Der Televisionär

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I Vor dem Fernsehen: Zeitung, Radio, Film

Das Verlangen nach Television scheint so alt wie die Menschheit. In der westlichen Neuzeit lässt es sich über die Jahrhunderte hinweg auf eine lange Reihe mechano-optischer Schauapparate zurückverfolgen.

1 Zur Vorgeschichte der Television: Sehnsüchte

Grundsätzlich gliedern sich die televisionären Bestrebungen in zwei Varianten. Zum einen galt die Suche technischen Apparaturen, die – wie etwa das von Galileo Galilei im frühen 17. Jahrhundert entwickelte Fernrohr – Bli­cke auf ferne Realitäten ermöglichten, die das bloße Auge nicht mehr erkennen konnte, die jedoch dem Prinzip nach zeitgleich existierten. Zum anderen ent­standen technische Apparaturen, die – wie der seit dem 17. Jahrhundert be­kannte und seit dem 18. Jahrhundert äußerst populäre Guckkasten – Blicke auf Realitäten ermöglichten, die malerisch oder drucktechnisch erzeugt und über Lichteffekte optisch inszeniert oder auch animiert wurden, also dem Prinzip nach nicht vorgaben, zeitgleich zu existieren. Unter ihnen lassen sich wiederum faktisch und fiktional orientierte Darstellungen unterscheiden, also einerseits Inszenierungen von Orten und Ereignissen, welche die Macher aus eigener Anschauung kannten, wie etwa Nachempfindungen ferner Landschaften oder Städte, und andererseits Inszenierungen von historischen oder fiktiven Orten und Szenen, die frei gestaltet wurden, wie z. B. die Nachstellung von Szenen aus der klassischen oder christlichen Mythologie.

Deutlich zeichnen sich so in den Vorläufermedien des industriellen Fernsehens bereits seine beiden hauptsächlichen Leistungen und Aufgabenfelder ab: die Live-Übertragung und das Transportieren beziehungsweise Versenden von vorproduziertem Material, sei es fiktional oder non-fiktional.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten dann Anstrengungen ein, mittels fortgeschrittener technischer Mittel und Medien dem In-die-Ferne-Sehen eine neue industrielle Gestalt zu geben: Bilder und später auch Töne sollten nun in Echtzeit von einem Ort an einen anderen transportiert werden.1 Zweierlei ist an diesem Ursprung der Television – der Terminus selbst wurde erst um 1900 geprägt2 – medienhistorisch auffällig. Zum einen kamen Versuche zur Fernübertragung von stehenden und laufenden Bildern gleichzeitig in mehreren Ländern auf: »This was a typical case of simultaneous conception; inventors followed, drawing on similar educations and inspiration by scientific discoveries and technological developments in the last quarter of the nineteenth century.«3 Zum anderen verliefen die ersten Versuche, das Fernsehen als Medium für den Transport von Bildern über den Raum zu erfinden, parallel zu neuen und ebenfalls auf industrieller Technologie beruhenden Bemühungen um die Erfindung des Films – eines Mediums also, das reale Ereignisse in Form bewegter Bilder speichern und damit nicht nur über den Raum, sondern auch über die Zeit transportieren konnte.

Den technologischen Weg für die Television hatte seit den 1830er Jahren eine Reihe außerordentlicher Erfindungen bereitet, insbesondere die Telegrafie, die Fotografie beziehungsweise Chronofotografie, die Anfänge des Bildfaxes, die Telefonie und die Verbesserung elektrischer Birnen.4 In ihrer Summe führten sie dazu, dass um 1880 eine Vielzahl von Wissenschaftlern und Hobbyisten in mehreren Zentren der Industrialisierung – insbesondere in England, Deutschland, Frankreich und den USA – zu der Ansicht kam, die Fernübertragung laufender Bilder, wie sie wenige Jahrzehnte zuvor noch fantastisch erschien, sei in den Bereich des technisch Möglichen gerückt. Gedacht war zu diesem Zeitpunkt noch an einen Transport über Kabel nach dem Modell von Telegrafie und Telefonie, da die Existenz elektromagnetischer Wellen erst 1887 von Heinrich Hertz bewiesen und ihre Übertragungsfähigkeit erst Mitte der 1890er Jahre von Guglielmo Marconi demonstriert wurde.

