangestellte und Mitarbeiter einschließlich ihrer Angehörigen und Familien zu Opfern und Betroffenen werden ließ.

Dem steht ein jahrelanges Ringen der Gemeinschaft um Verarbeitung und Rehabilitation gegenüber.

Anders als bei Unglücken, bei denen Menschen zufällig zu einer Schicksalsgemeinschaft werden, zurückkehren in bekannte Strukturen, die Stabilität bieten können, wird in diesem Fall ein bestehender Organismus in seiner Gesamtheit verletzt und zahlreichen Einflüssen unterworfen, die mitunter eine Eigendynamik entwickeln und somit Gesundung schwerfallen lassen.

Am späten Nachmittag des 26. April 2002, nachdem das Gebäude evakuiert war, die Rettungs- und Erstbetreuungsmaßnahmen eingeleitet – eine ganze Stadt in Sprachlosigkeit verharrte, die Meute der Berichterstatter von Gebäude und einzelnen Betroffenen zunehmend Besitz ergriff, offenbarte sich der erste große Verlust einer Notwendigkeit, um Trauer zulassen zu können: Der Verlust der Struktur, der Verlust des Bekannten!

Das Schulgebäude war Tatort, Ermittlungsstandort, Medienobjekt und Pilgerstätte und vor ihm wuchs das Meer an Blumen und Trauergaben.

Die Schulgemeinde hatte ihr Zuhause verloren.

Hier begann die Akutphase, die alle Verantwortlichen herausforderte, denn entgegen auch anderen Vorstellungen galt es jetzt, die Gemeinschaft zusammenzuhalten, Trauerbegleitung professionell anzubieten und Raum dafür zu geben.

Wir fanden im Erfurter Rathaus diesen Raum für eine Woche, da der damalige Oberbürgermeister spontan und unkonventionell die artikulierten Bedürfnisse der Schulangehörigen aufnahm.

Mit mehr als 50 Traumatherapeuten und Psychologen aus ganz Deutschland, 80 Lehrkräften, die sich bereiterklärten, Schüler/innen eine Art Alltag zu geben, Seelsorgern und Helfern wurde Alltag simuliert, der keiner war – dennoch war die Ahnung des Bekannten – morgens in die „Schule“ zu gehen, vertraute Menschen zu treffen und Gesprächspartner zu haben, unverzichtbar für das Trauern des Einzelnen in und mit der Gemeinschaft.

Im Angesicht des erlittenen Verlustes artikulierte sich Trauer auch durch Wut- und Trotzreaktionen. Die Schüler/innen, die nur wenige Tage vor dem Abitur standen, manifestierten ihren Willen jetzt weiterzumachen – die gesamte Schülerschaft, unterstützt durch die Eltern und Lehrer, stellte der Tat den starken Willen zur Rückkehr in die Realität entgegen; den Weg vom Opfer zum Agierenden.

Ein Interimsgebäude wurde in einem atemberaubenden Zusammenspiel von Behörden, Institutionen und freiwilligen Helfern in dieser einen Woche zum funktionsfähigen Schulbau vorbereitet. Damit war die Hülle für die 2. Phase des Trauer- und Aufarbeitungsprozesses gegeben.

Schulische Abläufe mussten mit dem psychologischen Betreuungskonzept kompatibel werden. Traumabewältigung und Fortsetzung der Schullaufbahnen galt es zu koordinieren.

Hier zeigte sich, dass kollektive Trauer nur dann zur Progression gelangen kann, wenn Transparenz, Kommunikation und Partizipation die Leitlinien des Handelns aller Beteiligten, besonders der Verantwortungsträger, darstellen.

Im Mittelpunkt der inhaltlichen Arbeit steht das Gespräch. Runde Tische, Arbeitsgruppen, Workshops, Schulzeitung und Arbeit an Projekten, die sich aus der entstandenen Situation ableiten ließen, wurden unerlässliche Instrumente, um Trauerrituale, Formen des Gedenkens an die Opfer, Umbau des ehemaligen Schulstandortes und die Annahme des Geschehens in den Alltag „dieser Schule“ konsensfähig zu entwickeln.

