Das Science Fiction Jahr 2020

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Gemeinschaft und schwierige, komplizierte Beziehungsgeflechte sind ein weiteres Merkmal von queerem Weltenbau. Eine der am häufigsten vorkommenden unrealistischen Darstellungen von queeren Figuren ist diejenige, die sie allein auftreten lässt. Eine einzige queere Person in einem ansonsten heteronormativen Personenkreis mag sich als Konzept interessant anhören, ist aber völlig lebensfern gedacht. Queere Menschen suchen und finden einander, und oft ergeben sich dabei Gemeinschaften, die davon geprägt sind, aufeinander angewiesen zu sein und deshalb auch trotz größerer Differenzen zusammenzuhalten. Die bekanntesten Formate über queeres Leben, beispielsweise Serien wie Queer as Folk, The L Word oder Pose, beinhalten stets auch diese Gruppendynamik. Im Gegensatz dazu beginnen viele klassische Heldengeschichten damit, dass eine Gemeinschaft zurückgelassen wird oder verloren geht, wenn das Abenteuer ruft. Gerade beim freiwilligen Aufbruch der Held*innenfigur geht damit auch die Annahme einher, dass sich eine neue Gemeinschaft schon finden wird oder in die alte zurückgekehrt werden kann. Dies ist eine Annahme, die queere Menschen in der Realität nicht ohne Weiteres treffen können. Das Festhalten an einer Gemeinschaft trotz Differenzen zwischen ihren Mitgliedern, die Abhängigkeit voneinander und das stetige Aushandeln der Bedingungen des Zusammenlebens sind also weitere Elemente, die Erzählungen und fiktive Welten weniger heteronormativ machen. Solche Gemeinschaften finden sich beispielsweise in der Roman-Dilogie Semiosis und Interference von Sue Burke, in der von der Erde stammende Menschen einen neuen Planeten besiedeln und sich hierbei mit intelligenten Pflanzen arrangieren und mit diesen kommunizieren müssen. Auch in der WAYFARER-Trilogie von Becky Chambers geht es immer wieder um das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen und Spezies. Die MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood entwirft sowohl die Gardeners als Gemeinschaft, die nur gemeinsam gegen die Umweltkatastrophen anarbeiten kann, als auch die Idee von mehreren Spezies, die sich nach dem Untergang der Zivilisation miteinander arrangieren müssen.

Einen weiteren Aspekt von queeren Erzählstrukturen bezieht The Stars Change von Mary Anne Mohanraj mit ein. In dieser Sammlung von Kurzgeschichten, die zusammen eine übergreifende Romanhandlung ergeben, werden aus unterschiedlichsten Perspektiven die Ereignisse eines Bombenangriffs auf eine Stadt auf einem fremden Planeten erzählt, die von menschlichen Siedelnden und verschiedenen Aliens bewohnt wird. Das Besondere hierbei ist, dass all die unterschiedlichen Protagonist*innen der einzelnen Erzählungen durch verschiedenste Formen sexueller oder romantischer Beziehungen verbunden sind. Auch dies ist ein Merkmal queerer Gemeinschaften, die sich dadurch auszeichnen, dass auch Ex-Geliebte, ehemalige Affären oder Ehepartner*innen immer noch Teil derselben Gemeinschaft bleiben. The Stars Change thematisiert zudem auch das Konfliktfeld zwischen Herkunftsfamilie und Gemeinschaft – mal auf ganz deutliche Weise, indem eine der Protagonist*innen die Beziehung zu ihrer Freundin aus Angst vor der Reaktion ihrer Familie beendet, mal eher verklausuliert, indem ein Angehöriger einer Alienspezies lieber den Freitod wählt als sich, wie es seine Aufgabe wäre, seiner Familie als Nahrung zur Verfügung zu stellen.