Dabei stellte sich den Fernseh-Forschern bis in die 1920er Jahre hinein ein dreifaches Problem: Wie lässt sich am Sendepunkt Licht in elektrische Signale umwandeln? Wie können diese elektrischen Signale für die Übertragung genügend verstärkt werden? Wie lassen sich die elektrischen Signale am Empfangspunkt gleich wieder in Licht zurückverwandeln?5 Zwei prinzipielle Lösungsansätze konkurrierten miteinander: der mechanische und der elektronische. Während der mechanische Ansatz zu den ersten Erfolgen führte – einige experimentelle Sender nahmen 1929 in den USA und England sowie 1932 in Deutschland ihren Betrieb auf –, setzten sich im Laufe der 1930er Jahre dann elektronische Verfahren durch, basierend auf der 1897 erfundenen Braunschen Röhre.6

2 Jugend ohne Fernsehen: Medien, Krieg, Flucht, Frieden

Wichtige Anfänge datieren auf das Jahr 1924.7 Im Januar starb Wladimir Iljitsch Lenin. Sein Nachfolger Josef Stalin ordnete die erste einer langen Reihe von ›Säuberungen‹ in der kommunistischen Partei Russlands an. In Deutschland begann Ende Januar der Hochverratsprozess gegen Adolf Hitler und seine Mitverschwörer beim gescheiterten Putsch vom 9. November 1923. Im Februar hielt Calvin Coolidge als erster US-Präsident eine Radioansprache, und in der britischen Zeitschrift Radio Times erschien unter dem Titel »Seeing the World from an Armchair: When Television is an Accomplished Fact« ein Artikel, basierend auf Experimenten von John Logie Baird, einem Pionier des mechanischen Fernsehens, demzufolge der Durchbruch des neuen Bildmediums unmittelbar bevorstand.8

Im März endete in der Türkei das islamische Kalifat, die säkulare Modernisierung des Staates unter Kemal Atatürk setzte ein. Ende März wurden im inflationsgeplagten Deutschland die letzten Papiermarkscheine im Wert von fünf Billionen Mark gedruckt. Nach der Umstellung auf die neue Reichsmark, zu der es im August kommen wird, werden sie fünf Mark wert sein. Am 1. April wurde Adolf Hitler wegen Beihilfe zum Hochverrat zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Noch vor Weihnachten desselben Jahres sollte man ihn wieder in die Freiheit entlassen. Am 6. April fanden in Italien Wahlen statt. Die Faschisten, angeführt von Benito Mussolini, gewannen sie mit einer Zweidrittelmehrheit.

In diese Welt wurde am 10. April 1924 Wolfgang Menge geboren; als erstes Kind eines – wie es nach 1933 heißen wird – ›arischen‹ Vaters und einer jüdischen Mutter.9 Der Vater Otto Menge war Kaufmann und handelte mit automatischen Waagen. Die Mutter Golditza, geborene Schorr, stammte aus Rustschuk - heute Russe –, demselben bulgarischen Dorf, in dem auch Elias Canetti das Licht der Welt erblickte. Wenige Monate nach Geburt des ersten Sohnes zog die Familie von Berlin nach Hamburg.10 Politisch waren Otto Menge und seine Familie zerrissen, ein Umstand, der zu der späteren Distanz Wolfgang Menges beigetragen haben mag, wie sie Marlies Menge beschreibt:

»Wolfgang hatte sich lange Zeit kaum für seine Vorfahren interessiert. Es sei denn, sie waren für eine Geschichte gut. Wie die vom Bruder seines Vaters. Otto Menge, sein Vater, hatte zwei Brüder. Da war Karl, ein alter Kämpfer, soll heißen: ein frühes NSDAP-Mitglied, ein höherer Beamter, nämlich Stadtdirektor in der Verwaltung von Braunschweig, so dass es – nur sehr vielleicht – sein kann, dass er es war, der Hitler eingebürgert hat. Denn der Österreicher Hitler wurde erst durch einen Braunschweiger Beamten Deutscher. Das ist amtlich. Ob dies nun wirklich der Bruder meines Schwiegervaters war, ist nicht bekannt. Für Wolfgang war es eine wunderbare Geschichte. Der zweite Bruder war Kassierer bei den Elektrizitätswerken. Otto Menge, Wolfgangs Vater, war [...] kein Nazi. Er hätte sonst kaum in der Nazizeit zu seiner jüdischen Frau gehalten.«11


