Das Anthropozän lernen und lehren

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Aber nochmal zurück ins 14. Jahrhundert, als die eben beschriebene Anlage schon gute 150 Jahre in Betrieb war. Im Jahr 1304 verkauft der Konvent des Stiftes Zwettl seinen Hof in Wien. Er stand ziemlich genau an der Stelle, an der heute der Südturm des Stephansdoms steht, und musste der Erweiterung des Domes weichen. Als Ersatz wird ein anderes Haus direkt daneben gekauft, denn ein Stadthof ist eine wichtige Drehscheibe für die Pflege des Netzwerks der Zwettler Mönche im Herrschaftszentrum Wien. Die Ressourcen in ihrer Umgebung sind nicht ausreichend für große Erweiterungen und so müssen sie neue Mittel herholen. Zum Beispiel stiftete 1274 die Wiener Familie der Paltrame einen Karner im Stift, in dem die Gebeine der im Kloster Begrabenen aufbewahrt werden können.23

Zur Pflege des Netzwerks ist es wichtig, die politischen Verbindungen zu verstehen, und das ist um das Jahr 1300 nicht leicht. Die Babenberger sind längst ausgestorben und König Ottokar von Böhmen hatte eine Generation lang als Landesfürst im Herzogtum Österreich regiert. Die Paltrame waren seine Gefolgsleute, genauso wie die Kuenringer, und auch der Konvent von Zwettl hatte enge Verbindungen zu Böhmen. Seit 1278 sind die Habsburger Landesherren und alle Allianzen müssen neu erarbeitet werden. Die einst mächtigen Kuenringer müssen sich neu positionieren und wollen auch in Wien Fuß fassen. Ihre zentrale symbolische Ressource ist das von ihnen gegründete Zisterzienserstift, und vielleicht ist der oben erwähnte Verkauf des Hofes an den Habsburger Herzog Albrecht der Beginn eines neuen Deals. Man könnte folglich darüber nachdenken, ob sich die Kuenringer auch mit dem Stifterbuch der Zwettler Mönche als altehrwürdiges Geschlecht vor den neuen habsburgischen Landesfürsten präsentieren wollten. Ein Argument dafür wäre der prunkvolle Stammbaum in der Bärenhaut, der höchstwahrscheinlich in der Wiener Gegend gemalt wurde – zumindest ist die Buchmalereiwerkstatt auch in Klosterneuburg nachweisbar.24

Aber auch unsere vorher beschriebene Landkarte würde diesem Repräsentationswillen entsprechen, indem sie die Hauptkompetenz der Familie präsentiert: die professionelle Zivilisierung des Nordwaldes, die von den verlässlichen Kuenringern mit ihrem Familienkloster erfolgreich abgewickelt wurde und zwar auf allen Ebenen – hinsichtlich der Religion, der Verwaltung, der Bildung und der Wirtschaft. Die Kuenringer haben eine der wildesten Gegenden des Herzogtums unterworfen und entmystifiziert. Das ist die Geschichte in der Bärenhaut. Und so ist es auch kein Zufall, dass in dieser Prachthandschrift zum ersten Mal die Gründungslegende des Stiftes auftaucht, also ein eigener Mythos ins Spiel kommt: Es heißt dort, dass dem Stifter Hadmar I. von Kuenring im Traum die Gottesmutter erschienen sei und ihm eine grünende Eiche im winterlichen Wald zeigte. Der Mönch Hermann, der als erster Abt dem Konvent vorstehen sollte, hatte den gleichen Traum. Und tatsächlich sollen die beiden diesen prophezeiten Baum dort gefunden haben, wo heute das Kloster steht.25 Die Botschaft an die Leute im Herrschaftszentrum ist, dass dort, wo noch vor gar nicht so langer Zeit göttliche Erscheinungen und unerklärliche Naturerscheinungen stattgefunden haben, Zivilisation und damit Sicherheit für mögliche Investitionen herrscht. Und die brauchen die Mönche, um ihre Pläne für die Vergrößerung ihres Klosters umzusetzen und vor allem, um eine größere Kirche zu bauen. Die theoretischen Konzepte für die Bewirtschaftung der kargen, asketischen Gegend funktionieren zwar, werfen aber nicht genug Mittel für die Bauvorhaben ab. Die Kuenringer machen also Werbung für Investitionen in Zwettl bei den Wiener Bürgern. Das ist die eine Variante. Die andere ist, dass die Mönche sehen, dass ihre Gründerfamilie sie nicht mehr erhalten kann und reiche Wiener Bürger als Investoren nach Zwettl locken wollen.26 Die Strategie ist erfolgreich, denn es entschließen sich einige Mitglieder von Wiener Familien, in das Kloster einzutreten, so viele, dass ein neues Dormitorium (Schlafsaal) für 64 Mönche gebaut und schließlich 1343 mit dem Bau einer gotischen Kirche in für die Gegend enormen Ausmaßen begonnen werden kann.27