Vom Suchen nach Identität

Die Suche nach der eigenen Identität, die tiefer geht als die Frage nach Herkunft oder Rolle in einer Gruppierung, ist eine weitere Möglichkeit, queere Geschichten zu erzählen. Die wenigstens cis-heterosexuellen Menschen denken darüber nach, ob sie auch wirklich heterosexuell sind, ob sie sich wirklich als cis bezeichnen dürfen, ob sie wirklich Teil der queeren Community sind. Für jene Personen, die von der heteronormativen Norm abweichen, bedeutet dies oft ein lebenslanges und immer wieder neu geführtes Nachdenken über und Definieren der eigenen Sexualität, Genderidentität und auch Körperlichkeit. Körperliche oder soziale Dysphorie, also das Gefühl von Unwohlsein mit dem eigenen Körper oder der von anderen auferlegten Geschlechterrolle, ist etwas, was vor allem trans und nicht binäre Personen (aber auch andere queere Menschen) kennen. Auf drastische Weise wird dies z. B. im Horror-Computerspiel The Missing thematisiert. Die Protagonistin J. J. kommt dem Ziel, ihre Freundin zu retten, nur näher, indem sie ihren eigenen Körper auf verschiedenste Weise verstümmelt, auseinanderreißt und als Werkzeug einsetzt, was sich im Verlauf des Spiels als Metapher für ihre (nicht geoutete) trans Identität herausstellt. Auch wenn Geschichten über queeren Schmerz immer vorsichtig betrachtet werden sollten, da zu oft queere Personen nur über ihre Identität und das Leiden darunter dargestellt werden, kann eine solche Umsetzung Aussagen über den Kampf treffen, den queere Menschen ausfechten müssen. Ein Review zum Spiel von Julie Muncy fasst es so zusammen: »Es geht um das dauerhafte Spielen einer Rolle, die nicht deine ist. Um den Schrecken, von deinem Umfeld nicht als ›männlich genug‹ angesehen zu werden. Um den stummen Schmerz, wenn deine Eltern und Freund*innen unsensible oder noch schlimmere Kommentare über die Art von Person machen, die du im Geheimen bist. Es ist der Schmerz von Geheimnissen, von systematischer Unterdrückung, von einer Gesellschaft, die etwas dagegen hat, dass du die Wahrheit über dich herausfindest.«

Ebenso wichtig wie Geschichten über den schmerzlichen Kampf mit der eigenen Identität sind solche, in denen die Suche nach ihr erfolgreich ist und in der die Grenzen der Erwartungen der Gesellschaft gesprengt werden können. Auch wenn es nicht direkt um queere Figuren geht, darf hier wohl die Serie Westworld genannt werden, in der es immer wieder darum geht, wie vor allem weibliche Figuren gegen die ihnen zugedachten Rollen rebellieren. Ein weiteres Beispiel ist der zweite Teil der WAYFARER-Trilogie von Becky Chambers, A Closed and Common Orbit (dt. Zwischen zwei Sternen), in dem eine KI und ein geklontes Mädchen versuchen herauszufinden, wer sie sind und wer sie sein wollen.

Die Akzeptanz des Andersseins

Im Weltenbau aus queerfeministischer Perspektive liegt eine große Chance darin, Gesellschaft anders zu denken, das Anderssein zu akzeptieren und anzunehmen und Eigenschaften positiv herauszustellen, die in unserer patriarchal-heteronormativen Gesellschaft abgewertet werden. Oft geht es in fiktiven Science-Fiction-Welten nur darum, wie sich diese technisch, biologisch oder physikalisch von unserer unterscheiden, während das Neu-Denken von Zusammenleben, Geschlechterrollen, Sexualität und Gesellschaftsstrukturen eine sekundäre Rolle spielt und reale Gegebenheiten nicht hinterfragt und übernommen werden. Eine wichtige Rolle beim Entwerfen einer im Grundsatz queeren Gesellschaft spielt der Gedanke, dass alle Personen mit ihren Eigenheiten, besonderen Stärken und Schwächen, ihrem Anderssein und ihren Absurditäten willkommen und wichtig sind. Dies gilt nicht nur für Queerness, sondern auch für körperliche und neurologisch-psychische Abweichungen von der Norm. So entwerfen beispielsweise Judith und Christian Vogt in ihrem Roman Wasteland eine Gemeinschaft, in der neurodiverse Personen (wie beispielsweise der bipolare Protagonist) ihren Platz finden und akzeptiert werden, ohne dafür ihr Anderssein durch Medikamente der Mehrheit anpassen zu müssen. Auch die Vorstellung der Kleinfamilie wird in diesem Roman aufgebrochen (beispielsweise durch drei in einer polyamoren Beziehung lebende Frauen, die gemeinsam eine große Gruppe von Enkeln erziehen), ebenso wie im dritten Band der WAYFARER-Reihe Unter uns die Nacht von Chambers, in der menschliche Siedelnde auf einem anderen Planeten in Kleinsteinheiten leben, die anarchistisch anmuten und gemeinsam über ihre Belange entscheiden. Auch Sexarbeit wird in diesem Buch positiv und ohne Stigma dargestellt.

