Der Televisionär

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Zweierlei ›Material‹ lässt sich unterscheiden. Zum einen werden typische Magazinbeiträge simuliert. In ihnen mischen sich ›gefälschte Aufnahmen‹ – etwa inszenierte Straßeninterviews an der Interzonenstrecke oder ein fiktiver Tagesschau-Kommentar – mit genretypischen dokumentarischen (Archiv-) Aufnahmen, die jedoch durch Montage und OFF-Kommentare in einen ›gefälschten‹ Kontext gerückt werden, etwa Interviews mit prominenten westdeutschen Politikern und Aufnahmen des bundesdeutschen Außenministers Willy Brandt sowie des ostdeutschen Parteichefs Walter Ulbricht. Zum anderen aber gibt es eine Vielzahl von Spielszenen mit den Bewohnern des fiktiven Dorfs Dubrow, die deutlich die Magazinform sprengen, da sie nicht einmal als Aufnahmen mit ›versteckter Kamera‹ denkbar sind. Inszeniert mit Schauspielern, die (damals noch) unbekannt waren, demonstrieren sie geschickt die Folgen der ›großen Politik‹ im Kleinen: »Die Dubrow-Krise erzeugt Komik, weil sie die großen Weltkonflikte auf die Niederungen kleiner und letztendlich kleinbürgerlicher Problemlagen zurückführt.«36

Auf genau dieses Moment, dass er den Konsequenzen politischer Entscheidungen im Alltag normaler Bürger nachspüren wollte, führte Wolfgang Menge im Nachhinein auch die immer wieder gerühmte Hellsicht seiner Fiktion zurück, den Umstand also, dass die Dubrow-Krise so viele Details der späteren tatsächlichen Wiedervereinigung erahnte. Denn besondere Kenntnisse besaß der Autor nicht. Die DDR hatte er vor Abfassung seines Drehbuchs nie besucht, und er hatte auch noch nie in einem Dorf gelebt.37 Im Transit nach Westdeutschland machte er allerdings einmal eine Erfahrung, die den Keim der Dubrow-Krise bildete:


»Ich habe gesehen, wie auf der Bundesstraße von Berlin nach Hamburg ein Lastzug verunglückt ist. Und da habe ich mir gedacht, was würde passieren, wenn dieser Lastzug Schnaps geladen hätte, in der Nähe eines Dorfes, und sie hätten ihm geholfen – und das hätte ein allgemeines deutsch-deutsches Besäufnis gegeben?«38

Auf der Basis der Grundidee, die Wiedervereinigung anhand eines Dorfes durchzuspielen, begann Menge mit einer gründlichen Literaturrecherche. Sie reichte von Fachschriften zur ostdeutschen Landwirtschaft bis zu zeitgenössischen DDR-Romanen.39 Entscheidend für die Genauigkeit – oder auch Authentizität – der geplanten Fiktion war dann jedoch die Anstrengung, die gesammelten Fakten und politischen Rahmenbedingungen auf individuelle Schicksale herunter zu brechen:

»Für ein Fernsehspiel habe ich einen anderen Zugang als Politiker oder Journalisten, die sich damit beschäftigen. [...] Der entscheidende Punkt, warum dieser Film erheb­lich mehr von dem, was dann später gekommen ist, 89, 90, vorweggenommen hat, ist, weil ich nicht ein Gesamtbild genommen habe, sondern einzelne Personen – den Menschen, der die HO-Gaststätte geführt hat, den Bürgermeister, den SED-Chef da, den Polizisten des Dorfs. Ich habe mir überlegt, was würde denen denn passieren? Und so komme ich, wenn ich mir die Menschen vorstelle, zu ganz anderen Ergebnissen.«40