Der Ausgang der Geschichte ist schnell erzählt. Fünf Jahre nach Baubeginn der großen Kirche ist das Pestjahr 1348, die Arbeiten kommen zum Erliegen. Zwar wird die Kirche unter größten Anstrengungen fertig gebaut, aber das Stift kann sich bis zum Ende des Mittelalters wirtschaftlich nicht mehr von dem Großprojekt erholen. Die Kuenringer versinken in der Bedeutungslosigkeit und werden am Ende von der Propaganda zu Raubrittern gemacht und geächtet.

Erst Mitte des 17. Jahrhunderts wird diese Geschichte von Abt Bernhard Linck wieder erforscht28. Er reitet mit seinem Amtmann den Umritt nach und lässt die Gegend von einem bedeutenden Kartographen in Kupfer stechen (Abb. 3). Auf dieser Zeichnung sehen wir eine voll entwickelte Kulturlandschaft mit bewirtschafteten Fluren, Gutshöfen, Fischteichen und einem Straßennetz. Im Zentrum dominiert dabei nicht mehr das Kloster, sondern der Kamp mit seinen Zuflüssen. Es ist nur mehr wenig Wald sichtbar und der ist fein säuberlich in Forsten kultiviert. Alles ist umschlossen von einem Kreis, den wir aus der Bärenhaut kennen und der am ehesten an die Projektierungen der vor Kurzem umgesetzten Zwettler Schnellstraßenumfahrung erinnert.

Die beschriebenen Einwirkungen des Menschen sind in der Erdkruste nachvollziehbar und gespeichert. Aber nicht nur dort, sondern auch in den Aufzeichnungen der handelnden Menschen sind sie dokumentiert. Die Archive und Bibliotheken sind voll von Material, das – ähnlich wie die geologisch „eingeschriebenen“ Informationen – im Hinblick auf das Anthropozän neu ausgewertet werden kann. Beiden Dokumentationen ist gemeinsam, dass sie uns eine Entwicklung im Sinne von Ursache und Wirkung nachzeichnen lassen. Der Unterschied zwischen beiden Wissensspeichern liegt vielleicht in den ideengeschichtlichen Informationen über die Vorstellungswelten und Motivationen, die aus den schriftlichen Quellen in den Archiven gelesen werden können. In der Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Interventionen in den Naturraum erlangen wir eine Vorstellung von den Auswirkungen. Im Bildungsbereich ist es umso wichtiger, diese Ursprünge freizulegen und die Motivation für Umwelthandeln zu verstehen und ihre Nützlichkeit zu reflektieren.


Abbildung 3: Darstellung des Umritts in den Annalen des Bernhard Linck aus dem Jahr 1670 (Stiftsarchiv Zwettl, Plansammlung, Nr. 11).

Die Auswirkung von menschlichem Handeln auf den Planeten Erde hat in unserer Generation ein Ausmaß erreicht, das mittlerweile als Bedrohung für nahezu alle Lebensformen gesehen werden kann. Was neu erscheint und im Diskurs des Anthropozäns bearbeitet werden kann, ist die Umkehr dieser Bedrohung. Nicht mehr die Naturgewalt beherrscht die Menschen, sondern der Mensch scheint seine Umwelt soweit kultiviert zu haben, dass sie wiederum unbeherrschbar und damit ähnlich bedrohlich erscheint wie die undurchdringlichen Urwälder des Nordwaldes im Mittelalter. Ob eine Marienerscheinung hilft, ist hier allerdings fraglich.

1 Einführend zu den Zisterziensern: Die Lebenswelt der Zisterzienser. Neue Studien zur Geschichte eines europäischen Ordens, hg. von Immo Eberl und Joachim Werz, Regensburg 2019; Die Zisterzienser im Mittelalter, hg. von Georg Mölich, Norbert Nußbaum und Harald Wolte-von dem Knesebeck, Köln-Weimar-Wien 2017. Zum Zisterzienserstift Zwettl Martin Haltrich, Illustrierte Kulturgeschichte des Stiftes Zwettl. Menschen, Bauten, Dokumente (Zwettler Zeitzeichen 16), Zwettl 2016. Mit ausführlichem Literaturverzeichnis auf S. 87–91.