Drei Jahre währte diese Phase im Interimsobjekt, da die Schule – ein Denkmal, gebaut 1908 – unter Berücksichtigung des Ereignisses umfangreich umgebaut wurde. Ziel war, Vertrautes zu bewahren, dem Haus seine Ursprünglichkeit nicht zu nehmen; da zu verfremden, wo dem, der zurückkehren will und kann, keine neuen Verletzungen widerfahren, und Bedingungen entstehen zu lassen, die die Schule von heute braucht, um einen Lernort zu schaffen, für die Nutzer, die das traumatische Ereignis verarbeiten – aber auch die Schüler- und Lehrergeneration, die in die Gemeinschaft kommt und die Geschichte des Hauses als Außenstehende annehmen kann.

2005 erfolgte der mehr als ein Jahr lang vorbereitete Rückzug und eröffnete die 3. Phase: das Ankommen.

Im Rahmen einer Projektwoche – professionell begleitet und pädagogisch aufbereitet – erfolgte die Rückkehr in das Stammhaus vor den Sommerferien. Partizipation nach den eigenen Möglichkeiten war maßgebliches Kriterium, Rückkehr und Ankommen zu gestalten. Dabei wurden Wege beschritten, die keine Vorbilder hatten.

Zuhören, Hinsehen, Reflektieren, das Unproduktive benennen und die optimale Lösung suchen: Dieses Zusammenspiel kann als Instrumentarium für den Aufarbeitungsprozess resümiert werden.

Da, wo es galt, Entscheidungen gegen eine Rückkehr zu treffen, waren Optionen und Angebote verfügbar.

Anzumerken ist hier, dass die Anzahl der Schüler/innen und Lehrer/innen, die diesen Weg für sich wählten, sehr gering ist; und dass diese Entscheidungen bereits zeitnah zum Ereignis gefällt wurden.

Auch das Trauerritual zum jährlichen Gedenken an die Opfer ist einer Entwicklung unterworfen.

Waren zunächst der Staatstrauerakt und die Gedenkveranstaltung zur ersten Wiederkehr des 26. April auf dem Erfurter Domplatz Rituale kollektiver Trauer, ist seit 2004 das jährliche Gedenken vor dem Schulgebäude ein selbstbestimmtes Gedenken.

Schüler, Lehrer und Ehemalige bereiten langfristig das Konzept des Rituals vor. Dabei lässt sich eine hohe Schüleraktivität und -kreativität erkennen, die auch nach dem Verlassen der Abiturienta 2010 – dem letzten Jahrgang unmittelbar involvierter Schüler/innen – ungebrochen ist.

Das Schulritual wird öffentlich durchgeführt und ermöglicht dem Angehörigen, dem Bürger der Stadt sowie ihren Besuchern die Teilnahme. Die Schule öffnet sich im Anschluss als Stätte der Begegnungen. Diese beiden Positionen stellen die Säulen des Rituals dar.

Die inhaltliche Gestaltung des Rituals und die Begegnungsformen sind offen für aktuelle Entwicklungen in der Schulgemeinde.

Kollektive Trauer hat das Potential, dem Einzelnen Kraft und Halt aus der Gemeinschaft zu geben, obgleich ihr Sog auch rückschlagend wirken kann.

Daher lässt sich aus unseren Erfahrungen bestätigen, dass der Begriff der „Kontinuität“, den der Soziologe Prof. Tilmann Allert als Umgangsform mit dem Tod entwickelt hat, im Aufarbeitungsprozess für die Schule eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Auch nach mehr als 16 Jahren kehren Ehemalige zurück, die inzwischen ihre Biografien nach der Schule fortsetzen, deren traumatische Erlebnisse Bestandteil ihres individuellen Wegs geworden sind, um immer dann im Besonderen wieder in der Schule Gesprächspartner und Verlässlichkeit zu treffen, wenn das Ereignis zurück und in ihr aktuelles Leben greift.