Die Zuschauer allerdings, die 1969 die Dubrow-Krise sahen, wie auch die Juroren, die dem Fernsehspiel den Grimme-Preis in Gold verliehen, konnten selbstverständlich nicht ahnen, wie authentisch die Fiktion entworfen war und dass sie daher zwei Jahrzehnte später zu einem nicht geringen Teil von der Geschichte eingeholt werden sollte. Sie dürfte vielmehr der damals höchst ungewöhnliche Kunstgriff fasziniert haben, das Fernsehen im Fernsehen zu simulieren. Denn er erlaubte es im Verein mit dem Rekurs auf vertraute dokumentarische Formate, das Szenario des ›Was geschähe wenn ...‹ jenseits der in Spielfilm wie Fernsehspiel üblichen Spannungsbögen zu erzählen. An ihre Stelle trat jene Struktur journalistischer Recherche und Reportage, die schon Orson Welles’ Citizen Kane-Faktion vorantrieb und zusammenhielt, nun allerdings dem Stand des neuen Leitmediums Fernsehen angepasst: Welles tönende Wochenschau wurde bei Menge zum TV-Magazin. Seine Form lieferte das mediale Gerüst, den eher epischen denn dramatischen Erzählbogen. Mosaikartig konstruiert die Dubrow-Krise aus Einzeldarstellungen ein – freilich nicht Fakten dokumentierendes, sondern Wahrscheinliches und Erfundenes mixendes – Gesamtbild. Dessen inhaltliche Aussagekraft zehrt wesentlich von den Konventionen und der Glaubwürdigkeit des etablierten Formats.

Am Ende, in den letzten Sekunden des fiktiven Magazins, geht es folgerichtig auch nicht mehr um die thematische Krise selbst, sondern um den politischen Druck, der auf die öffentlich-rechtlichen Sender ausgeübt wird. „Ihr Intendant möchte ich morgen nicht sein“, warnt einer der Studiogäste, Ministerialrat im Gesamtdeutschen Ministerium, den Moderator der Sendung. Auch darin entsprach Menges erste Faktion der historisch neuen Erfahrung fortgeschrittener Medialisierung öffentlicher Kommunikation und politischer Willensbildung, welche die Durchsetzung des Fernsehens bewirkt hatte.

5 Spiel mit der Faktionalität II: Das Millionenspiel

Jene Selbstreferentialität – die Reflexion des Fernsehens im Fernsehen und mit den Mitteln des Fernsehens –, die sich in der Schlusswendung der Dubrow-Krise andeutete, rückte Wolfgang Menge mit seinem nächsten Drehbuch ins thematische Zentrum. Knut Hickethier bezeichnete Das Millionenspiel daher als ein »frühes Beispiel für einen Einstieg [der Television] in selbstreferentielles Erzählen«.41 Dass dies möglich wurde und zudem starke Reaktionen bei Publikum wie Kritik auslöste, hing wesentlich mit der kulturellen und sozialen Rolle des Fernsehens um 1970 zusammen. Einerseits war es auf dem historischen Höhepunkt seiner Wirkungsmacht angelangt und dominierte nahezu alle Bereiche des bundesdeutschen Alltagslebens, nicht zuletzt auch die politische Willensbildung. Andererseits aber zeichnete sich immer deutlicher ab – nicht zuletzt im vergleichenden Blick auf die Medienlandschaft anderer entwickelter Demokratien –, dass das öffentlich-rechtliche Oligopol so kaum überdauern konnte. Diese Situation des Mediums und die damit verbundenen Befürchtungen thematisierte Wolfgang Menges Drehbuch.

»Wir begrüßen Sie zum letzten Spieltag des Millionenspiels«, sprach am 18. Oktober 1970 um 20:15 Uhr die den Zuschauern vertraute WDR-An­sa­gerin Hannelore Vorberg in die Kamera. Sie erläuterte kurz, dass die bereits seit sechs Tagen andauernde Menschenjagd zu Unterhaltungszwecken »im Einklang mit dem Gesetz zur aktiven Freizeitgestaltung vom 7. Januar 1973« stehe: Drei schwerbewaffnete Männer, die so genannte Köhler-Bande, jagen den Kandidaten Bernhard Lotz. Wird der es lebend bis zum Abend in die Osnabrücker Gartlage-Halle schaffen, gewinnt er eine Million D-Mark. Allerdings haben der ausstrahlende Privatsender »Transeuropa-TV« und der Sponsor der Show, der »Stabilelite-Konzern«, auch für den Fall der Fälle vorgesorgt: »Sollte der Kandidat vorzeitig den Tod finden, so erwartet Sie ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm mit vielen beliebten Künstlern.«