2 Zur Wirtschaftsgeschichte der Zisterzienser Werner Rösener, Die Agrarwirtschaft der Zisterzienser. Innovation und Anpassung, in: Norm und Realität. Kontinuität und Wandel der Zisterzienser im Mittelalter, hg. von Franz Felten und Werner Rösener (Vita regularis, Abhandlungen 42), Berlin 2009, S. 67–95; Ernst Tremp, Mönche als Pioniere. Die Zisterzienser im Mittelalter, Näfels 1997. Vgl. auch Detailstudien zu einzelnen Klöstern, u.a. Maria M. Rückert, Grundherrschaft und Klosterwirtschaft im mittelalterlichen Zisterzienserkloster Schöntal, in: Die Zisterzienser (wie Anm. 1), S. 283–301; Werner Rösener, Von der Eigenwirtschaft zum Pachtund Rentensystem. Der wirtschaftliche Strukturwandel in den niederrheinischen Zisterzienserklöstern während des Hoch- und Spätmittelalters, in: Die niederrheinischen Zisterzienser im späten Mittelalter. Reformbemühungen, Wirtschaft und Kultur, hg. von Raymund Kottje, Köln 1992, S. 21–47; Winfried Schich, Der Handel der rheinischen Zisterzienserklöster und die Einrichtung ihrer Stadthöfe im 12. und 13. Jahrhundert, in: Kottje (s.o.), S. 49–73.

3 Die Handschrift ist online frei verfügbar unter http://manuscripta.at/?ID=35889 (Zugriff am 8.4.2020); Joachim Rössl, Kommentar vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat der Handschrift 2/1 des Stiftsarchivs Zwettl (Codices Selecti 73), Graz 1981; Karl Brunner, Die Zwettler „Bärenhaut“. Versuch einer Einordnung, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hg. von Hans Patze (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 647–662; Joachim Rössl, Die Zwettler „Bärenhaut“, nochmals als exemplarischer Beleg, in: Geschichtsschreibung (wie oben), S. 663–680.

 

4 Aktuelle Informationen zur Kulturlandschaftsforschung bzw. die Umweltgeschichte sowie Materialien für den Schulunterricht beim Zentrum für Umweltgeschichte https://boku.ac.at/zentrum-fuer-umweltgeschichte (Zugriff am 10.4.2020). Vgl. Verena Winiwarter, Martin Knoll, Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln-Weimar-Wien 2007; Christoph Sonnlechner, Kulturlandschaftsforschung. Methodische Betrachtungen aus umweltgeschichtlicher Perspektive, in Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 25 (2009), S. 187–202; Ders., Landschaft und Tradition. Aspekte einer Umweltgeschichte des Mittelalters, in: Text, Schrift, Codex, hg. von Christoph Egger und Herwig Weigl (MIÖG, Erg.Bd. 35), Wien-München 2000, S. 123–223; Wirtschaft und Kulturlandschaft. Gesammelte Beiträge 1977 bis 1999 zur Geschichte der Zisterzienser und der „Germania Slavica“, bearb. und hrsg. von Ralf Gebuhr und Peter Neumeister, Berlin 2007; Winfried Schich (Hg.), Zisterziensische Wirtschaft und Kulturlandschaft. Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser Bd. 3, Berlin 1998.

5 Karl Brunner, Geschichte und „Natur“ am Beispiel des Mittelalters, in: Ders., Umgang mit Geschichte. Gesammelte Aufsätze zu Wissenschaftstheorie, Kultur- und Umweltgeschichte (MIÖG, Erg.Bd. 54), Wien-München 2009, S. 229–243.

6 Zur Gründung des Stiftes Zwettl und den Kuenringern vgl. Andreas Kusternig und Max Weltin, Kuenringer-Forschungen, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich, NF 46/47 (1981); Die Kuenringer. Das Werden des Landes Niederösterreich. Niederösterreichische Landesausstellung, Stift Zwettl, 16. Mai – 26. Oktober 1981 (Katalog des Nö Landesmuseums; N.F. 110), Wien 1981.

7 Karl Ubl, Politische Ordnungsvorstellungen, in: Enzyklopädie des Mittelalters, Bd. 1, hg. von Gert Melville und Martial Staub, Darmstadt 2013, S. 9–41.