Das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt hat den 26. April 2002 als Teil der Schulgeschichte angenommen. Die Schule fügt sich durch ihr Profil in die Erfurter Schullandschaft ein – die Annahme als Lernort ist für Eltern und Schüler ungebrochen. Sie ist aber auch ein Haus, in dem immer dann auf Erfahrungen zurückgegriffen wird, wenn eine ähnlich schockierende Tat die Menschen erneut erschüttert – Erfahrungen im Umgang zwischen Menschen mit gleichen Schicksalsschlägen – Erfahrungen mit den immer gleichen Abläufen der „Blitzlichtgewitter“, den Reden und Statements und unserer scheinbaren Ohnmacht gegenüber dem Phänomen …

 

Eine Stadt trauert

Zum Umgang mit einem Schulamoklauf in Erfurt

Brigitte Benz

Nach dem Amoklauf an einem Erfurter Gymnasium am Freitag, dem 26.04.2002, mussten nicht nur die unmittelbar Betroffenen dieses Ereignis verarbeiten,1 sondern alle Bürger der Stadt waren fassungslos angesichts der Tragödie. Die Stadt befand sich in einer Art Schockzustand (so erlebte es die Autorin selbst), kein fröhliches, pulsierendes Leben, wie es sonst meist der Fall ist. Und auch Ministerpräsident Bernhard Vogel brachte dies in seiner Ansprache zum Ausdruck, als er sagte: „Es stimmt, was ein Journalist dieser Tage gesagt hat: ‚Ich habe in dieser Stadt noch nie so viele Menschen auf den Straßen gesehen, aber ich habe diese Stadt noch nie so still erlebt.‘“2

Viele Menschen zog es zum Ort des Amoklaufes, in die Kirchen der Stadt, besonders den Dom, oder zum Rathaus, um Blumen niederzulegen, Kerzen zu entzünden oder sich in eines der Kondolenzbücher im Rathaus einzutragen. Sie wollten ihr Mitgefühl mit den Opfern und deren Angehörigen, aber auch die eigene Betroffenheit zum Ausdruck bringen. Es ist sicher auch nicht falsch anzunehmen, dass die Menschen im – schweigenden – Zusammenstehen auch gegenseitig Halt und Unterstützung suchten. Die Menschen wollten nicht allein sein und andere nicht allein lassen in der Katastrophe. Schnell war dann klar, dass eine Trauerfeier für die Stadt gehalten werden muss. Dafür engagierte sich besonders der damalige Oberbürgermeister Manfred Ruge, der auch die beiden Großkirchen ansprach und um ihre Beteiligung bat. Im Folgenden werden einige der ersten Reaktionen (1), einzelne Aspekte der zentralen Gedenkfeier eine Woche nach dem Amoklauf (2) und ausgewählte Punkte des Gedenkens in den folgenden Jahren, besonders auf die Stadt bezogen (3), vorgestellt.

1. Die ersten Stunden und Tage

Sehr schnell nach Bekanntwerden des Amoklaufes fanden sich die ersten Menschen in der Nähe des Gutenberg-Gymnasiums, welches zu diesem Zeitpunkt weiträumig abgesperrt war, ein, um Blumen abzulegen. Auch in den folgenden Tagen war das Gymnasium ein wichtiger Anlaufpunkt für die Bürger der Stadt. Sie legten nicht nur Blumen ab, sondern auch Zettel mit der Aufschrift „Warum?“, viele entzündeten Kerzen. Dergleichen war besonders auch im Erfurter Dom und auf den Domstufen (diese führen vom Domplatz zum Domberg hinauf) zu beobachten. Der Dom blieb in der Nacht nach der Tragödie durchgehend geöffnet, um den Menschen einen Ort der Trauer und des Beisammenseins in Stille und Gebet zu geben.3