Daraufhin wird zu dem Kandidaten geschaltet, der sich in einem Hotelzimmer versteckt, jedoch fliehen muss, weil seine Jäger ihn aufgestöbert haben. Von einem Fenster aus entdecken sie ihn, wie er unter ihnen über ein von milchglasigen Bullaugen geziertes Flachdach davonläuft. Der Anführer der Bande versucht, seine Millionen-Beute mit gezielten Schüssen zu erledi­gen – und mit jedem dieser Schüsse stoppt für einen Augenblick das Bild. Rhythmisch wird der Kandidat eingefroren, in klassischer Opferhaltung, ein postmoderner Christus, von medialen Manipulatoren ans televisionäre Kreuz genagelt. Bis er – verfehlt! – wieder ein Stück weiter flüchten darf, nun hinein in Maschinengewehrsalven. Auf dem Fernsehbild erzeugen sie, Einschüssen gleich, ornamentale Muster, auf der Tonspur gehen sie in Schlagzeugsalven über. Ein bonbonbunter, psychedelisch animierter Vorspann beginnt zu laufen: »TE-TV präsentiert das Millionenspiel.« [Abb. 3]

Diese ersten Filmminuten offenbaren – zumindest aus heutiger Sicht – zweierlei. Zum einen den Umstand einer gänzlichen Überformung des Realen durch mediale beziehungsweise ästhetische Interessen: Die TV-Choreographie reduziert die vermeintlich abgebildete Realität zum Rohmaterial eines Todesballetts. Zum anderen aber demonstrieren diese Bilder ein Fernsehen, das in seinen Inhalten wie in seiner Optik recht deutlich mit dem öffentlich-rechtlichen des Jahres 1970 kontrastiert. Das panoptische Spiel um Leben und Tod gemahnt vielmehr sowohl an das Reality-TV der 1990er Jahre als auch an Computerspiele, vor allem First-Person-Shooter, beziehungsweise an pervasive und Alternate-Reality-Games, wie sie erst nach 2000 unter den Bedingungen flächendeckender digitaler Vernetzung realisierbar wurden.

Wolfgang Menges Drehbuch beruhte dabei auf der Kurzgeschichte »The Prize of Peril«, die der amerikanische Autor Robert Sheckley bereits 1958 publiziert hatte.42 Im Vergleich von Original und Adaptation fällt die hohe inhaltliche Nähe bei radikaler formaler Abweichung auf – und damit auch die Spezifik von Menges Arbeitsweise. Zentrale Elemente der Kurzgeschichte wurden in das Fernsehspiel übernommen: die Grundsituation einer Fernsehshow mit einem Gejagten und drei Jägern, eine Reihe von guten Samaritern, die dem Flüchtenden helfen, die Verfolgung durch einen Helikopter, die Manipulation der Show hinter den Kulissen, im Interesse der Werbeeinnahmen. Andere Details wiederum sind deutlich verändert worden, insbesondere die Kennzeichnung von Jägern und Gejagtem. Im amerikanischen Original ist der Held ein Jedermann, ein »everyman«. Er heißt Raeder – ein Anagramm von Reader (Leser): »[…] Raeder knew that he had to depend upon the generosity and good-heartedness of the people. He was their representative, a projection of themselves, an average guy in trouble.«43 Die ihn jagen, sind gänzlich anders als er und die Leser, nämlich Berufskriminelle.

 

In Menges Drehbuch hingegen werden alle, Bernhard Lotz wie die drei Mitglieder der Köhler-Bande, zu gesellschaftlichen Außenseitern, Verlierern. Nicht einmal seine Mutter hält wirklich etwas von Lotz. Wichtiger als diese und eine Vielzahl anderer Veränderungen und Verschiebungen ist jedoch die formale Gestaltung. Sheckleys Kurzgeschichte erzählt die Ereignisse gänzlich aus der Perspektive des Gejagten. Von der Fernsehsendung erfahren die Leser ausschließlich durch die Gedanken des Helden. Der TV-Moderator bleibt eine Stimme in seinem Kopf. Menge hingegen bedient sich eines innovativen Kunstgriffs, wie er schon Die Dubrow-Krise auszeichnete: Er adaptiert ein fernsehtypisches nonfiktionales Format. Lieferten 1969 die Konventionen eines Politmagazins dem politischen Szenario das innovative Erzählgerüst, so determinieren nun ein Jahr später die Konventionen einer Unterhaltungsshow das dystopische Unterhaltungsspiel auf Leben und Tod.44 Deren Programm – der von den Mediengewaltigen vorprogrammierte zeitliche und inhaltliche Ablauf der Sendung inklusive der essentiellen Werbeeinblendungen – steuert die fingierte Inszenierung der Realität und ordnet damit den Verlauf des Millionenspiels. [Abb. 4]