In Wolfgang Menges Kindheit waren laufende Bilder noch stumm. Der Aufstieg des Radios zum Massenmedium und die Einführung des Tonfilms fanden dann primär in Diensten eines Regimes statt, das ihn zu einem Außenseiterdasein verdammte: »Ich bin völlig ohne Freunde groß geworden, völlig allein. Ich habe mich immer gewundert, dass ich keine Freunde hatte in der Klasse. Und das hat mir meine Mutter dann erklärt.«12 Zu seinen frühen Erinnerungen gehörte ein Einkauf:

»Meine Eltern hatten wenig Geld. Ich musste dann in Hamburg irgendwohin fahren, wo die Schaufenster kaputt waren. Das war nach der Reichskristallnacht, da ist meine Mutter mit mir hingegangen und hat mir Schuhe gekauft.«13


Generell aber, das hat Wolfgang Menge immer wieder betont, erinnerte er so gut wie nichts aus seiner Kindheit und Jugend.

»›Sehen Sie‹, sagt Menge, ›ich halte Leute für unseriös, die behaupten, sie könnten sich an ihre Kindheit und Jugend erinnern. Ich glaube, daß da sehr viel im Nachhinein zurechtgelegt wurde.‹

›Wußten Sie, daß Ihre Mutter ...?‹

›Ja, schon. Aber wann? War ich mir schon 1935 oder 1936, also während der Schulzeit, darüber im klaren, daß meine Mutter Jüdin war? Ich weiß es nicht. Ich habe das möglicherweise wie alle Deutschen nicht wahrhaben wollen.‹«14

Nach dem Schulabschluss absolvierte Menge Anfang der 1940er Jahre eine kaufmännische Lehre und verkehrte, wie Sabine Hering schreibt, »in einem illustren Freundeskreis, zu dem viele Künstler« gehörten.15 In diesen Jahren begann seine Liebe zur Literatur: »Der Vater von einem Freund fuhr zur See und brachte immer Bücher mit, die verboten waren, zum Beispiel Stefan Zweigs Die Welt von gestern.«16 Darüber hinaus hörte die Familie – ebenso verbotenes – englisches Radio, »den Sender Gustav-Siegfried-Eins, nicht zuletzt wegen der Musik.«17

1941, mit 17 Jahren, wurde Wolfgang Menge – nach den Kriterien des Rassenwahns ›M1‹ (›Mischling ersten Grades‹) – zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, 1942 dann zu einer Sondereinheit der Armee, die ab 1943 in Polen stationiert war [s. Abb. 2]:

 

»Ich war ja bei der deutschen Wehrmacht tätig ein paar Jahre lang, ohne großen Erfolg bedauerlicherweise. Denn ich bin ja nicht mal Gefreiter geworden, was glaube ich keinem Menschen gelungen ist – so lange dabei zu sein, ohne zumindest Obersoldat zu werden ...«18

Damals trug er immer Gift bei sich, das er sich von einem befreundeten Arzt besorgt hatte. 1944 wurde seine Einheit in Polen eingekesselt und Menge leicht verwundet. Sabine Hering beschreibt, wie er sich daraufhin mit Hilfe eines Tricks ausfliegen ließ:

»Er geht mit einem Zettel um den Hals, auf dem vermerkt ist, dass er behandelt werden soll, um ein Flugzeug herum, in dem Schwerverletzte ausgeflogen werden. Der beaufsichtigende Offizier sieht das und sagt: ›Nun steigen Sie doch endlich ein!‹ Das tut er auch und kommt auf diese Weise nach Schlesien in ein Lazarett. Durch gefälschte Papiere, welche ihm eine Krankenschwester besorgt und die ihn als Schwerkranken ausweisen, kann er dort eine Weile bleiben.«19

Schließlich floh er:

»Ich war im Lazarett. Und bin dann etwas vorher nach Hause gefahren. Wie nennt man das? Fahnenflucht oder so. Als ich sah, dass ich meine Eltern nicht mehr gefährde, bin ich abgehauen und habe mich versteckt.«20

Sabine Hering schildert diese Flucht – aus der Gegend um Wien21 – detaillierter und dramatischer:

»Als die Front näher rückt, desertiert er mit zwei Kumpeln zusammen in einem Kübelwagen Richtung Hamburg. Sie schlängeln sich zwischen der amerikanischen und russischen Front durch. Eine SS-Streife, die sie unterwegs anhält, schießen sie nieder. Als sie zu dritt in Hamburg ankommen, wird einer von ihnen als Deserteur gefasst und erschossen.«22