Im Erfurter Rathaus lagen ab dem Tag nach der Tragödie Kondolenzbücher aus, in welche sich viele Erfurter, aber auch Vertreter aus der Bundespolitik (u. a.) eintrugen, so z. B. der damalige Außenminister Joschka Fischer.4 „Vor dem Rathaus bildeten sich den ganzen Tag über lange Schlangen von Trauernden, die sich in das Buch eintragen wollten.“5

Die Stadt sagte verschiedene Veranstaltungen ab, darunter den „Autofrühling“, welcher auf dem Domplatz hätte stattfinden sollen. Die digitalen Anzeigetafeln der Stadtinformation zeigten am 27.04. die Aufschrift „Erfurt trauert um die Opfer einer sinnlosen Tat!“6.

In einem der zur Bewältigung der Tragödie gebildeten Krisenstäbe wurde dann die Frage einer zentralen Trauerfeier besprochen.7 Dass die Trauerfeier genau eine Woche nach dem Amoklauf auf dem Erfurter Domplatz gehalten wurde, ermöglichte es ca. 100.000 Menschen, direkt an ihr teilzunehmen.

2. Beteiligung der Stadt Erfurt und des Landes Thüringen an der Trauerfeier

Die zentrale Erfurter Trauerfeier war bisher die einzige derartige Trauerfeier, die nicht in einer Kirche, sondern auf einem öffentlichen Platz stattfand. Auch sie gliederte sich, wie spätere Feiern, in einen staatlichen Akt und einen ökumenischen Gottesdienst, wobei in Erfurt zunächst der staatliche Akt gehalten wurde.8 Die Verantwortung für den ökumenischen Gottesdienst lag bei einer Vorbereitungsgruppe aus Angehörigen beider Großkirchen, für den staatlichen Akt zeichnete die Erfurter Staatskanzlei verantwortlich.9 Daraus kann abgeleitet werden, dass besonders der staatliche Akt den Ort der direkten Beteiligung von Stadt Erfurt und Land Thüringen darstellte. Dies ist auch an der Rednerliste ersichtlich. So sprach nach einem einleitenden Musikstück zunächst Thüringens Ministerpräsident Bernhard Vogel, danach Bundespräsident Johannes Rau, ihm folgten die Schülersprecherin des Gutenberg-Gymnasiums Constanze Krieg und der Erfurter Oberbürgermeister Manfred Ruge. Nach einer kurzen Stille läuteten um 11 Uhr (und damit zum Zeitpunkt des Amoklaufes) alle Glocken der Stadt. Beendet wurde der staatliche Akt mit der Ansprache der Thüringer Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht.

Die Rednerliste zeigt den lokalen Bezug der Trauerfeier. Auch wenn sich Menschen in ganz Deutschland und auch in anderen Ländern betroffen fühlten, was z. B. an Reaktionen in den sozialen Medien ablesbar war, und auch wenn die Feier live im Fernsehen übertragen wurde, so war es doch zunächst eine Trauerfeier für die Erfurter und Thüringer.10 Auch im ökumenischen Gottesdienst wurde dies deutlich, wie bei zwei der neun Fürbitten an der Reihenfolge der Nennung derjenigen, für die gebetet wird, gezeigt werden kann – zunächst Erfurt, dann Thüringen, dann darüber hinaus. So hieß es dort:

„Wir bitten für die Politiker der Stadt Erfurt, des Landes Thüringen und des Bundes, dass sie über das Geschehene sprechen, dass sie es nicht im politischen Alltagsgeschehen verdrängen, dass sie nach Konsequenzen Ausschau halten, die sich aus der blutigen Tat ergeben.“