Einerseits verzichtete Menge dadurch – wie schon in der Dubrow-Krise – auf »die übliche ›abbildrealistische‹ Form der Narration [...], die klar erkennbar den Traditionen des Kinospielfilms und des Theaterspiels folgte [...]«.45 Die gewonnene Freiheit, jenseits üblicher Spannungsbögen zu erzählen, erkaufte er jedoch mit einer Bindung an die Konventionen einer Live-Unterhaltungsshow. Das den Eingangsbildern nachfolgende Geschehen ist denn auch keineswegs fiktiv im Sinne von unwahrscheinlich. Vielmehr treibt Menges Fiktion die strukturelle Gewalt, die aller Fernsehunterhaltung einbeschrieben ist, zynisch auf die höchstmögliche Spitze: das rücksichtslose Ver- und Vorführen des Publikums, in der Stellvertretung durch die in Spielshows üblichen ›Kandidaten‹. »Einer wird gejagt. Da wird Einer wird Gewinnen zu einer Sache von gestern; und der Goldene Schuss wird scharf gefeuert,« schrieb Alexander Rost in der Zeit.46 Insofern stellt das Millionenspiel in den Vordergrund der Spielhandlung, was sonst nur den verborgenen, wenn auch erahnten Unter- und Hintergrund dieser Art von Fernsehunterhaltung auszumachen pflegt: »Nichts ist hier phantastisch. Was auf den ersten Blick wie ausgedacht erscheint, ist nur zu Ende gedacht.«47 Diese Interpretation bestätigte Wolfgang Menge damals in einem Interview mit der Münchner Abendzeitung:

»Alles, was das Millionenspiel zeigt, gibt es auch heute schon: das Brutalitätsbedürfnis der Zuschauer, den Zynismus der Fernsehroutiniers, die Geldgier der Kandidaten, die für klingende Münze beinahe alles tun. Ich bin sicher: Würden wir mit dem Millionenspiel heute Ernst machen, brauchen wir keine zwei Tage nach einem Kandidaten zu suchen.«48

Zu der zeitgenössischen Wahrnehmung der Fiktion als real trug wesentlich bei, dass Menge und sein Regisseur Tom Toelle zum einen die Rollen von Jäger und Gejagten mit noch unbekannten Schauspielern besetzten, um sie als ›normale‹ Kandidaten zu authentifizieren, zum anderen aber für die Rollen der angeblichen Fernsehmacher prominente TV-Gesichter gewannen: von der vertrauten Ansagerin der Sendung über den populären Showmaster Dieter Thomas Heck bis hin zu den Fernsehreportern Heribert Fassbender, Arnim Basche und Gisela Marx, die sich bei den inszenierten Straßenszenen gewissermaßen selbst spielten.

Das Ergebnis war denn auch, dass bei der Erstausstrahlung viele Zuschauer ungewöhnlich verunsichert waren. Die große Mehrheit durchschaute zwar den fiktionalen Charakter, war jedoch zu einem nicht geringen Teil von der Form wie den Inhalten erbost. »Fast 1000 Zuschauer riefen bei den deutschen TV-Redaktionen an, Hunderte schrieben empörte Briefe an Tageszeitungen oder beschwerten sich bei der Polizei«, berichtete Der Spiegel.49 Die Empfehlungen, wie man mit den Machern solcher Sendungen umzugehen habe, schlossen Mord durchaus mit ein.50 Nicht wenige Zuschauer hielten zudem das Spiel für Ernst, die fiktive TV-Show für eine tatsächliche. Hör Zu, die damals größte deutsche Programmzeitschrift, schrieb unter dem Titel »Ich wär ein guter Killer«: »Noch während der Sendung meldeten sich beim WDR 14 Männer zwischen 17 und 50 Jahren als Todeskandidaten, etliche als Jäger.«51 Und Wolfgang Menge selbst erinnerte sich ein Vierteljahrhundert später:

»Was Aufsehen erregt hat, war eigentlich die Bereitwilligkeit von Leuten, das mitzumachen. [...] Und bei der Wiederholung, als die Leute es wussten, dass es keine Fernseh-Show ist, [da haben sie gesagt]: ›Aber sollte es mal so kommen, melde ich mich jetzt schon an und möchte da mitmachen.‹«52


Die Kritik reagierte gespalten. Einige Rezensenten fanden Das Millionenspiel schlicht schlecht und misslungen.53 Andere befürchteten, dass es die Zu­schauer brutalisiere.54 Wiederum andere hielten für undenkbar, was das Spiel prognostizierte: »Der Autor dieser grauenhaften Zukunfts-Television [...] glaubt, daß bis zur Verwirklichung solcher Vorstellungen nur wenige Jahre vergehen werden. Wahnwitz – möchte man sagen.«55