Einen anderen wichtigen Aspekt greift Octavia Butler in Die Parabel vom Sämann auf, in der die Besonderheit der Protagonistin Lauren in ihrer Hyperempathie liegt. Erst durch ihre, in unserer Gesellschaft als zutiefst feminin angesehene Fähigkeit, das Leid anderer Menschen mitzufühlen und als das eigene zu empfinden, wird Lauren dazu angetrieben, eine eigene Gemeinschaft zu gründen und den Weg zu einem neuen und besseren Leben zu suchen. Auch die schon erwähnte MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood stellt die Gardeners, die mit Recycling, Pflanzenzucht und Imkerei ihre Lebensgrundlage in einer postapokalyptischen Welt schaffen, als eine Community dar, deren Stärke und Überleben von weiblich konnotierten Tätigkeiten abhängt. Auch in der aktuellen Situation der Corvid19-Pandemie zeigt sich, dass große und weltumstürzende Krisen nicht immer von einer einzelnen Held*innenfigur gelöst werden können, wie Laurie Penny in ihrem Artikel This is not the Apocalypse you were looking for feststellt. »Die Leute in der ersten Reihe sind keine Kämpfer*innen. Sie heilen und pflegen. Genau die Leute, deren Arbeit kaum einmal angemessen bezahlt wird, sind diejenigen, die wir wirklich brauchen, wenn es richtig schlimm aussieht. Pflegekräfte, Ärzt*innen, Reinigungskräfte, Fahrer*innen. Emotionale und häusliche Arbeit waren nie Teil der großartigen Geschichte, die Männer sich gegenseitig über das Schicksal der Menschheit erzählt haben – nicht einmal, wenn sie sich deren Untergang ausmalten.«

Als letzten Aspekt queerer Erzählungen möchte ich noch kurz auf die verwendete Sprache selbst eingehen. Das erste Neopronomen, das ich jemals las, stand nicht in einem Sachtext zum Thema Grammatik oder Nicht-Binärität, sondern in einem Roman, in dem eine nicht-binäre Figur vorkam. Science-Fiction-Geschichten können auch durch die sprachliche Komponente queere Inhalte transportieren. Wenn es geschlechtsneutrale Begriffe und Neopronomen gibt, sich Figuren einander mit ihren Pronomen vorstellen und auf abwertende Sprache gegenüber queeren Personen und anderen Marginalisierten verzichtet wird, wirkt sich dies nicht nur auf die Erzählung, sondern auch auf die Lesenden aus. Je mehr Perspektiven und Identitäten mitgedacht und berücksichtigt werden, desto mehr kann eine fiktive Geschichte auch in der Realität für mehr Akzeptanz und Rücksicht sorgen.

 

Jenseits der Fiktion

Zum Abschluss des Artikels möchte ich noch einmal auf die Heldenreise eingehen und behaupten, dass diese sich nicht nur in Geschichten, sondern auch in unserem Umgang damit fest verankert hat. Ein Buch verkauft sich besser, wenn ein Aufkleber verkündet, wie viele Wochen es schon auf der Bestsellerliste ist. Wenn wir auf Netflix eine Serie starten, sehen wir automatisch, welchen Platz sie im bundesweiten Ranking gerade hat. Filme werden noch einmal neu ins Kino gebracht, wenn damit der Rekord der meistverkauften Kinotickets gebrochen werden kann. Literaturpreise und Film-Awards sind bestimmt vom Gedanken an ein Siegertreppchen, einen Rekord, einen neuen Helden oder wenigstens eine neue Heldin. Gleichzeitig werden Inhalte, die umsonst verfügbar sind und die Mitglieder einer Community füreinander erschaffen und miteinander teilen – wie Fanfiction in unterschiedlichsten Formen, kostenlose Geschichten, Comics oder ganz andere Erzählformate – noch immer als minderwertig oder schräg angesehen. Dabei finden sich gerade dort oft Inhalte, die neue Wege gehen und die Stimmen marginalisierter Personen hörbar werden lassen.

Wo sind die Preisverleihungen für die Verlagsleiter*innen, die sich um ein diverses Programm bemühen? Für die Showrunner*innen, die darauf achten, dass im Writers Room und im Regiestuhl nicht nur weiße cis Hetero-Männer Platz nehmen? Für die Community-Organisator*innen, die darauf achten, dass sich alle wohl und sicher fühlen? Noch immer ist eine diverse und einander unterstützende Gemeinschaft weniger wert als die einzelne herausragende Person, und das ist deshalb eine zutiefst heteronormative Sichtweise, weil nicht-queere Personen eine Gemeinschaft, in der man sich wohlfühlt und akzeptiert wird, als selbstverständlich wahrnehmen.

Wenn wir also wollen, dass unsere Erzählungen diverser, queerer und inklusiver werden, müssen wir nicht die Fiktion selbst queer denken, sondern auch alle äußeren Umstände, die mit ihr einhergehen.

Joachim Körber

Wann ist ein Mann ein Mann?

Kurze Geschichte einer Verunsicherung

»Wann ist ein Mann ein Mann?« Diese Frage stellte 1984 der Schauspieler und Sänger Herbert Grönemeyer in seinem Song »Männer«. Darin verteidigte er teils recht brachial einen Männertypus, den viele, nicht nur Frauen, als Relikt der patriarchalischen Gesellschaft längst für überholt hielten, den Mann, der »wie blöde« rackert und »ständig unter Strom« steht. Die Frage ist, weshalb fühlte sich ein prominenter Sänger veranlasst, solchermaßen in einen öffentlichen Diskurs einzugreifen, den er sicher nicht losgetreten, aber mit seinem hitparadentauglichen Kommentar möglicherweise auf eine neue Stufe der Öffentlichkeit gehoben hatte?

Tatsache ist, dass die sogenannte Frauenbewegung etwa ab Mitte der 1960er-Jahre einen enormen Aufschwung erlebte und in den 1970er-Jahren zunehmend mehr Zulauf bekam; das sorgte für Irritationen unter der männlichen Bevölkerung, besonders in Deutschland, wo der Begriff »Feminismus« eher negativ besetzt ist und daher bis heute kaum verwendet wird – man bevorzugt hierzulande die eher Amtsdeutsch klingende Vokabel »Frauenfrage«. Gerade die Deutschen taten und tun sich traditionell schwer mit den Frauenrechten (so dürfen verheiratete Frauen in Deutschland erst seit 1962 ohne Zustimmung des Ehemannes ein eigenes Bankkonto eröffnen).

Aber natürlich beginnt die Geschichte des Kampfes um die Gleichberechtigung der Frau nicht erst in den 1960er-Jahren. In England zum Beispiel machte man sich schon deutlich früher Gedanken darüber, was Ausdruck fand u. a. in Schriften wie A Vindication of the Rights of Woman (1792) von Mary Wollstonecraft (Mutter der durch ihren Roman Frankenstein weltberühmt gewordenen Mary Shelley) oder The Female Advocate or An Attempt to Recover the Rights of Women from Male Usurpation (1799) von Mary Ann Radcliffe (nicht zu verwechseln mit Ann Radcliffe, der Verfasserin von Schauerromanen, der das Buch manchmal aufgrund der Namensähnlichkeit fälschlicherweise zugeschrieben wird). Beide Frauen setzen sich vehement dafür ein, dass Frauen Männern gleichgestellt und nicht von diesen unterdrückt werden, worin ihnen u. a. der Sozialphilosoph Charles Fourier beipflichtete, der gar mit der These hervortrat, dass Fortschritt auf gesellschaftlicher Ebene ohne mehr Rechte für Frauen gar nicht möglich wäre. »Der soziale Fortschritt […] erfolgt aufgrund der Fortschritte in der Befreiung der Frau«, schrieb er in seiner 1808 erschienenen Schrift Die Theorie der vier Bewegungen. [1]