8 Enno Bünz, Artikel „Grangie“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (2011), Bd. 2, Sp. 527–529; Christian Stadelmaier, Zwischen Gebet und Pflug. Das Grangienwesen des Zisterzienserklosters Tennenbach, Freiburg-München 2014.

9 Guido Gassmann, Konversen der Zisterzienser. Eine sozial-, wirtschafts- und frömmigkeitsgeschichtliche Betrachtung anhand der neun Männerabteien auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, in: Die Zisterzienser (wie Anm. 1), S. 255–269. In der Stiftsbibliothek Zwettl ist mit Cod. 129 auch eine deutschsprachige Regel für Laienbrüder aus dem frühen 14. Jahrhundert erhalten, vgl. https://manuscripta.at/?ID=31740 und als Faksimile-Ausgabe bearbeitet von Charlotte Ziegler, Die Konversenregel Codex 129 des Stiftes Zwettl (Scriptorium ordinis Cisterciensium monasterii BMV in Zwettl 7), Zwettl 2005.

10 Zur Siedlungsgeschichte und den natürlichen Voraussetzungen vgl. Die Kuenringer (wie Anm. 6), S. 505–536; Markus Cerman, Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im Waldviertel bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, hg. von Herbert Knittler, Horn 2006, S. 1–76; Hans Krawarik, Frühe Siedlungsprozesse im Waldviertel, in: Das Waldviertel 50 (2001), S. 229–261; Christoph Sonnlechner, Umweltgeschichte und Siedlungsgeschichte. Methodische Anmerkungen zu Hans Krawariks „Frühe Siedlungsprozesse im Waldviertel“, in: Das Waldviertel 50 (2001), S. 158–173; Erdgeschichte des Waldviertels, hg. von Fritz F. Steininger, Horn-Waidhofen/Thaya 1999.

11 Peter Csendes: Die Straßen Niederösterreichs im Früh- und Hochmittelalter, Phil. Diss., Wien, 1969.

12 Werner Gamerith, Kamptal. Die Natur einer Kulturlandschaft, Horn 2012.

13 Markus Cerman, Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im Waldviertel bis zum frühen 16. Jahrhundert, in: Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels, hg. von Herbert Knittler, WHB: Horn-Waidhofen/Thaya 2006, S. 1–75.

14 Allgemein zur Kultur der Klöster vgl. Gert Melville, Die Welt der mittelalterlichen Klöster, München 2012. Siehe auch die Beiträge im Sammelband: Landschaften. Begriffe, Formen, Implikationen, hg. von Franz J. Felten, Harald Müller und Heidrun Ochs (Geschichtliche Landeskunde, Band 69), Stuttgart 2012.

15 Rainer Berndt, Matthias M. Tischler, Arikel Bibel, in: Enzyklopädie des Mittelalters (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 337–340; Karl Brunner, Anfänge einer Naturwissenschaft im 12. Jahrhundert, in: Ders., Umgang (wie Anm. 5), S. 215–228.

16 Jürgen Sarnowsky, Artikel „Naturkunde“, in: Enzyklopädie des Mittelalters (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 388–390.

17 Online unter www.stgallplan.org (Zugriff am 12.4.20) und auch bei Barbara Schedl, Der Plan von St. Gallen. Ein Modell europäischer Klosterkultur, Wien-Köln-Weimar 2014.

18 Karl Brunner, Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters, München 2012, darin das Kapitel „Kultur-Landschaften“, S. 216–247.

19 Vgl. Die Kuenringer (wie Anm. 6), S. 142.

20 James L. Smith, Water in Medieval Intellectual Culture. Case-Studies from Twelth-Century Monasticism (Cursor Mundi 30), Turnhout 2017, p. 143–175 nach der Descriptio positionis seu situationis monasterii Claraevallensis in: Jacques-Paul Migne, Patrologiae cursus completus SL 185 (Paris 1860) col. 569–574.

21 Details zum Gründungsprozess in Die Kuenringer (vgl. Anm. 6), S. 161–173.

22 Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 9–16.

23 Karl Lechner, Das Stift Zwettl und seine Beziehungen zur Stadt Wien, in: Festschrift 800-Jahrgedächtnis des Todes Bernhards von Clairvaux, Wien-München 1953, S. 211–231.

24 Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 39f., 43.

25 Peter Kneissl, Gründungslegenden Österreichischer Klöster, St. Peter-Freienstein, S. 94.

26 Zu den sozialen Räumen der hochmittelalterlichen Klöster in der Umgebung von Wien vgl. Christina Lutter, Locus horroris et vastae solitudinis? Zisterzienser und Zisterzienserinnen rund um Wien, in: Historisches Jahrbuch 132 (2012), S. 141–176; Herbert Krammer, Die Zisterzienserinnen von St. Niklas im 14. Jahrhundert. Soziales Beziehungsnetz, Stiftungspraxis und Klosterökonomie, Universität Wien (Masterarbeit) 2017.

27 Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 39–51.

28 Abt Johann (Malachias) Bernhard Linck (1606–1671) war auch Historiograph und hat das Geschichtsbild des mittelalterlichen Zwettl bis heute maßgeblich geprägt, vgl. Haltrich, Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 65f.

Georg Holzer
Was Flüsse mit Menschen und Menschen mit Flüssen tun
Historische Beispiele aus Niederösterreich im Lichte der Namenforschung

Zwischen Mensch und Fluss besteht eine eigentümliche Wechselbeziehung: Flüsse strukturieren menschliche Lebensräume, und umgekehrt strukturiert der Mensch Flusslandschaften; letzteres tut der Mensch nicht nur durch physische Eingriffe wie Regulation, Stauung u. dgl., sondern auch rein gedanklich, etwa durch die Feststellung von Wasserscheiden und ihrer Hierarchie und die damit einhergehende Hierarchisierung von Zusammenflüssen1, durch die archaische Benennung von Fließgewässern nach ihrer Fließrichtung sowie durch eine andere, noch zu erläuternde urtümliche farbsymbolische Einteilung und Etikettierung von Flüssen und Bächen. Freilich ist die gedankliche Nachgestaltung geographischer Vorgegebenheiten so alt wie die Menschheit und nicht etwa erst wie das Anthropozän im eigentlichen Sinne; oder anders ausgedrückt: In dem, was der Mensch in seinem Kopf mit Flüssen tut, beginnt das Anthropozän früher als in physischer Hinsicht. Und freilich ist die gedankliche Strukturierung von Flusslandschaften nur „sozusagen“, nur quasi eine Angelegenheit des Anthropozäns, wie immer man es datiert. Nichtsdestoweniger handelt es sich hier um ein Thema, das in einem dem Anthropozän gewidmeten Band zur Sprache gebracht werden kann, am Rande zumindest und im Sinne eines „humanistischen Seitenblicks“.

In unseren Breiten ist jede Landschaft eine Flusslandschaft: Überall gibt es Wasser, und sei es auch nur Regenwasser, und von überall fließt Wasser auf von der Schwerkraft vorgezeichnetem Wege in Richtung größeren Wassers ab. Eine Flusslandschaft besteht aus Zusammenflüssen ihrerseits zusammengeflossener Gewässer, also aus Talschaften, und aus den um die Talschaften herumlaufenden Wasserscheiden. Wasserscheiden sind gedachte (!) Linien in der Landschaft und insofern eine menschliche Zutat zur Landschaft. Eine Wasserscheide ist eine gedachte Linie, von der aus es auf beiden Seiten bergab geht und bergab fließt – oder fließen würde, wenn es gerade Regen gäbe. Mit diesem Konjunktiv ist eine Wasserscheide auch eine Hypothese und eine Vorhersage.

Wasserscheiden sind hierarchisch geordnet. Je früher die von einer Wasserscheide getrennten Gewässer wieder zusammenmünden, desto niedriger ist der Rang der Wasserscheide. Die Wasserscheide zwischen zwei benachbarten Bächen, die sich bald im nächsten kleinen Fluss treffen, hat einen sehr niedrigen Rang. Die höchstrangige Wasserscheide in Niederösterreich verläuft durch das Waldviertel. Sie trennt Gewässer, die dem Schwarzen Meer, von solchen, die der Nordsee zustreben. Kirchberg am Walde etwa liegt auf dieser Wasserscheide. Die dort auseinanderstrebenden Gewässer finden erst im Weltmeer zusammen, nicht früher.

Die Erkennung von Wasserscheiden und Talschaften ist nicht nur ein Ergebnis menschlicher Abstraktion, sondern auch etwas, was sehr konkret auf den Menschen zurückwirkt. Sie strukturierte nämlich schon immer den Gang historischer Ereignisse. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die Rolle, die die großen österreichischen Flüsse Enns, Mur und Drau (als deren Quellfluss in diesem Zusammenhang die Isel zu betrachten ist) bei der Einwanderung slavischer, genauer: urslavischer2 Sippenverbände in unser Gebiet spielten. Diese Leute kamen um ca. 600 n. Chr. von Osten her die Donau stromaufwärts in heute österreichische Gebiete gezogen, schwärmten dabei auch in die Talschaften der Donauzuflüsse aus und waren dabei derart an das Wasser gebunden, dass ihre Reise dort zu Ende war, wo die Zuflüsse „zu Ende“ waren: nämlich an deren Quellen. So ist es dazu gekommen, dass die Wasserscheiden, von denen herab alles Wasser in Enns, Mur und Isel fließt, die Westgrenze der slavischen Besiedlung Österreichs markieren. Niederösterreich liegt östlich dieser Westgrenze und wurde somit zur Gänze slavisch besiedelt.3

 

Nicht selten bestimmten Wasserscheiden und Talschaften, wie die eingewanderten slavischen Völker benannt wurden. „Mährer“ (slav. Moravljane) etwa sind die Slaven, die die Talschaft der March (slav. Morava), deren Name in dem der Mährer steckt, bevölkern. Heute sind alle Mährer Tschechen, aber im Frühmittelalter nannte man wahrscheinlich auch die niederösterreichischen Marchslaven auf Slavisch Moravljane. Aber nicht nur Völker, sondern auch Länder und Fürstentümer hießen und heißen nach Flüssen. In der altrussischen Nestorchronik heißt das Einzugsgebiet der March, also Mähren im weitesten Sinne, sogar genau so wie die March selbst: Morava. Da konnte man wohl genauso „in“ der Morava sagen und die Talschaft meinen, wie man „an“ der Morava sagen und den Fluss meinen konnte. Aus der Morava als Talschaft entwickelte sich im Frühmittelalter ein wichtiges Fürstentum, das „Großmährische Reich“4.

Im Kleinen kommen Benennungen wie „in der Morava“ auch in den Namen von Bächen und Höfen in Niederösterreich vor: Dem flumen uîstre (dem „Fluss Faista“, heute Luegbach, Zubringer zur Erlaf) steht der Hofname in der Veister („in der Faista“) gegenüber und der aqua Poka (dem „Wasser Pockau“) ein Hofname in der Pokka5. Mit „in der Faista“ könnte ursprünglich die gesamte Talschaft des Luegbaches und mit in der Pokka die gesamte Talschaft des Pockaubaches gemeint gewesen sein. Freilich sind diese Formulierungen deutsche, nicht slavische, wenn ihnen auch slavische Gewässernamen zugrunde liegen. Der Name der Pockau bedeutet etwa „umgekehrt fließender Bach“ und bezieht sich anscheinend darauf, dass den Slaven auf dem gesamten Weg ihrer Wanderung von der unteren Donau bis in das wohl von ihnen gegründete Gaming das Wasser bis zur Ortschaft Brettl entgegenkam, nach Brettl aber, in der Pockau, mit ihnen, also umgekehrt floss. Der Name Brettl kommt von einem slavischen Wort für Wasserscheide und bestätigt somit diese Interpretation.6 Dass aber die Pockau „umgekehrt fließt“, ist nicht eine ihrer physischen Eigenschaften, sondern eine Eigenschaft, die ihr der Mensch zugesprochen hat, um in seinem Kopf die Landschaft zu strukturieren.

Mehrere Völker, die in Vorantike, Antike und Mittelalter Niederösterreich besiedelten, wie etwa „Alteuropäer“, Kelten, Völkerwanderungsgermanen, Slaven und Bajuwaren, strukturierten die Flusslandschaften nach einem ganz besonderen Prinzip, dem der „weißen und schwarzen Flüsse“. Es handelt sich hierbei wohl um eine binäre Kennzeichnung, die nichts mit den eigentlichen Farben Weiß und Schwarz oder anderen physischen Eigenschaften zu tun hat. Heute würde man diese Gewässer vielleicht in Plus- und Minus-Gewässer oder in Null- und Eins-Gewässer einteilen. Ein niederösterreichisches Beispiel sind die Weiße und die Schwarze Walster. Konzentriert findet man dieses Prinzip in der Talschaft der niederösterreichischen Pielach verwirklicht: Die Pielach selbst ist, wie ihr slavischer Namenteil Piel- sagt, in ihrem Unterlauf „weiß“, in sie mündet die Sierning, deren Name slavischer Herkunft ist und ein schwarzes Gewässer bezeichnete, oberhalb der Mündung der Sierning war die Pielach offenbar „schwarz“ bis zur Einmündung der auf Keltisch als „weiße“ benannten Loich. In den Oberlauf der Pielach münden auf Deutsch benannte „Weißenbäche“ und „Schwarzenbäche“. Wohlgemerkt sind, was den optischen Eindruck betrifft, die Weißenbäche nicht weißer als die Schwarzenbäche und die Schwarzenbäche nicht schwärzer als die Weißenbäche. Offensichtlich geht es eben nicht um eine Beschreibung naturgegebener optischer Eigenschaften der Wasserläufe, sondern um etwas, was sich der Mensch zu ihnen „hinzudenkt“, also nicht um etwas, was die Flüsse sind, sondern um etwas, was der Mensch mit den Flüssen „macht“. Welchen Sinn und welchen praktischen Nutzen diese binäre Etikettierung hatte, liegt im Dunkeln. Unsere Lebenswelt ist so sehr eine andere geworden, dass wir nicht mehr verstehen, wofür diese Einteilung der Fließgewässer in weiße und schwarze gut war. Möglicherweise hat sie als Orientierungshilfe beim Flussaufwärtswandern gedient.7

Neben dem gedanklichen Umgang des Menschen mit Flüssen gab es schon in früheren Jahrhunderten auch den physischen, und auch der kann in Namengebungen greifbar sein, auch wenn es da nicht immer leicht ist, menschliche Einwirkung von natürlicher zu unterscheiden. Ohne mich auf dieses Problem weiter einzulassen, will ich nun einige mögliche Beispiele aus dem Mündungsgebiet der Erlaf anführen8. Bevor dabei wieder die Namenkunde zu Wort kommt, sollen zunächst andere Quellen sprechen.

In Antike und Mittelalter sahen sowohl die Donau als auch die in sie mündenden Flüsse anders aus als heute. Die Donau war nicht bloß ein einziger Strom, sondern ein Geäder mit mehreren Armen und vielen Inseln dazwischen, und für Flüsse wie zum Beispiel die niederösterreichische Erlaf, einen rechten Zufluss zur Donau, galt in ihrem untersten Lauf dasselbe. Die Erlafinseln und die vorgelagerten Donauinseln bildeten zusammen einen einzigen Archipel, und so sahen wohl auch die Mündungsgebiete benachbarter Flüsse wie Ybbs und Melk aus. Auf das ursprüngliche Aussehen des Mündungsgebiets der Erlaf gibt es eine Reihe von Hinweisen.

Zunächst ist hier ein Kartenwerk zu nennen. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschende Zustand ist auf der niederösterreichischen Administrativkarte von 1867(-1881) festgehalten. Da sind im Bereich der Erlafmündung noch fünf Donauinseln eingezeichnet. Heute gibt es keine dieser Inseln mehr, die sie umspülenden Flussarme sind bis auf die Hauptläufe von Donau und Erlaf verlandet. Zeitlich weiter zurück reicht die allerdings umfangmäßig sehr eingeschränkte Information, die einer Merian-Vedute der Stadt Pöchlarn vom Jahre 1649 zu entnehmen ist. Der Bildausschnitt ist so klein, dass auf ihm von den auf der Administrativkarte eingezeichneten Inseln nur die kleine Insel unmittelbar vor Pöchlarn zu sehen ist, und auch die nur zum Teil. Dafür zeigt diese Vedute auch noch eine sechste Insel zwischen Pöchlarn und der gegenüber am linken Donauufer liegenden Ortschaft Klein-Pöchlarn, die auf der Administrativkarte nicht mehr zu sehen ist; 1867 waren also bereits Inseln verschwunden, die es 1649 noch gegeben hatte.

Weitere Hinweise kommen von der Altertumskunde und der Archäologie. Im Bereich der Erlafmündung lag das römische Arelape, ein Komplex aus Militärlager, Zivilstadt und Donauhafen. Das heutige Pöchlarn bildete das nördliche, am nächsten zur Donau gelegene Ende dieses römischen Komplexes. Die nördliche Hälfte des römischen Steinlagers liegt heute sogar in der Donau unter Wasser. Arelape verfügte über einen Donauhafen. Die Archäologie lokalisiert diesen Hafen aber nicht, wie zu erwarten wäre, vor der heute in der Donau versunkenen Nordmauer des Kastells, sondern weit im Landesinneren südlich der Stadt, wo heute die Bauern ihre Äcker bestellen.

Es gibt sogar Texthinweise auf heute nicht mehr vorhandene Flussarme im Mündungsgebiet der Erlaf. Im Regensburger Urbar von 1334 ist von einer Fischweide zu Ornding die Rede; sie heißt „in dem Gang“ und ist zu einem Teil „vergüsst“; und wenn über sie Güsse kommen, fällt, was man dann darin fängt, halb dem Herrn und halb dem Fischer zu. Im 14. Jahrhundert füllte sich dieser Flussarm bei Ornding also nur noch zu bestimmten Zeiten mit Wasser, bevor er vollends verlandete. Dieser Gang könnte die Wörth, ein Gelände nordöstlich von Ornding in Richtung Donau, das seinem Namen nach einmal eine Insel war – Wörth bedeutet „Insel“ –, vom Festland abgetrennt haben. Ferner nennt das Regensburger Urbar eine Altach, eine „alte Ache“, die, wie ihr Name sagt, ebenfalls einen ehemaligen Flussarm dargestellt haben muss.

Nicht zuletzt ist es aber die Namenkunde, die als ein Instrument zur Landschaftsrekonstruktion Aufschluss über das ursprüngliche Aussehen des Mündungsgebiets der Erlaf gibt. Der schon erwähnte im Regensburger Urbar von 1334 genannte Name Gang, ein altes deutsches Wort für Flussarm, weist alleine schon darauf hin, dass bei Ornding einmal ein Flussarm vorbeifloss. Der Name Altach drückt aus, dass 1334 diese Ache alt, also ein Relikt aus früherer Zeit war. Und von Wörth, einem alten deutschen Wort für ‘Insel’, war ja auch schon die Rede.

Zu nennen ist hier auch der Name Wagram. So heißt auf modernen Karten eine Böschung beim Dorf Erlauf. Nun ist Wagram, ursprünglich Wagrain, ein altes deutsches Wort mit der Bedeutung „Uferrand eines Flusses“. Die Böschung ist heute kein Uferrand mehr, der Fluss hat sich zurückgezogen, sie heißt aber noch immer Wagram.

Ein weiterer onomastischer Hinweis auf diese versunkene Flusslandschaft ist der Name des Dorfes Erlauf (1543 amt an der Erlauf). Das Dorf heißt so wie der Fluss Erlaf (aus Arelape), nur ist der Name volksetymologisch und hyperstandardisiert auf Erlauf abgeändert und so veramtlicht. Orte, die so heißen wie ein Fluss, liegen gewöhnlich an der Mündung dieses Flusses, wie es ja auch z.B. bei Enns, Ybbs, Melk, Tulln und Wien der Fall ist. Nur Erlauf liegt nicht an der Mündung der Erlaf, sondern fast vier Kilometer flussaufwärts von der Mündung entfernt. Der Name des Dorfes aber weist darauf hin, dass die Mündung früher eben dort war, wo Erlauf liegt. Bei Erlauf muss also die Erlaf in einen Donauarm gemündet sein, höchstwahrscheinlich in eben denjenigen, an dem der römische Donauhafen lag. Wann sich die Landschaft so weit geändert hatte, dass Pöchlarn und nicht Erlauf als Ort betrachtet wurde, an dem die Erlaf in die Donau mündet, ist mir nicht bekannt. Aber um 1500 wird explizit vermerkt: Pechlarn […] ist […] an der Tuonaw gelegen. Under Pechlarn kämpft die Erlauf, ain pös Wasser, in Tuonaw geflossen.

Der unterste Lauf der Erlaf ist durch die vielen Au-Namen charakterisiert, die sich laut Administrativkarte von der Mündung bis Petzenkirchen hinzogen: Links der Erlaf sind es von Petzenkirchen flussabwärts die Hohenau, die Auwiesen, die Dorn Au und links der Erlafmündung die Vogel Au; rechts sind es die Josephau, die Sand Au, die Steinwand Au, die Brunn Au und östlich von Pöchlarn die Stogau. Im Bereich der Au-Namen mäandrierte die Erlaf bis in jüngste Zeit, änderte ständig ihren Lauf und bildete, wie auf der Administrativkarte zu sehen, mehrere Inseln. Ihrem Namen nach müssen diese Geländestücke tatsächlich einmal Aulandschaften gewesen sein.