„Wir bitten für die Bewohner der Stadt Erfurt, für alle Menschen guten Willens, dass sie einander beistehen, dass sie freundlich und respektvoll miteinander umgehen.“

Auch in den Ansprachen während des staatlichen Aktes kam immer wieder zum Ausdruck, dass hier eine Stadt und ihre Bewohner betroffen und zur gemeinsamen Trauer auf dem Domplatz vereint waren.11 So sagte z. B. Oberbürgermeister Ruge:

„Wir fühlen mit den Familien, die so plötzlich auseinandergerissen wurden. Wir fühlen mit den Freunden und all den Opfern, die diesen nahegestanden haben. […] Das schier unglaubliche Begegnen mit dem Grauen, dieses hat uns gelähmt. Schock, Trauer, Entsetzen, Fassungslosigkeit, bittere Tränen fließen. […]

Liebe Erfurterinnen und Erfurter, ich bitte Sie, ich bitte Euch, bewahren wir uns den Geist dieser Woche. Zeigen wir Hilfsbereitschaft, Solidarität und Unterstützung. Hören wir einander zu, geben wir aufeinander acht, versuchen wir, das Schwere gemeinsam zu verarbeiten, rücken wir näher zusammen, kämpfen wir dagegen an, dass unsere Stadt das Lebens- und Liebenswerte verliert.“

Sowohl darin, dass der Domplatz als Ort der Trauerfeier ausgewählt wurde, als auch in den Worten der verschiedenen Sprecher während der Trauerfeier zeigte sich, dass die Verantwortlichen sich ihrer Verpflichtung gegenüber den unmittelbar Betroffenen, aber auch den Bürgern Erfurts bewusst waren. Mit dem Domplatz wurde ein Ort gewählt, der einer möglichst großen Anzahl von Menschen das Dabeisein ermöglichte.12 Dass damit genau den Bedürfnissen der Erfurter entsprochen wurde, zeigte die Zahl von ca. 100.000 Teilnehmern an der Trauerfeier.

Die zentrale Trauerfeier wurde medial begleitet. Dagegen hatte die Stadt Erfurt

„Foto- und Fernsehaufnahmen von den Beerdigungen der Opfer des Massakers im Gutenberg-Gymnasium untersagt. Auf dem Hauptfriedhof würden auch sonstige Berichterstatter nicht zugelassen, sagte ein Sprecher der Stadtverwaltung. Die Stadt wolle ihr Hausrecht nutzen, um die Intimsphäre der Angehörigen der Opfer so weit wie möglich zu schützen.“13

Eine solche Intervention zugunsten der Betroffenen war ein besonderer Ausdruck des Verantwortungsgefühls der Stadtverwaltung, da nur sie eine derartige Anordnung treffen konnte.

3. Gedenken in den Jahren seit der Tragödie

Im Jahr nach dem Amoklauf fand nochmals eine Trauerfeier auf dem Domplatz statt, allerdings als eine säkulare Feier mit religiösen Elementen. Hauptredner in dieser Feier waren zu Beginn der Erfurter Oberbürgermeister Ruge und am Ende Thüringens Ministerpräsident Vogel. Nach Oberbürgermeister Ruge folgten in einem religiösen Block neben einem für diesen Tag formulierten Psalm kurze Ansprachen von Dechant Wolfgang Schönefeld und Pfarrerin Ruth-Elisabeth Schlemmer. Daran anschließend wurden keine Fürbitten, sondern Lebenswünsche – Wünsche ohne Bezugnahme auf ein Gegenüber – vorgetragen. Die die Gedenkfeier abschließende Ansprache des Ministerpräsidenten beendete dieser mit den Worten: „Für alle Zukunft wird der 26. April in Erfurt und in Thüringen ein Tag des Gedenkens sein. Ein Tag des Erinnerns und ein Tag des Lebens.“14

Dies war die letzte Trauer-/Gedenkfeier, welche wesentlich von Vertretern der Stadt geplant wurde. Im folgenden Jahr gedachte die Schulgemeinschaft am Interimsort unter Ausschluss der Öffentlichkeit der Opfer. Mit dem Rückzug in das, nun sanierte, Gutenberg-Gymnasium fand das Gedenken seinen festen Platz.15 An der Feier, welche vor einer an der Schule angebrachten Gedenktafel mit den Namen der Opfer gehalten wird, nehmen alljährlich auch Vertreter aus der Politik (so z. B. immer der jeweilige Oberbürgermeister Erfurts) teil, ohne jedoch einen aktiven Part zu übernehmen. Die Beteiligung beschränkt sich auf das Niederlegen eines Kranzes am Ende der Gedenkfeier. Mit dieser Zurückhaltung wird dem Wunsch der Schulgemeinschaft entsprochen. Ein weiteres Ritual hat sich außerdem herausgebildet. An den Gräbern der Opfer wird (wenn die Angehörigen dies wünschen)16 durch die Stadt am Tag des Amoklaufes jeweils ein Blumengebinde abgelegt.

Das Gedenken an den Gräbern geht bereits auf den damaligen Oberbürgermeister Manfred Ruge zurück.

„‚Dafür gibt es keine schriftlichen Festlegungen oder Stadtratsbeschlüsse, aber es war uns von Anfang an ein Herzensbedürfnis, auf diese Weise unsere Trauer mit auszudrücken‘, sagt er [Ruge]. Seine ‚rechte Hand‘, Martina König, fuhr jedes Jahr am 26. April in der Frühe persönlich auf die Friedhöfe, um sich dort mit um den Grabschmuck zu kümmern. ‚Ich bin sehr froh, dass mein Nachfolger das so fortführt‘, meint Manfred Ruge.“17

Ein weiterer öffentlicher Ort des Gedenkens ist die Andreaskirche, in welcher Jahr für Jahr am 26. April um 18 Uhr eine Gedenkandacht stattfindet.

Mit dem jährlichen Gedenken an der Schule, in der Andreaskirche und an den Gräbern der Opfer haben sich die Worte Bernhard Vogels bewahrheitet, dass der 26. April „für alle Zukunft ein Tag des Gedenkens“ sein und bleiben wird. Und auch wenn es sich nicht um einen gesetzlich festgelegten Stillen Tag handelt, so wird er doch in der Stadt als solcher verstanden. So schreibt 2017 Oberbürgermeister Andreas Bausewein an die Erfurter:

„Den 26. April begehen wir Erfurter als ‚stillen Tag‘ und respektieren die Wünsche der Schule, ihrer Schüler und Lehrer bezüglich der Gedenkfeier. Wie in jedem Jahr richtet die Schule eine Veranstaltung aus. Die Stadt legt, sofern von den Angehörigen gewünscht, Gebinde auf den Gräbern der Verstorbenen nieder. […]

Zum Zeichen der Verbundenheit, zum Gedenken an die Opfer dieser sinnlosen Gewalttat und als Aufruf zu einem Moment der Stille werden in Erfurt um 11:00 Uhr die Glocken vieler Kirchen läuten. […]

Halten auch Sie inne, nehmen Sie, wenn Sie mögen, an der Gedenkfeier des Gutenberggymnasiums teil und nehmen Sie sich Zeit für Menschen, die Ihnen wichtig sind.“18

Wenn man am 26. April einmal selbst zum Gutenberg-Gymnasium oder in die Andreaskirche geht, kann man erleben, dass Menschen kommen, welche nicht selbst unmittelbar betroffen waren. Und auch wenn diese in der Minderheit sind, zeigen sie, dass ein Bedürfnis nach gemeinsamem Gedenken besteht. Deshalb ist es wichtig, dass auch in Zukunft die Gedenkfeier in der Schule und die Andacht in der Andreaskirche offen für alle sind.