Die Überlegungen, die in theoretischen Büchern niedergelegt wurden, fanden letztlich auch Niederschlag in der Literatur. Zu den bekanntesten feministischen Utopien zählt der Roman Herland (1915) der amerikanischen Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman. In dem Roman existiert eine entlegene, nur von Frauen bewohnte Enklave, die in Abwesenheit von Männern eine freie Gesellschaft ohne Krieg und Unterdrückung geschaffen haben. Neben dem utopischen Gesellschaftsentwurf geht es der Autorin in erster Linie darum, zu zeigen, dass Frauen – was heute nicht mehr so aufregend oder gar schockierend wirken mag, wie es damals vor allem auf das männliche Lesepublikum gewirkt haben muss – alles können, was Männer auch können. Das verdeutlicht sie unter anderem auch daran, dass sie ihren Frauen in Herland Positionen zuweist, die als Männerdomänen galten, die bestehenden Verhältnisse also nur ein wenig auf den Kopf stellt. Ähnlich, wenn auch mit deutlich satirischem Charakter, geht die norwegische Schriftstellerin Gerd Brantenberg in ihrem Roman Egalias døtre (1977, deutsch: Die Töchter Egalias) vor, indem sie in ihrem fiktiven Land Egalia die Männer zum schwachen, unterdrückten und ausgebeuteten Geschlecht, die Frauen dagegen zum starken und bestimmenden macht. Auffällig an beiden Büchern ist, dass keines die traditionellen Geschlechterrollen infrage stellt, sondern sie lediglich auf den Kopf stellt.

Was uns noch einmal zurück zu Herbert Grönemeyer führt. In seiner eingangs erwähnten kleinen Apologie des »Machismo« betont Grönemeyer, »Männer haben’s schwer«, denn sie »werden als Kind schon auf Mann geeicht«. Das wirft eine interessante Frage auf, nämlich die, ob und inwieweit geschlechtertypisches Verhalten tatsächlich zwangsläufig ist, mit anderen Worten, wird es uns in die Wiege gelegt oder anerzogen oder, nochmal anders formuliert, ist »Geschlecht«, abgesehen von tatsächlichen biologischen Unterschieden, etwas Reales oder nur ein gesellschaftliches Konstrukt?

Auch diese sogenannte Gender-Diskussion lässt sich bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgen und fand neben theoretischen – und mitunter sehr abstrakten und akademischen – Diskussionen auch Eingang in die Literatur. Verwunderlich ist das, wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, sicher nicht. Der Schriftsteller und Herausgeber Wolfgang Jeschke hat die Science Fiction einmal als »seismische Literatur« bezeichnet (eine wunderbare und ausgesprochen treffliche Definition), die stets mit feinem Gespür auf alle sozialen Erschütterungen reagiert. Und von diesen sozialen Erschütterungen gab es in den 1960er-Jahren reichlich. Es war eine Zeit des Umbruchs, ein Gemeinplatz, den man heute kaum noch wiederholen mag, der aber dennoch zutreffend ist. Veränderung lag in der Luft. The times they were a-changing. Nicht nur Frauen gingen zunehmend auf die Straße. Afroamerikaner organisierten sich in der Bürgerrechtsbewegung und forderten vehement Gleichberechtigung, und auch Schwule und Lesben hatten die Nase voll von Schikanen und Ausgrenzung, wehrten sich und gingen zunehmend selbstbewusster an die Öffentlichkeit. Weiße, heterosexuelle Konservative, die in den USA traditionell das Sagen haben, dürfte das alles bis ins Mark erschüttert haben.

In dieser Zeit war eine der Grundanforderungen an die Literatur, dass sie gesellschaftspolitisch relevant zu sein und Stellung zu beziehen hatte, und so verzeichnen wir auch eine zunehmende Politisierung, wenn nicht Radikalisierung, der »seismischen Literatur« Science Fiction, die sich, da zunehmend Frauen das Genre für sich entdeckten, auch dem Feminismus zuwandte.