Die Macher selbst verstanden Das Millionenspiel sowohl als Kritik am aktuellen Fernsehprogramm wie auch als Warnung vor Tendenzen, die sich in der Zukunft realisieren könnten. Der zuständige Redakteur Peter Märthesheimer sagte 1970 in einer TV-Diskussion:

»Das Millionenspiel ist ein Stück konkrete Utopie. [...] Das heißt, gemeint sind gegenwärtige Zustände, die wir etwas übertrieben, überspitzt und in die Zukunft verlängert haben. Wir hoffen, dass den Zuschauern in Zukunft – und da sind wir bei der Frage der Ähnlichkeiten – bei ähnlichen Sendungen etwas die Freude vergehen wird.«56 [Abb. 5]

Und WDR-Fernsehspiel-Chef Günter Rohrbach erklärte dem Spiegel: »Wir haben [...] die jetzigen Verhältnisse übertrieben und in die Zukunft projiziert, um die Gegenwart erkennbar zu machen.«57 Aber nicht nur, dass sich dabei auch die mediale Zukunft abzeichnete, machte Das Millionenspiel zu einem der bekanntesten und wirkungsmächtigsten Fernsehspiele der bundesdeutschen TV-Geschichte. Als zweites bundesdeutsches Fernsehspiel überhaupt wurde Das Millionenspiel mit dem renommierten Prix Italia ausgezeichnet. Der ungewöhnliche Erfolg dürfte sich auch dem ungewöhnlichen Umstand verdanken, dass Wolfgang Menges Drehbuch an gleich drei sensiblen Schnittstellen des kulturellen Diskurses operierte und intervenierte.

Zum Ersten betrieb Das Millionenspiel, was damals neu war: die Kritik des Fernsehens im Fernsehen selbst. Damit begründete Wolfgang Menge einen Trend. In den folgenden Jahren werden »zahlreiche medienkritische Sendungen […] ins Programm gehoben: Die Kritik am Fernsehen hat, gerade weil es sich zum Leitmedium der gesellschaftlichen Kommunikation entwickelt hat, Konjunktur.«58 Ins Zentrum der Debatten wird dabei die Fragwürdigkeit einer Fixierung auf ›Einschaltquoten‹ rücken. Menges Absicht, vor dieser Zukunft zu warnen, wird in den Szenen deutlich, die hinter den Kulissen der Show spielen und demonstrieren, wie das vermeintlich offene Dead-or-Alive-Geschehen im Interesse des Erfolgs der Sendung von langer Hand zu jenem Ende geführt wird, das die höchste Quote garantiert:

»Ich habe in diesem Film ja nicht nur diese Jagd dargestellt, sondern [...] auch dieses ständige Verlesen der Quoten gezeigt. Es wurden laufend die Einschaltquoten durchgegeben. Danach hat sich dann auch immer die Handlung ausgerichtet. Das heißt, die ›Macher‹ dieser Jagd haben, ohne dass der Zuschauer das hätte ahnen dürfen, eingegriffen in diese Jagd [...] wegen der Quote. Das war das Entscheidende. Ich habe mir damals halt überhaupt nicht vorstellen können, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen eines Tages ähnlich verfahren wird.«59


Zum Zweiten inszenierte das Millionenspiel – in seinem Thema wie vor allem auch in seinem Design – das Vordringen der so genannten Lifestyle-Revolte aus den Subkulturen der sechziger Jahre in den gesellschaftlichen Mainstream. Am immer bunteren Leitmedium wirkte dabei nicht zuletzt gefährlich, dass es die Ablösung der auf Arbeit und Verzicht ruhenden industriellen Ordnung noch dort propagierte, wo es scheinbar nur unterhalten oder werben wollte.60 Im Vergleich zur ›alten‹, der kargen Vor-Revolte-Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre, von der noch die Schwarz-Weiß-Verkrampftheit des TV-Studios der Dubrow-Krise zeugte, kam die schöne neue Unterhaltungs-Welt des Millionenspiels so farbig-grell, laut, übertrieben und obszön daher wie die wuchernden Koteletten und schamlosen Sprüche ihres Showmasters. Die »Modernisierung der Gesellschaft«61, die man dem Fernsehen der siebziger Jahre zurecht zuschreibt, implizierte gerade in den Bereichen von Unterhaltung und Information das Verlangen nach Vielfalt, nach Wahl- und Handlungsfreiheit. Die staatlich abgesicherte oligopolistische Verfasstheit des öffentlich-rechtlichen Systems stand damit zwangsläufig zur Debatte.