Menges Eltern hatten sich an der Ostsee in Sicherheit gebracht. Er selbst versteckte sich bei Freunden im ausgebombten Hamburg. Eine Weile nächtigte er im Keller des leerstehenden schwedischen Generalkonsulats. So feierte er, in steter Todesgefahr, seinen einundzwanzigsten Geburtstag. Einen knappen Monat später endete der Zweite Weltkrieg. Menge erkannte es zuerst daran, dass im Radio plötzlich die – von ihm verehrten – Andrews Sisters gespielt wurden.23 Sofort ließ er sich von einem Freund, dem Kunststudenten Bernd Hering, falsche Papiere herstellen, um der Internierung durch die britische Besatzungsmacht zu entgehen.

Nach einem »ersten Durchatmen«, wie er es einmal nannte, stellte sich ihm im Sommer 1945 die Berufsfrage. Kurzfristig betätigte er sich als Schwarzmarkthändler, wurde verhaftet und brillierte auf Grund seiner literarischen Vorbildung als Gefängnisbibliothekar.24 Nach einer – durch die erfolgreiche Bestechung eines Justizbeamten – vorgezogenen Entlassung schwankte seine Berufswahl zwischen Fotoreporter und Kabarettist. Unter einigen Mühen beschaffte er sich eine Fotoausrüstung. Gleichzeitig besuchte er immer wieder Kabarettvorstellungen in einem Kino am Eppendorfer Baum, nicht weit von seiner Wohnung. Besonders begeisterten ihn Werner Finck und Heinz Ehrhardt.

Zwei zentrale Elemente seines zukünftigen Werks deuteten sich in diesen Neigungen an: das Streben einerseits nach authentischer Dokumentation, andererseits nach ebenso geistreicher wie respektloser Kritik. Als sich erste Hoffnungen auf eine Karriere als Fotograf zerschlugen,25 verlegte sich Menge vom Bild auf den Text:


»Ich wollte irgendetwas mit Schreiben zu tun haben. Meine Neigung ging eher in Richtung Kabarett. Das war aber zunächst einmal unerreichbar für mich und deswegen habe ich mich halt umgesehen, was es in diesem Metier sonst noch alles gibt.«26

Um 1946 setzte so der Prozess einer Selbstfindung und auch bewussten Selbstkonstruktion ein, in dessen Verlauf der 22-Jährige sich so nachhaltig verändern sollte, dass er sich im Rückblick selbst kaum mehr wiedererkannt:

»Ich habe mir einen Stoß meiner alten Briefe vorgeholt, die ich von meiner ersten Verlobten zurückbekommen habe, und auch ein Tagebuch und andere Briefe aus der Zeit. Die habe ich alle durchgelesen, und es ist mir nichts von mir klargeworden. Ich kann’s nicht rekonstruieren. Auch die Nachkriegszeit nicht. Was da drin steht, scheint mir etwas zu sein, was ich nicht gewesen bin. Wie eine total fremde Person.«27


3 Journalismus I: Lehrjahre, Zeitung, Radio

Unmittelbar nach dem Kriegsende begann unter Kontrolle der West-Alliierten die (Re-) Konstruktion demokratischer Medien. Ein Zentrum dieses Neu-Aufbaus lag in der britischen Besatzungszone, vor allem in Hannover und Hamburg. Im Bereich des Rundfunks wurde das öffentlich-rechtliche System nach dem Vorbild der britischen BBC etabliert. Als größte Rundfunkanstalt in den Westzonen entstand der NWDR, »Mitbegründerin der ARD, maßgeblich für den Wiederbeginn des Fernsehens 1952.«28 Für die Massenpresse wurden unter Auflagen Lizenzen an – vermeintlich oder tatsächlich – nicht-vorbelastete Personen vergeben. Zwischen 1946 und 1948 begannen so die Karrieren, die Westdeutschland auf Jahrzehnte bestimmen sollten, u.a. von Rudolf Augstein (Der Spiegel), Henri Nannen (Stern) und Axel Caesar Springer (Hamburger Abendblatt).

Wolfgang Menge war insofern zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Nur wenige Wochen nach seinem Entschluss, ein neues Leben als Journalist zu beginnen, bewarb er sich beim German News Service. Die von der britischen Besatzungsmacht in Hamburg betriebene Nachrichtenagentur residierte wie der NWDR an der Rothenbaumchaussee [s. Abb. 4]:

»Ich bin da zuerst mit Gedichten hin. Die haben mich natürlich rausgeschmissen, aber ich bin immer wieder hingegangen [...] Man kann sich das heute überhaupt nicht mehr vorstellen, aber es war wirklich so, dass man von diesem Beruf eigentlich so gut wie nichts wusste. [...] Es ist mir dann tatsächlich gelungen, ein Volontariat zu bekommen. Das hat mir nach einiger Zeit auch großen Spaß gemacht. [...] Ich habe da in der Innenpolitik gesessen.«29

Auf die Dauer allerdings lag ihm abhängige Bürotätigkeit nicht. In Hamburg waren Mediengründerzeiten. Mit seinem Freund Richard Gruner, Lehrling bei der Traditionsdruckerei Broschek, Sohn des Besitzers der Dru­ckerei Gruner & Sohn in Itzehoe und später Mitbegründer des Großverlags Gruner + Jahr, versuchte Wolfgang Menge, nebenbei ein Jugendmagazin zu entwickeln, das sie lebensbejahend Ja nannten. Chefredakteur Menge – »Das war ich wohl ...«30 – füllte die Probenummer mit satirischen Artikeln. Doch die Behörden erteilten den beiden Anfängern keine Lizenz.31 Der Nachwuchsredakteur musste weiter seine Bürostunden absitzen.


Ändern sollte sich das, wie Wolfgang Menge gerne erzählte, im Frühjahr 1947. Im Dezember zuvor war Richard Gruner senior bei einem Verkehrsunfall gestorben. Als einziger Nachkomme erbte Richard Gruner junior nicht nur die Druckerei, sondern auch die luxuriöse Borgward-Limousine seines Vaters. An einem der ersten warmen Tage des Jahres 1947 fuhr er mit ihr bei Wolfgang Menge vor.

»Die Freunde saßen auf dem Balkon und genossen die Sonne. Doch das Vergnügen fand ein baldiges Ende, denn um drei Uhr begann Menges Schicht [beim German News Service].

›Ich fahr dich natürlich hin‹, sagte Richard Gruner.

Als sie am Rothenbaum ankamen, fragte Menge: ›Und was machst du jetzt?‹

›Ich lege mich in die Sonne, in meinen Garten.‹

›Warte mal ‘n Moment.‹

Menge verschwand in der Eingangstür seiner Arbeitsstätte.

Nach wenigen Minuten kehrte er zurück. Die beiden Freunde fuhren nach Lokstedt, Wolfgang Menge hatte gekündigt, er wollte sich auch in die Sonne legen.«32

Es war die erste in einer lebenslangen Reihe von Kündigungen und Aufkündigungen, abrupten Enden und Neuanfängen. Nur ein paar Monate später sollte sich Wolfgang Menges Leben ein weiteres Mal verändern: Der Nachwuchsjournalist erhielt ein dreimonatiges Stipendium zu einer Fortbildung beziehungsweise ›Umerziehung‹ in Wilton Park. [Abb. 5] Während des Zweiten Weltkriegs war der englische Landsitz als Gefangenenlager genutzt worden.33 Ab 1946 wurden dort – zurückgehend auf eine Initiative Winston Churchills – Re-Education-Kurse durchgeführt:

»Die Lagerschule stand unter der Leitung des deutsch-jüdischen Emigranten Dr. Heinz Köppler, der von Anfang an offene, freie Diskussionen förderte. [...] Das Lehrerkollegium bestand zum Teil aus meist sozialdemokratisch orientierten deutschen Emigranten, zum Teil aus Engländern.«34

Der Erfolg des Programms führte bald dazu, dass zusätzliche Gäste aus Deutschland und anderen Ländern nach Wilton Park eingeladen wurden, »where they were educated on the British way of life and democracy.«35 Im Lauf der Jahre nahmen über 4000 Deutsche teil.36 Während seines dreimonatigen Kurses – »Eine hervorragende Einrichtung ...«37 – begann Wolfgang Menge, sich für das Leben der deutschsprachigen Emigrantengemeinde zu interessieren, deren Mitglieder zu einem großen Teil im Londoner Bezirk Swiss Cottage wohnten. »[D]a bin ich immer hingegangen, wenn ich Zeit hatte. Und so habe ich die noch kennen gelernt.«38 Einer seiner Bekannten offerierte ihm einen Job:

»Ich war da so zweiter Mann bei einem Emigranten-Korrespondenten, etwas über ein Jahr. [...] Ich wollte eigentlich nie wieder nach Deutschland zurück, ich wollte raus aus Deutschland.39 [...] Weil wir ja nicht diesen Bruch gehabt haben, wie alle Welt immer vermutet, dass nach 45 sich alles geändert hat. Es ist ja alles gemütlich weitergegangen, nur dass die Juden nicht mehr umgebracht wurden.«40

Aus den Erfahrungen seiner Zeit in Großbritannien rührte eine nachhaltige Prägung, Wolfgang Menges ›Britishness‹. Sie reichte von literarischen Vorlieben über den spezifischen Menge-Humor bis zu der Art, sich zu kleiden. Barbara Naumann spricht von »einer gewissen Conan-Doylisierung des Mengeschen Stils«.41 Vor allem anderen betraf sie sein Verständnis des Journalismus: dass es dessen vornehmste Aufgabe sei, Fakten zu ermitteln und zu vermitteln. Meinungsjournalismus verachtete Wolfgang Menge Zeit seines Lebens. Einen am Faktischen orientierten Realismus, gepaart mit respektlosem Witz und einem gewissen Galgenhumor, präferierte er nicht minder in der Literatur und den anderen Künsten.

Dieses Verlangen nach Authentizität korrelierte mit dem Zeitgeist. Im Film, dem wichtigsten Massenmedium, traten nach dem Kriegsende mehr denn je Züge des Dokumentarischen hervor, im italienischen Neorealismus, im deutschen Trümmerfilm, in semi-dokumentarischen Werken Hollywoods wie The House on 92nd Street42, Boomerang43 und The Naked City44. Dem Wunsch der vom Krieg desillusionierten Zeitgenossen, Wirkliches möglichst aktuell und unverstellt zu erfahren, entsprach die rasante Durchsetzung des Fernsehens, die in Großbritannien und den USA mit der Aufnahme des regulären Sendebetriebs unmittelbar nach dem Kriegsende begann.45

In London – in der Arbeit mit britisch geprägten deutschen Exil-Journalisten und durch die Erfahrung angelsächsischer Massenkultur – lernte Wolfgang Menge so kennen und können, was über Jahrzehnte hinweg sein Werk und vor allem seine künstlerischen Arbeiten für Film und Fernsehen kennzeichnen sollte: das Handwerk des Recherchierens und die Kunst, Wissensvermittlung mit Unterhaltung zu verbinden. Zentral dafür war das literarische Genre des Tatsachenberichts. Viel später sollte er als Drehbuchautor daraus diverse audiovisuelle Spielarten entwickeln. Zunächst aber transportierte er es nach Deutschland, als er im Januar 1949 nach Hamburg zurückkehrte:

»Da war das Hamburger Abendblatt vier Wochen alt. Ich ging meine alten Kollegen vom News Service besuchen, die alle dort waren. Und da habe ich gesagt: ›Hier fange ich auch an.‹ Da haben die gesagt: ›Tut uns leid, wir haben alle Ressorts besetzt.‹ Nur bei Lokales war noch der Job eines Reporters frei. Und ich wollte eigentlich nach Afrika. Aber bei einem Faschingsfest lernte ich ein Mädchen kennen. Eine Woche später habe ich dann gesagt: ›Gut, ich mache den Lokalreporter.‹«46


In dieser Zeit befreundete sich Menge nicht nur mit Axel Caesar Springer und seinem einflussreichen Generalbevollmächtigten Christian Kracht, er erprobte auch journalistisch, was er in England gelernt hatte, und schrieb erste umfangreiche Tatsachenberichte. Der unmittelbare Anlass dafür war sein Verlangen nach – natürlich britischen – Autos:

 

»Ich wurde auf die erste Automobilausstellung nach dem Kriege geschickt, die in Frankfurt stattfand. Da war ein Auto, ein MG, so schön, mit Speichenrädern, freien Scheinwerfern, Faltdach. Der Motor zum Scheibenwischer war ein Extra, der war eigentlich mit Handbetrieb [...] Man bekam sein Geld als Journalist damals ja gleich immer in bar, und das steckte ich immer in meine Hemdtasche. Wenn die Seite fertig war, dann wurde schon der Anstrich gemacht, da hat der Chef seine Honorare hingeschrieben, und man hatte ja jeden Tag etwas im Blatt. Da sind wir dann schon zur Kasse gegangen, noch bevor die Zeitung auf dem Markt war [...] Also, ich fasse in meine Hemdtasche und da waren ungefähr 400 Mark. Damit habe ich das Auto angezahlt und einen Wechsel unterschrieben [...] Und jetzt kam ich nach Hamburg und dachte, um Gottes Willen, wie kriegst du das Geld zusammen? Das waren neun-, zehntausend Mark, ein wahnsinniges Geld! [...] Und da habe ich dem Chefredakteur des Hamburger Abendblatts eingeredet, wir müssten mal so einen Tatsachenbericht machen – das kannte ich aus England. Der wusste gar nicht genau, was das ist, etwas in Folgen. Und dann habe ich irgendeine Mordgeschichte aus dem Hamburger Hafen mit Fortsetzungen gemacht, mit einem ordentlichen Honorar. [...] Und dann fand ich dieses Schreiben von Tatsachenberichten ganz lustig.«47


Gleichzeitig begann Menge, um seinen MG zu bezahlen, freiberuflich für den NWDR zu arbeiten. Zudem erfand er eine satirische Kolumne für das Hamburger Abendblatt, die er unter dem Pseudonym »Onkel Hugo« verfasste: »Die Idee war, über Meldungen zu schreiben, die normalerweise in den Papierkorb fallen, etwa ein Kleingärtner aus Lokstedt ruft an im Frühjahr, die erste Rose ist erblüht ...«48 Nach zweieinhalb Jahren jedoch endete sein Dasein als Lokalreporter abrupt: Im Hamburger Abendblatt erschien, mit Billigung des Verlegers, ein Beitrag von Karl Aloys Schenzinger, dem Verfasser des NS-Propagandaromans Hitlerjunge Quex.49 »Das konnte ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren und habe dann als jüngster und erster überhaupt bei Axel Springer gekündigt.«50

Der NWDR beschäftigte ihn sofort als Festen Freien in der Redaktion »Unterhaltendes Wort«.51 Dort geriet Wolfgang Menge in eine andere Tradition, von der später auch seine Fernseharbeiten geprägt werden sollten: die des ›Kulturauftrags‹. Konstitutiv war für sie eine Verbindung von Bildung und Unterhaltung, wie sie vor allem die Radiopioniere Hans Bredow und Hans Flesch formulierten und wie sie das deutsche Radio seit der Mitte der 1920er Jahre und bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 kultiviert hatte.52 Nach dem Krieg suchte das bundesrepublikanische öffentlich-rechtliche System an diese Tradition anzuschließen. Menge hatte eine zweiwöchige Kabarettsendung namens Karussell zu betreuen und war nun seinem ursprünglichen Berufswunsch sehr nahe gekommen. Doch zufrieden war er nicht:

»Ich wusste nicht, was ich da machen sollte. Ich habe immer rumgesessen und in der Nase gebohrt. [...] Ich habe den Redakteur immer gefragt, es muss doch etwas zu tun geben? Aber der selbst tat überhaupt nichts und konnte mich nicht verstehen.«53


Aus »lauter Verzweiflung« und im Rückgriff auf seine ehemalige »Onkel Hugo«-Kolumne habe er, so Menge, dann die Radiosendung Adrian und Alexander entwickelt. Ihr berühmter Anfangssatz lautete »Hallo Nachbarn«. Das Publikum begeisterte sie nicht zuletzt auch durch die eklektische, sehr angelsächsische und von Menge verantwortete Musikauswahl: »Es war eigentlich eine Sendung, wie ich sie gerne gehört hätte.«54 Ihr wohl markantestes Element war die Stimme des Sidekicks, eines Homunkulus:

»Ich hatte mir in meiner jugendlichen Naivität ausgedacht, dass der Sprecher anschließend ein rückwärtslaufendes Band abspult und quasi mit diesem Band spricht. Denn dieses Geräusch hatte mir immer großen Spaß gemacht. [...] Das hat aber irgendwie nicht funktioniert. Ich habe dann den Regisseur, der bei den Aufnahmen ohnehin immer ein wenig gestört hat, dazu bewegen können, dass er diese Stimme nachmacht.«55

Öffentliches Aufsehen und auch Anstoß erregte die Sendereihe bald durch ihre humoristisch verpackte, aber dennoch ungewohnt freizügige politische Kritik. Mit ihr bewies Wolfgang Menge zum ersten Mal »seine besondere Begabung [...], politische Zeitprobleme auf dem Wege spannender Unterhaltung bewusst zu machen«.56 Bereits nach einem halben Jahr gab es zu der Sendung eine Anfrage ihm Bundestag:57

»Da kriegte der Redakteur Albin Stuebs, auch ein Emigrant aus London [...], den Auftrag, von nun an sich die Sendung – wir haben die immer Freitag abends gemacht und Samstag wurde sie ausgestrahlt [...] – gefälligst vorher anzusehen. Der hat vorher immer dagesessen, hat sich tot gelacht über die Sendung, und von dem Moment an, wo er sie offiziell angucken sollte, um Böses zu verhindern, hat er sich überhaupt nicht mehr geregt, hat mit stummem Gesicht dagesessen. Er hat aber nie irgendwie eingegriffen [...]«58

Mit Adrian und Alexander erschrieb sich Wolfgang Menge zum ersten Mal eine gewisse Prominenz. Nach etwas mehr als zwei Jahren verließ er den NWDR wieder, um in Berlin – nach der Restitution des von den Nazis enteigneten Ullstein Verlags im Jahre 1952 – beim Aufbau der Berliner Morgenpost und der BZ mitzuarbeiten. Als freier Mitarbeiter aber blieb er dem Sender noch fast ein Jahrzehnt verbunden. In Berlin kaufte er, da das Hamburger Geschäft seines Vaters damals in Schwierigkeiten geraten war, seinen Eltern ein kleines Hotel. »Es war seine Idee, diese Pension ABC zu nennen, damit sie im Branchenverzeichnis ganz vorne steht.«59

4 Journalismus II: Korrespondent, Abschied

1954 ging Wolfgang Menge als Auslandskorrespondent für die – zwar gerade von Axel Springer erworbene, aber mit Autoren wie Sebastian Haffner und Erich Kuby immer noch überwiegend liberale – Tageszeitung Die Welt nach Ostasien. Zunächst aus Tokio60, dann aus der britischen Kronkolonie Hongkong61 schrieb er über gut drei Jahre hinweg politische Berichte, große Reportagen und auch Hörspiele. Während dieser Zeit lebte er im obersten Stockwerk des Hongkonger Foreign Correspondents Club – als einziger Bewohner des gewaltigen Gebäudes. Ein zentrales Thema war die Entwicklung in Mao-Tse-Tungs kommunistischem China.62

Das Hörspiel Das Wiedersehen etwa thematisierte das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, Liebe und Arbeit im Kommunismus chinesischer Prägung: Zwei junge Liebende vom Land werden dadurch getrennt, dass der Mann, der »Schmelzmeister Wei«, in eine aus dem Boden gestampfte Industriestadt umziehen muss. In dem halben Jahr seit ihrer Hochzeit hat das Paar sich nur zwei Tage sehen können. Nun darf die junge Hao ihrem Mann nachfolgen, weil beiden eine Wohnung in einem Neubau zugeteilt wurde. »Auf jedem Flur steht ein Lautsprecher... wir müssen ja die Vorträge gemeinsam hören können...«, schwärmt eine Mit-Bewohnerin.63 Doch als Hao am Bahnhof eintrifft, holt Wei sie nicht ab. Die Arbeit am Aufbau des sozialistischen Vaterlands geht vor. In der neuen, ihr noch unbekannten Wohnung muss Hao allein auf ihren Mann warten:

»Hao (für sich): Wie schön alles ist... (sie streicht über den Tisch) alles neu gestrichen... das Bett sogar aus Stahl... ein Küchenmesser ist auch da... nein, so was, ein Wasserklosett... (sie erinnert sich) einmal habe ich erst eins gesehen... im Kino in der Kreishauptstadt... und jetzt... für mich ganz allein... Aber das Schönste ist doch das neue Bildnis von Mao Tse-tung...«64

Während seiner Zeit als Korrespondent sammelte Wolfgang Menge auch erste Erfahrungen mit dem neuen Massenmedium Fernsehen:

»Ich war in Hongkong gewesen [...] und hatte dort für einen Freund bei ›movietone news‹, der von einer Segeltour nicht rechtzeitig zurückkommen konnte, eine Story über irgend so ein Schiff gemacht. Diese Sendung ist dann prompt auch bei uns im Fernsehen ausgestrahlt worden.«65