Hortense Calisher (1911–2009) war eine amerikanische Schriftstellerin, deren Werk in Deutschland praktisch unbekannt geblieben ist. Sie schrieb vorwiegend realistische Romane (von denen nur ein einziger ins Deutsche übersetzt wurde). In ihrer Science-Fiction-Satire Journey from Ellipsia lässt sie einen geschlechtslosen Außerirdischen vom Planeten Ellipsia, Angehöriger eines kollektiven Volkes, das keine Vorstellung von Individualität hat, im Rahmen eines intergalaktischen Austauschprogramms die Erde besuchen, wo er sich mit der menschlichen Gesellschaft, dem Krieg der Geschlechter und Fragen sexueller Identität auseinandersetzen muss.

Eine der Schriftstellerinnen, die sich im Science-Fiction-Genre besonders radikal mit feministischen Thematiken auseinandersetzten, ist Joanna Russ. In ihrer Kurzgeschichte »When It Changed« (1972) entwirft sie die Welt Whileaway, eine Gesellschaft der fernen Zukunft, in der alle Männer schon vor Jahrhunderten durch eine Seuche ausgestorben sind. Als Astronauten (männliche) von der Erde den Planeten besuchen, empfinden sie die reine Frauengesellschaft als unzulänglich und verkünden, dass sie sich mit den Frauen paaren möchten, um den »natürlichen Zustand« wiederherzustellen. (Ähnlich geht Alice B. Sheldon, die den größten Teil ihrer Science Fiction unter dem Pseudonym James Tiptree Jr. veröffentlichte, in ihrer preisgekrönten Story »Houston, Houston, Do You Read?« (1976) vor: Hier werden Astronauten (männliche) der NASA mit ihrer Raumkapsel durch eine Sonneneruption in eine Zukunft geschleudert, in der nur noch Frauen auf der Erde leben. Sheldon schildert das Unvermögen der Männer, sich mit der Situation zu arrangieren oder die sexuellen Identitäten, die man ihnen ihr Leben lang eingebläut hat, zu hinterfragen, wenn nicht zu überwinden, besonders eindrucksvoll.)

In dem 1975 veröffentlichter Roman The Female Man (in deutscher Übersetzung unter den etwas unglücklich gewählten Titeln Planet der Frauen und Eine Weile entfernt veröffentlicht) kehrt Joanna Russ noch einmal auf den Planeten Whileaway zurück. Hier geht es um die Schicksale von vier Frauen auf vier Welten, deren Lebenswege sich kreuzen. Eine dieser Welten ist der Erde der 1970er-Jahre nachempfunden, wo die Protagonistin Joanna sich selbst als »female man« bezeichnet, da sie glaubt, dass sie sich in der männerdominierten Gesellschaft nur dann Respekt verdienen kann, wenn sie ihre weibliche Identität aufgibt; eine andere Welt präsentiert eine dystopische Zukunft, in der der Krieg der Geschlechter tatsächlich handgreiflich ausgefochten wird; eine ist eine Parallelwelt, in der der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden hat; und zuletzt Whileaway mit seiner von lesbischen Beziehungen geprägten Frauengesellschaft. Als die Frauen in die jeweils anderen Welten versetzt werden, zwingen die Begegnungen sie, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was sie, ihre Persönlichkeit und ihre Identität (auch die sexuelle) ausmacht.

Sowohl Hortense Calisher wie auch Joanna Russ waren Schriftstellerinnen, die von der literarischen Kritik und oft von Kollegen hoch geschätzt wurden, deren Bücher aber wenig Breitenwirkung entfalteten und vom Publikum nicht immer geschätzt, bis heute weitgehend vergessen wurden und bestenfalls noch Gegenstand akademischer Diskussionen sind. »Geschlechterfragen, Geschlechterfallen kannte sie gut. Missverstanden wurde sie oft: falsch gelesen, falsch nacherzählt, falsch gedeutet«, schreibt etwa Dietmar Dath in seiner monumentalen SF-Studie Niegeschichte über Joanna Russ. [2]

Diese Breitenwirkung zu erreichen, das blieb einer anderen Schriftstellerin vorbehalten, die in den USA stets zu den bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart gezählt wurde – und nicht nur der Science Fiction: Ursula K. Le Guin. Ihr umfangreiches Werk, das in deutscher Übersetzung nur sehr bedingt erschlossen wurde, umfasst Lyrik, realistische Geschichten, literatur- und kulturkritische Schriften, Kinder- und Jugendbücher, aber ihre bedeutendsten Leistungen liegen auf dem Gebiet der Science Fiction und Fantasy, wo sie sich als Vordenkerin in mancherlei Hinsicht erwies – so rückte sie etwa in ihrem Kurzroman The Word for World is Forest (1972, deutsch: Das Wort für Welt ist Wald) Ökologie und Umweltschutz in den Mittelpunkt, lange bevor eine breite Öffentlichkeit für die Thematik sensibilisiert war.