Das Millionenspiel kann deshalb zugleich als eine Kritik und als ein Agent dieses Wandels begriffen werden. Denn jenseits seines kritischen Impetus’ transportierte das Fernsehspiel in seiner Thematik, aber noch mehr in seiner audiovisuellen Anmutung, seinem Look und Sound, eine hedonistische Sinnlichkeit, die der Dekonstruktion industrieller zugunsten postindustrieller Verhaltensweisen und Werte korrelierte – wie im Übrigen auch grundsätzlich das (Farb-) Fernsehen als Medium:

»For if we accept Jonathan Crary’s insight that changes in regimes of perception and technologies of vision (resulting in the constitution of his ›observer‹) in the nineteenth century were related to the move toward machine production, we might also notice that the immanence of television screens to local intervention and manipulation (which games introduce) is a necessary condition of contemporary, computerised work.«62

Damit ist bereits das dritte Moment angesprochen: Das Millionenspiel steht deutlich im Kontext einer grundsätzlichen ›spielerischen‹ Opposition, die sich in diesen Jahren gegen den Industrialismus wendete, gegen seine Logik wie seine Ethik:

»Das allmähliche Aufbrechen der Fixierung auf industrielle Arbeit und ihre Ethik zeigt sich in der Kultur der sechziger Jahre vielfach als Popularisierung des Spielerischen, von Eric Bernes Bestseller Games People Play: The Psychology of Human Relationships (1964) über Joe South’ davon inspiriertem Pop-Hit Games People Play (1968) und Clark C. Abts Buch Serious Games (1970) zum populären New-Games-Movement, das Stewart Brand in den späten sechziger Jahren im Dunstkreis der Hippie-Kultur San Franciscos initiierte.«63


In den USA verband sich das in einem weit höheren Maße als in der Bundesrepublik bereits mit dem Gebrauch analoger und digitaler Elektronik zu spielerischen Zwecken. Diese erste, damals auf den Markt kommende Generation von Spiel-Konsolen für das heimische TV-Gerät entging den deutschen Zeitgenossen zwar weitgehend. Doch der Trend zur ›Aktivierung‹ des Publikums zeigte sich auch hierzulande, zum Beispiel in zahllosen Experimenten der Bildenden Künste wie etwa denen Nam June Paiks.64 Darüber hinaus hatte die Elektronisierung im Umfeld jugendlicher Rebellion Ende der sechziger Jahre zu einer Blüte kritischer Medientheorie geführt.65 Ihr Schwerpunkt lag auf der Behauptung populärer Ermächtigung durch einfach zu handhabende und vergleichsweise billige Apparate zur Ton- und Bildaufzeichnung. Sie sollten passive Konsumenten in aktive Produzenten verwandeln und es ihnen erlauben, die diktatorische Macht der Massenmedien zu brechen, sei’s im Sinne politischer Aufklärung, sei’s im Interesse ästhetischen Selbstausdrucks. Für den Film sprach etwa Robert Sklar von der Möglichkeit eines befreienden »personal cinema within the framework of movie commerce«.66

Für das Fernsehen schien dergleichen Privatisierung und Personalisierung noch utopischer. Doch auch dieses Massenmedium experimentierte mit der Aktivierung des Publikums, etwa durch das Einholen von spielerisch inszenierten Zuschauervoten.67 Das Millionenspiel nahm diese Anstrengung wiederum spielerisch auf – schon in der Ansage mit dem Bezug auf ein fiktives »Gesetz zur aktiven Freizeitgestaltung«. Später werden Hilfestellungen von »Samaritern«, mitspielenden Bürgern also – ob nun echt oder von der Regie vorgetäuscht –, ein zentrales Element des Spielverlaufs. Innerhalb seiner Dystopie entwarf das Millionenspiel damit die Utopie eines aktiven Publikums, das persönlich vor Ort, fernmündlich und auch durch Geldzahlungen mitspielt.