 

Zusammenfassend kann man es so formulieren: Auch wenn die Politik zunächst federführend in Organisation und Gestaltung der Trauer- und Gedenkfeiern war, so hat sie sich seit 2004 doch deutlich zurückgenommen. Politiker, besonders in der Person des Oberbürgermeisters, sind am Gymnasium anwesend und legen Blumen nieder, halten jedoch keine Ansprachen o. Ä. Für die Bürger Erfurts war es wichtig, dass im Jahr des Amoklaufes die Trauerfeier auf dem Domplatz gehalten wurde, und auch im ersten Jahr war die Beteiligung noch so groß, dass der Domplatz als Ort angemessen war. Heute sind es nur noch wenige, die den Weg zum Gymnasium oder in die Kirche finden, aber es gibt sie. Manch einer meldet sich auch in den sozialen Medien, z. B. auf der Facebook-Seite der Stadt Erfurt, um hier seine Gedanken zu den Ereignissen von 2002 zu äußern oder am Tag des Amoklaufes eine virtuelle Kerze zu entzünden.19 Für die meisten Erfurter scheint das Läuten der Glocken ein ausreichendes Zeichen der Erinnerung zu sein.

Die verschiedenen Wege, das Geschehen in Erinnerung zu behalten und es damit auch als Mahnung dienen zu lassen, ergänzen sich dabei.

Eine Stadt trauert – nicht immer in der gleichen Weise und jeder Bewohner mit einem eigenen Maß. Eine Stadt trauert – heute stiller als kurz nach dem Amoklauf. Nicht mehr „die große Bühne“ – sprich der Domplatz, sondern der Platz vor der Gedenktafel an der Schule.

Dieser Ort und die Andreaskirche geben heute der Stadt und ihren Bewohnern die Möglichkeit, sich am Gedenken zu beteiligen.

1 Vgl. hierzu den Beitrag von Chr. Alt in diesem Band, S. 35–38.

2 Trauerrede des Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, online unter www.ksta.de/trauerrede-des-thueringer-ministerpraesidenten-bernhard-vogel-14005976 (Stand: 12.4.2019).

3 Vgl. M. Gebauer, Trauer in Erfurt. Die Kerzen brannten die ganze Nacht, in: Spiegel online vom 27.4.2002, online unter: https://www.spiegel.de/panorama/trauer-in-erfurt-die-kerzen-brannten-die-ganze-nacht-a-193950.html (Stand: 14.4.2019).

4 Vgl. DIE WELT online, Schüler des Gutenberg-Gymnasiums bleiben zusammen, veröffentlicht am 28.4.2002, online unter: https://www.welt.de/print-welt/article386607/Schueler-des-Gutenberg-Gymnasiums-bleiben-zusammen.html (Stand: 27.3.2019).

5 Rheinische Post, RP-online, Schröder will zum Gedenkgottesdienst kommen, veröffentlicht am 27.4.2002, online unter https://rp-online.de/panorama/schroeder-will-zum-gedenkgottesdienst-kommen_aid-8503341 (Stand: 27.3.2019).

6 Das Bild einer solchen Tafel findet sich unter FAZ, Dossier. Der Amoklauf von Erfurt, aktualisiert am 3.5.2002, online unter: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/dossier-der-amoklauf-von-erfurt-163261.html (Stand: 27.3.2019).

7 Vgl. hierzu B. Benz, Eine ökumenische Trauerfeier mit Konfessionslosen angesichts einer Tragödie. Das Gedenken an die Toten des Amoklaufs in Erfurt im Jahre 2002, in: Trauerfeiern nach Großkatastrophen. Theologische und sozialwissenschaftliche Zugänge, hg. v. B. Kranemann – B. Benz, Neukirchen-Vluyn – Würzburg 2016 (EKGP 3), 9–20, hier 13f.

8 Die nachfolgende Darstellung der zentralen Gedenkfeier und die daraus zitierten Texte folgen dem Fernsehmitschnitt, welcher mir dankenswerterweise vom MDR Landesfunkhaus Thüringen leihweise überlassen wurde.

9 Zur zentralen Trauerfeier in Erfurt siehe auch: B. Benz, Eine ökumenische Trauerfeier (wie Anm. 7), und St. Hammer, Die Trauerfeier als Einsetzungsritual. Zentrale Trauerfeiern nach Großkatastrophen aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Trauerfeiern nach Großkatastrophen (wie Anm. 7), 155–172, hier bes. 158–165 u. 170–172.

10 Anders verhält es sich zumeist dann, wenn Opfer aus verschiedenen Teilen Deutschlands oder sogar der Welt zu beklagen sind. So sprachen z. B. im Kölner Dom in der Trauerfeier für die Opfer der Germanwings-Katastrophe 2015 neben dem Bundespräsidenten Joachim Gauck auch der spanische Innenminister Diaz und der französische Staatsministers Vidalies. Vergleichbar mit Erfurt ist dagegen München, wo nach dem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum 2016 in der Trauerfeier die Bayerische Landtagspräsidentin Barbara Stamm, Bundespräsident Joachim Gauck sowie der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter sprachen.

11 Vgl. auch: Trauerrede des Thüringer Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, online unter: www.ksta.de/trauerrede-des-thueringer-ministerpraesidenten-bernhard-vogel-14005976; Ansprache der Thüringer Landtagspräsidentin Christine Lieberknecht, in: Evangelische Verantwortung 06/2002, 7f.; Rede von Bundespräsident Johannes Rau zum Gedenken an die Opfer des Mordanschlages vor dem Dom zu Erfurt unter www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2002/05/20020503_Rede.html.

12 So erklärte es ein Mitglied der Vorbereitungsgruppe für den ökumenischen Gottesdienst in einem Gespräch gegenüber der Autorin.

13 Spiegel online, Filmen und fotografieren verboten, veröffentlicht am 2.5.2002, online unter: www.spiegel.de/panorama/beerdigungen-der-erfurt-opfer-filmen-und-fotografieren-verboten-a-194480.html (Stand: 4.4.2018).

14 Zit. nach: Amoklauf in Erfurt - Trauerfeier am ersten Jahrestag (Zusammenschnitt – ohne Musik), online unter: https://www.youtube.com/watch?v=8iA_EzZW6Ow (Stand:12.4.2019). Nach diesem Mitschnitt erfolgte auch die vorherige Beschreibung der Trauer-/ Gedenkfeier.

15 Vgl. den Beitrag von Chr. Alt in diesem Band S. 35–38.

16 Diese Einschränkung ist zumindest seit 2017 belegbar. Vgl. Erfurt.de – das offizielle Stadtportal der Landeshauptstadt Thüringens, 26. April 2017–15. Gedenktag am Gutenberg-Gymnasium, online unter: https://www.erfurt.de/ef/de/service/aktuelles/am/2017/126738.html (Stand: 14.4.2019).

17 M. Gentzel, Stilles Gedenken an Gutenberg-Amoklauf-Opfer, TA vom 26.4.2011, online unter: https://erfurt.thueringer-allgemeine.de/web/erfurt/startseite/detail/-/specific/Stilles-Gedenken-an-Gutenberg-Amoklauf-Opfer-1331228720 (Stand: 12.4.2019).

18 Erfurt.de, Gedenktag am Gutenberg-Gymnasium (wie Anm. 16).

19 Für 2018 zu finden unter: https://www.facebook.com/Erfurter.City/posts/1974963272549123 (Stand: 14.4.2019). Ein Kommentar lautete hier z. B.: „Ein Tag, den ich niemals vergessen werde. Mein tiefes Mitgefühl allen Betroffenen und Angehörigen. Respekt allen Helfern und Einsatzkräften damals!“

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