 

Nach Hortense Calisher, aber noch vor Joanna Russ setzte sie sich mit Feminismus und Gender-Thematiken auseinander; dies am eindrucksvollsten in dem 1969 veröffentlichten Roman The Left Hand of Darkness (deutsch Winterplanet, später Die linke Hand der Dunkelheit), einem mehrfach preisgekrönten Best- und Dauerseller, der sie als eine der wichtigsten Stimmen des Genres etablierte.

Der Roman erzählt die Geschichte von Genly Ai, der als Abgesandter der Ökumene (einer Föderation von Planeten) mit dem Auftrag zu dem Planeten Gethen geschickt wird, dessen Nationen für einen Beitritt zu der Föderation zu begeistern. Es ist aber von Anfang an klar, dass er die dortige Kultur nicht versteht. Die Gether sind ambisexuell, was bedeutet, sie kennen kein festgelegtes Geschlecht. Nur einmal im Jahr erleben sie eine Art Paarungszeit, in der sich dann entscheidet, welches Geschlecht der jeweilige Partner annimmt. Ai, der »auf Mann geeicht« ist und nur sein männliches Rollenverhalten kennt, fühlt sich recht unbehaglich in dieser Gesellschaft, besonders in Gegenwart des Gethers Estraven, mit dem er eine lange Reise unternehmen muss. Er nimmt Extraven als Mann wahr und stört sich an dessen Verhalten, das er häufig als »weibisch« empfindet, rückt jedoch im Lauf der gemeinsamen Flucht zunehmend von seinem männlichen Standpunkt ab und geht offener und entspannter mit der sexuellen Ambivalenz um.

Der Roman geht in weiten Teilen der Frage nach, inwieweit Sexualität und Geschlecht Einfluss auf die Gesellschaft haben, wobei Le Guin besonders die Androgynität der Gether nutzt, um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern in irdischen Sozialsystemen zu analysieren. (Genly Ai, der sein Geschlecht nicht wechseln kann, sondern immer männlich ist, gilt den Gethern als Irrtum der Natur und »Perverser«, eine ironische Umkehr unserer Gesellschaft, in der sexuelle Ambivalenz und Inkohärenz häufig noch mit Vorurteilen befrachtet sind.)

Der Roman gilt als frühes Beispiel feministischer Science Fiction und war als solcher enorm einflussreich (Joanna Russ nannte ihn als prägend auf ihre Story »When It Changed«). Männliches Konkurrenzdenken und männliche Verhaltensmuster sind bei Le Guin (wie in allen anderen feministischen Utopien auch) Ursache für Kriege und soziale Ungleichheit; aufgrund ihrer Geschlechtslosigkeit kennen die Gether Kriege nicht. Allerdings möchte die Autorin den Roman auch nicht als Utopie verstanden wissen. »Is the book a Utopia?«, fragt sie in einem 1976 erstmals veröffentlichten Essay mit dem Titel »Is Gender Necessary?« (revidierte Fassung 1988) und erläutert weiter: »It is quite clearly not; it poses no practical alternative to contemporary society.« [3][1] Allerdings ging es Le Guin auch nicht so sehr um theoretische Überlegungen, wie sie ebenfalls in dem Essay darlegt, der in erster Linie als Reaktion auf einige Kritikpunkte auch seitens feministischer Kritikerinnen entstand: »Along about 1967, I began to feel a certain unease […] I began to want to define and understand the meaning of sexuality and the meaning of gender, in my life and in our society. It was that same need, I think, that had lead Beauvoir to write The Second Sex, and Friedan to write The Feminine Mystique, and that was, at the same time, leading Kate Millett and others to write their books, and to create the new feminism. But I was not a theoretician, a political thinker or activist, or a sociologist. I was and am a fiction writer. The way I did my thinking was to write a novel.« [4][2]

Neben The Left Hand of Darkness ist Ursula K. Le Guins Roman The Dispossessed (1974, deutsch unter den Titeln Planet der Habenichtse, Die Enteigneten und zuletzt Freie Geister erschienen) ihr eigentliches Hauptwerk und bis heute bekanntestes und berühmtestes Buch. Der Roman, die letzte große Sozialutopie des zwanzigsten Jahrhunderts, wägt am Beispiel des Planeten Urras und seines Trabanten Anarres die politischen Systeme Kapitalismus und Anarchismus gegeneinander ab. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern spielen hier nur eine untergeordnete Rolle insofern, als man sich im anarchistischen System von Anarres sehr viel mehr um die Gleichstellung der Frau bemüht als in dem des kapitalistischen und deutlich patriarchalischen Staates A-Jo, einer der beiden Supermächte des Planeten Urras.

Der Roman erlangte weit über die Grenzen der Science Fiction hinaus Berühmtheit, und viele Kritiker haben Le Guin vorgeworfen, dass sie danach keinen weiteren so kühnen utopischen Entwurf mehr vorgelegt hat. Diese teils recht schroff formulierte Kritik greift indessen zu kurz und zeugt im günstigsten Fall von einer unzureichenden Beschäftigung mit dem späteren Werk der Autorin. Dass sie keinen weiteren derart gewichtigen Science-Fiction-Roman mehr veröffentlicht hat, mag man so sehen, obwohl spätere Romane wie das sehr umfangreiche Always Coming Home (1985) oder The Telling (2000) durchaus lesenswert sind. Unberücksichtigt bleibt bei dieser Kritik aber das umfangreiche Kurzgeschichtenwerk, das die Autorin danach vorgelegt hat.

Le Guin gab ihrem Roman The Dispossessed den Untertitel »An Ambigous Utopia«, was man mit »eine ambivalente« oder »eine fragwürdige« Utopie eindeutschen könnte. Man kann diesen Untertitel einerseits auf den Inhalt des Romans beziehen, denn obwohl die Verfasserin das anarchistische System favorisiert (das bei ihr allerdings einige durchaus verklärende romantische Züge trägt), äußert sie Bedenken an der realen Umsetzung beider Systeme, die in der Theorie gut und schön sein mögen, in der Praxis jedoch nicht immer funktionieren. (Diese Zweifel, als kurze Abschweifung, kannten die klassischen utopischen Entwürfe wie etwa Thomas Morus’ Utopia oder Campanallas Civitas Solis nicht – für deren Verfasser waren die von ihnen entworfenen Staatengebilde stets das von allen anerkannte Ideal; erst H. G. Wells trug 1905 in seinem Buch A Modern Utopia, einer Mischung aus essayistischer Abhandlung und romanhafter Spielhandlung, der Tatsache Rechnung, dass es in jedem politischen System, ganz gleich, wie ideal es in der Theorie entworfen wurde, Zweifler und Gegner nicht nur geben wird, sondern zwangsläufig geben muss). Letztendlich mögen Le Guins Zweifel aber auch aus der Erkenntnis herrühren, dass – wie in der Realität des Planeten Erde zu sehen – »ideale« politische Systeme auf gesellschaftlicher Ebene in der Praxis nur schwer zu realisieren sind.

Stattdessen legte Ursula K. Le Guin nach The Dispossessed, wie schon erwähnt, ein umfangreiches Kurzgeschichtenwerk vor, und in diesen Geschichten erforschte sie viele kleine, private Mikrokosmen, wie etwa in »Unchosen Love« (1994), worin eine Ehe zwischen vier Personen geschildert wird, oder »Solitude« (1994) über eine Gemeinschaft, in der Männer und Frauen streng getrennt leben. In »Mountain Ways« (1996) kehrt die Autorin an den Schauplatz von »Unchosen Love« zurück, den Planeten O; in dieser Story können zwei Frauen, die sich lieben, erst eine Viererehe eingehen, als eine sich als Mann verkleidet – vielleicht auch ein Kommentar zu Scheinheiligkeit und Doppelmoral, die auch in unserer vorgeblich so »aufgeklärten« Gesellschaft heute noch existieren. Alle drei Geschichten finden sich übrigens in dem Sammelband The Birthday of the World and Other Stories (2002).