 

Indem Das Millionenspiel aber die Gewohnheiten von Studioshows in die Realität exportiert, verwandelt es städtischen wie ländlichen Raum in ein panoptisch aufgerüstetes Spielfeld. Zur unbefragten logistischen Voraussetzung hat die fiktive Spielshow eine Überlagerung der Realität mit breitbandigen Kommunikationsstrukturen: Kameraaugen und A/V-Vernetzungen, Telefon- und Funkverbindungen, wie sie erst Jahrzehnte später durch Smartphones und digitale Netzwerke alltäglich werden sollten. Auf diesem dystopisch-utopischen Spielfeld entscheidet vor allem das Mitspielen ›normaler Bürger‹ über Gewinn und Verlust (eines Lebens). Die fiktiven Fernsehmacher werden so zu Game Designern: »The game designer (unlike the TV or cinema filmmaker) is not the producer of a finished work in the traditional sense but [...] a designer and builder of structures of play.«68 Diegetisch können die Produzenten des Alternate-Reality-Millionenspiels im Millionenspiel nur durch Schummeln – durch stete Täuschung des Publikums – die Kon­trolle über den Ablauf einigermaßen behalten. Für die fiktiven Mitspieler aber gilt: Dieses Spielen wie das digitaler Games »can be seen as part of a disciplinary reconfiguration of attention along the lines of postindustrial production.«69

Über die zeitgebundene Fernseh- und Kulturkritik hinaus gelang dem Millionenspiel damit langfristig Wesentlicheres: Es verlieh dem zeitgenössischen Prozess der Medialisierung, der Zurichtung des Alltags durch und für die Massenmedien, in provozierender Überzeichnung eine ästhetische Gestalt und machte sie damit für die Zeitgenossen allererst sichtbar. Daraus resultierte sein bleibender Einfluss auf die Fernsehmacher selbst. Trotz des hinderlichen Umstands, dass der Fernsehfilm auf Grund von Urheberrechtsproblemen – der WDR hatte die Verfilmungsrechte von einem deutschen Verlag erworben, der sie gar nicht besaß – über drei Jahrzehnte nicht ausgestrahlt oder auch nur öffentlich gezeigt werden durfte70, beeinflusste Das Millionenspiel wie »kaum eine andere fiktionale Produktion des deutschen Fernsehens [...] die Entwicklung der deutschen Fernsehfiktion – auf direkte wie indirekte Weise.«71

6 Spiel mit der Faktionalität III: Smog und F for Fake

Verhältnisse, die ihrer Realisierung noch harrten, imaginierte Wolfgang Menge auch in der dritten Faktion, die er um die Zeit schrieb, als Das Millionenspiel zum ersten Mal ausgestrahlt wurde: einen Smogalarm im Ruhrgebiet. Das Thema war für die damalige Zeit ungewöhnlich. Die Umweltschutzbewegung steckte erst in ihren Anfängen, ungehemmte Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung waren die industrielle Regel, die Partei der Grünen musste erst noch gegründet werden. Bis in kleinste Details folgte das Drehbuch zu Smog72 tatsächlich existierenden Notfall-Planungen. Wie diese Authentizität zustande kam, erzählte einmal Redakteur Peter Märthesheimer:

»Wir hatten ein Gespräch mit dem Referenten im nordrhein-westfälischen Innenministerium – es war übrigens das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, aber es ist ungefähr das Innenministerium –, und diesem Referenten war es erlaubt worden von seinem Minister, dem WDR diesen Smog-Alarmplan zu zeigen, zur Einsicht, aber nicht, ihn mitzugeben. Und da hat der Menge das Kunststück fertiggebracht, genau dieses Dokument zu stehlen – aus einem nordrhein-westfälischen Ministerium. Ich habe es dann zwei Tage später zurückgeschickt mit einer höflichen Entschuldigung, dass wir das leider versehentlich eingesteckt hätten. Wir hatten es ja mittlerweile auch kopiert ... Es war ja nur im Interesse des Ministeriums, weil auf diese Weise haben wir die Maßnahmen des Ministeriums auch wahrhaftig dargestellt.«73

Der Fernsehfilm wurde von – dem damals noch unbekannten – Regisseur Wolfgang Petersen für 700 000 Mark mit einem Aufwand realisiert, der schon wenige Jahre später nicht mehr denkbar gewesen wäre: Drehzeit zwei Monate, 85 Originalschauplätze, 80 Rollen – darunter einige bekannte TV-Journalisten, die sich selbst spielten.74 Als faktionales Gerüst zur erzählerischen Aufbereitung des Notfallplans diente wiederum ein Fernsehformat: das Regionalmagazin des WDR. Freilich hielten sich, anders als in der Dubrow-Krise und dem Millionenspiel, jene Teile, in denen die mediale Verarbeitung eines Smogalarms simuliert wurde, mit Elementen klassischer TV-Narration die Waage. Gegliedert in drei Tage – Akte – schilderten Menge und Petersen in einem naturalistisch radikalisierten Stil von Familienserie und Fernsehspiel die Versuche verschiedener sozialer Gruppen, die Notsituation zu bewältigen: den Kampf einer Angestelltenfamilie um ihr erstickendes Kind, die gleichgültige Reaktion einer Industriellenfamilie, deren Unternehmen zur Umweltverschmutzung beiträgt, das hilflose Handeln der Behördenvertreter, die den Smogalarm so lange verwalten, bis sich das Problem durch wechselndes Wetter von selbst löst.

Um zu zeigen, was sich eigentlich nicht zeigen ließ – Smog –, griff der Fernsehfilm zu einer Reihe cinematisch-fiktiver Mittel. Die Handlung spielte etwa entgegen aller Wahrscheinlichkeit durchgängig in äußerst trübem Wetter, und die Luftverschmutzung zerfraß bildträchtig die Fasern von Nylonstrümpfen. [Abb. 7] Der Spiegel beschrieb die Szenerie apokalyptisch:

»Leise rieselt das Gift. Damenstrümpfe zerreißen auf der Straße, in den Blumenkästen sterben die Tausendschönchen ab. Fußgänger torkeln übers Pflaster, Autofahrer hängen bewußtlos am Steuer, Fußballspieler brechen auf dem Rasen zusammen, Säuglinge würgen in Atemnot – Schwefeldioxid liegt in der Luft.«75

Bereits die Ankündigung, dass der Fernsehfilm produziert werde, führte zu größeren Protesten der Ruhrpott-Regionalpolitik gegen den, wie etwa Essens Oberbürgermeister klagte, »reißerisch aufgemachten Science-fiction-Film«.76 Sogar zu einer parlamentarischen Anfrage im nordrhein-westfälischen Landtag kam es. Nach der Ausstrahlung zur besten Sendezeit an einem Sonntagabend im April 1973 meldete die Westfälische Rundschau: »Smog alarmierte die Zuschauer.« 77 Beim WDR waren zahlreiche Anrufe eingegangen, in denen sich besorgte Zuschauer erkundigten, wie sie sich angesichts der gefährlichen Smoglage verhalten sollten. Wolfgang Menge, den das Thema Umweltzerstörung beschäftigte, seit er in den frühen sechziger Jahren Rachel Carsons Silent Spring78 gelesen hatte, sah ursprünglich die Vermischung und auch Verwischung zwischen faktischer Information und fiktionaler Spielhandlung noch radikaler vor:

»Ich hatte das so konzipiert, dass wir gleich nach der Tagesschau anfangen. Schon im Wetterbericht sollte die angebliche Smoglage gemeldet werden. Aber nach den Erfahrungen mit dem Millionenspiel, wo so viele Leute die Sendung Ernst genommen haben, trauten wir uns das nicht mehr. Wenn da irgendwelche Leute mit ihren Kindern auf die Autobahn gegangen wären, um zu flüchten, und dann wären womöglich noch Unfälle passiert! Das konnten wir einfach nicht verantworten ...«79

Das Presseecho auf die ungewöhnliche Produktion war generell freundlich. Die Zeit urteilte etwa unter der Überschrift »Qualm mir das Lied vom Tod«, der Film sei »ganz einfach spannend.«80 Für das Drehbuch erhielt Menge den Fernsehspielpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Sechs Jahre später, als 1979 im Ruhrgebiet tatsächlich der erste Smogalarm ausgerufen werden musste, bestätigte sich dann einmal mehr die so genannte Hellsicht des Smog-Autors, realiter die Genauigkeit seiner Recherchen und sein ungewöhnliches Talent, Alltagsreaktionen auf ›große Ereignisse‹ zu imaginieren. »Wolfgang Menge ist ein Unikum unter den deutschen Drehbuchschreibern«, meinte eine Kritikerin: »Er versteht es nämlich, Tatsachen und Erfindungen zu einem so seltsamen Gemisch zu verbinden, dass die Wirklichkeit durchsichtig wird.«81 Und Günter Rohrbach, unter dessen Ägide als WDR-Fernsehspielchef Millionenspiel und Smog produziert worden waren, schrieb 1984, zu Menges sechzigstem Geburtstag: