Das Anthropozän lernen und lehren

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2.5 Konsequenzen des Modells für unsere Weltwahrnehmung

Aufgrund der in das Modell eingeschriebenen Vorstellungen von „normal“ beeinflusst das Konzept des Wasserkreislaufs unsere Wahrnehmung und Darstellung von Wüsten, Trockengebieten und tropischen Regionen als deviant (= von der Norm abweichend). Mit dieser Wahrnehmung und Darstellung ist ein „Urteil“ verbunden, indem wir jene Regionen anders als „uns“ (und d.h. in der Regel als minderwertig) beurteilen, als „jeweils unfruchtbare, arme, unzivilisierte, gesetzlose und gewalttätige Orte (und Völker), die das Eingreifen hydrologischer Technik erfordern, um zivilisiert zu werden“ (ebenda, S. 640). Auf der Grundlage dieser Beurteilung rechtfertigen wir den Bau von Dämmen und Stauseen ebenso wie die hydraulische Manipulation von Bächen und Flüssen. Auch das Bohren von Brunnen hat sich zu einer nahezu reflexartigen Maßnahme jeglicher „Entwicklungshilfe“ entwickelt, ungeachtet der geologisch-ökologischen Bedingungen vor Ort und ungeachtet der etablierten kulturellen Praxis im Umgang mit dem natürlich vorhandenen Wasser.

Jamie Lintons Studie über Wasser zeigt an dem sehr konkreten Beispiel des Modells des globalen Wasserkreislaufs, wie sich Wissen in spezifischen sozialen und geographischen Kontexten herausbildet, sich daraus eine zeitlich und örtlich begrenzte „sinnstiftende Erzählung“ entwickelt, die dann von ihrem Entstehungskontext unabhängig wird und stabile Muster der sozialen Wahrnehmung und Beurteilung herausbildet. Die „Sinnstiftung“ der Erzählung liegt darin, dass sie eine leicht verständliche und fast praktische Anleitung für die Sinneswahrnehmung unseres Seins in dieser Welt ermöglicht, die sich zudem in andere Wissensbestände einfügt und so die Komplexität der Welt um uns herum weitgehend reduziert. Gleichzeitig lässt Jamie Lintons Analyse den Schluss zu, dass das Modell des Wasserkreislaufs zum einen dazu beigetragen hat, unseren Umgang mit Wasser in einer nicht-nachhaltigen Weise zu strukturieren und zum anderen, Vorurteile zu bestärken und soziale Ungleichheit zu manifestieren. Das Modell ist daher weder nachhaltig noch global gültig. Mir scheint es an der Zeit, dass wir nach angemesseneren Wegen für unsere Wahrnehmung von und unseren Umgang mit Wasser suchen.

Exkurs 2: Erkenntnistheoretische Fragen im Anthropozän

Die Hypothese des Anthropozäns verweist auf eine Welt komplexer dynamischer Strukturen, mit selbstorganisierenden und selbstreferenziellen Phänomenen, bei denen wir Menschen als einer von mehreren untrennbar miteinander verflochtenen Treibern hochwirksam sind. Pointiert könnte man sagen, dass unsere traditionellen Sichtweisen von Epistemologie und Ontologie in einer Welt entwickelt wurden, die einfacher und langsamer gewesen zu sein schien. Zumindest hatten wir aufgrund der grundsätzlichen Trennung von Natur|Kultur, Sinn|Materie, Leib|Seele usw. den Eindruck, dass sich unsere Wirklichkeit leichter in Segmente und Einheiten unterteilen ließ, die mithilfe von Spezialwissenschaften losgelöst von allem anderen en detail untersucht werden können. Die grundlegend veränderte Situation im Anthropozän dagegen benötigt andere Zugänge, solche, die Prozesse anstelle von Objekten in den Mittelpunkt stellen (z.B. Whitehead 1987; Sohst 2009), und gleichsam den Blick auf das Dazwischen und nicht auf voneinander getrennte Entitäten richtet. Eine Perspektive also, die weder die Materialität der Welt als unabhängig und losgelöst von uns Menschen, noch uns Menschen als unabhängig und losgelöst von der Materie begreift (vgl. Egner 2017b). Erste Hinweise auf diese grundlegenden Veränderungen unserer Weltsicht gaben die Experimente der Quantenphysik vor knapp 100 Jahren mit dem Befund, dass der Beobachtungskontext die Beobachtung bestimmt und damit wir Menschen mit unserem Bewusstsein immer auch Teil der Experimente sowie Teil unserer Wissenschaft sind. In die Physik ist dieses Wissen mittlerweile integriert – ihr ist bewusst, dass sie nicht mehr beschreibt, was wirklich ist, sondern das beschreibt, was sie über die Natur aussagen kann (vgl. Aspelmeyer 2018).

Auf erkenntnistheoretischer Ebene finden sich bereits Vorschläge für radikal neue Zugänge. Basierend auf quantenphysikalischer Einsicht schlägt beispielsweise Karen Barad „Phänomene“ anstelle von unabhängigen Objekten mit inhärenten Grenzen und Eigenschaften als primäre ontologische Einheit vor (Barad 2007, Barad 2012, Barad 2015). Bei ihrem Konzept des agentiellen Realismus geht es ihr um eine Ontologie, die Verbundenheit als Ausgangspunkt des Denkens nimmt und auf der grundlegenden Annahme aufsetzt, dass „Getrenntsein keine inhärente Eigenschaft der Welt“ sei (Barad 2007, S. 136). Damit begreift Barad sowohl das So-Sein von uns Menschen als auch alle Manifestationen in unserer Welt als ein Ergebnis von „Intra-Aktionen“, im Gegensatz zu „Interaktionen“ zwischen unterschiedlichen Entitäten. Sowohl die Welt als auch das Bewusstsein über die Welt entstehen nur in, durch und aufgrund ihrer wechselseitigen Verschränkung miteinander und nicht durch ihre Trennung. Barads Sichtweise auf die untrennbar verschränkte Verbindung von Bewusstsein und Materie, aus der wir selbst sowie die Welt immer wieder, und immer wieder neu, hervorgehen, erscheint mir für das Denken im Anthropozän als guter Ausgangspunkt.

3. Gedanken zum Wasserkreislauf-Lehren/Lernen im Anthropozän

Unsere Wahrnehmung hat sich durch die Hypothese des Anthropozäns für die Komplexität der Welt geöffnet – es ist daher nicht die Welt, die komplexer geworden ist, uns ist nur die Komplexität der Welt ein Stück bewusster geworden. Der „Denkrahmen“ (Sippl & Scheuch 2019) des Anthropozäns erlaubt (und erfordert) es, von einfach zu lernenden und einfach zu vermittelnden Inhalten in der Bildung mit eindeutigen Antworten wie richtig/falsch, ja/nein usw. fortzuschreiten und sich komplexeren Inhalten hinzuwenden, die eine abwägende Begründung im Sinne von „sowohl ... als auch“, „es kommt darauf an ...“ oder „mehr oder weniger ...“ erfordert und dies möglichst früh in der schulischen Bildung. Die Umsetzung so grundlegend neuer Sichtweisen beim Lehren/Lernen im Anthropozän fordert einiges, von Lehrenden wie Lernenden:

• Offenheit für verändertes Denken und ein Einlassen auf ein denkendes Erforschen auf noch nicht vorgespurten Wegen. Sowohl bei der Vorbereitung, als auch im Unterricht.

• Kompetenzen im Umgang mit Unsicherheit und Nicht-Wissen – das dürfte für Lehrende eine größere Herausforderung sein als für Schüler*innen, denn letztlich fordert es die Lehrenden dazu auf, ihren inneren Standpunkt, von dem aus sie ihre Lehre betreiben, von „wissend“ zu „denkend erkunden“ zu verändern.

Für die konkrete – und im besten Fall interdisziplinäre – Umsetzung zum Modell des Wasserkreislaufs im Unterricht können folgende Überlegungen hilfreich sein:

• In unteren Jahrgangstufen kann das Modell des Wasserkreislaufs zur Erklärung der prinzipiellen Annahmen über Wasser genutzt werden. Bereits hier kann auf die lokalen Erfahrungen zurückgegriffen werden, z.B. die zunehmenden Dürrejahre in unseren Breiten, flankiert mit Starkregenereignissen und anderen extremen Wetterlagen, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein „Modell“ handelt, das einer regionalen Anpassung bedarf.

• In höheren Jahrgangstufen kann das Modell des Wasserkreislaufs dazu dienen in Gruppen zu erarbeiten,

• wie Wissen (z.B. in Form von Modellen) kontextgebunden entsteht und somit auch eine beschränkte Gültigkeit hat (zeitlich, örtlich).

• welche Aspekte in dem Modell berücksichtigt und welche Erfahrungen im Umgang mit Wasser ausgeblendet werden.

• welche sozialen Konsequenzen mit dieser Form des Wissens einhergehen, inwiefern durch Modelle und Theorien soziale Wirklichkeit geschaffen wird und z.B. soziale Ungleichheit, Machtunterschiede usw. manifestiert/verstärkt/abgebaut/... werden.

• welche Alternativen es geben könnte, Wasser und unseren Umgang damit in einem Modell darzustellen.

• ...

Ein kleines Gedankenexperiment mag helfen, sowohl die zeitliche Dimension geologischer Zeiträume, als auch das Wunder frischen Trinkwassers sowie die Verbundenheit von uns Menschen mit der Welt spürbar zu machen: Wir haben oben gelernt, dass der globale Wasserkörper seit Anbeginn der Erde nahezu unverändert ist und ca. 3.200 Jahre benötigt, um einmal vollständig durch den Wasserkreislauf zu gehen. Wassermoleküle scheinen extrem persistent zu sein, d.h. es ist wahrscheinlich, dass ein großer Teil der Wassermoleküle von heute die gleichen Wassermoleküle sind wie bereits seit Anbeginn des Wassers auf unserer Erde. Zieht man den Aspekt mit ein, dass Wasser der Hauptbestandteil der Flüssigkeiten der meisten lebenden Organismen ist, kann man ferner davon ausgehen, dass jeder Wassertropfen Teil von Lebewesen gewesen ist (vgl. Fishman 2011, Maxwell & Yates 2012). Nehmen wir zum Beispiel die Dinosaurier: In den mehr als 180 Millionen Jahren ihres Bestehens als dominierende Tiergruppe auf der Erde hat der globale Wasserkörper den Wasserkreislauf mehr als 60.000 Mal durchlaufen. Damit können wir sicher sein, dass das gesamte Wasser auf der Erde im Laufe der Zeit durch mindestens ein Paar Dinosaurier-Nieren und selbstverständlich auch durch viele andere Verdauungssysteme geflossen ist. Vor dem Hintergrund dieses Gedankenexperiments könnten Sie als Lehrende mit Ihren Schüler*innen gemeinsam einen Schluck Wasser trinken, und damit reines, farbloses, durchsichtiges, geschmackloses, geruchloses recyceltes Dinosaurierpipi zu sich nehmen. Was macht das mit Ihnen? Das Zulassen des Gefühls von verschränkter Wasser-Materie und Wasser-Bedeutung könnte eine andere Art und Weise ermöglichen, unserem Sein in dieser Welt einen Sinn zu geben: nämlich Teil der Weltprozesse zu sein, anstatt sich getrennt von ihnen zu empfinden. Prosit!

 

Literatur

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Adams, Barbara (1998): Timescapes of modernity. The environment and invisible hazard. London: Routledge.

Aspelmeyer, Markus (2018): Alternative Wahrheiten. Die Konstruktion der Wirklichkeit. Österreichische Forschungsgemeinschaft: Österreichischer Wissenschaftstag, 13–14.

Bailer-Jones, Daniela M. (2004): Realist-Sein im Blick auf naturwissenschaftliche Modelle. In: Halbig, Christoph & Christian Suhm (Hg.): Was ist wirklich? Neuere Beiträge zu philosophischen Realismusdebatten. Frankfurt/M.: ontos, 139–161.

Barad, Karen (2007): Meeting the universe halfway. Quantum Physics and the entanglement of matter and meaning. Durham and London: Duke UP.

Barad, Karen (2012): Agentieller Realismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

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Egner, Heike (2017b): Neither realism nor anti-realism: How to approach the Anthropocene? In: Kanzian, Christian, Sebastian Kletzl, Josef Mitterer & Katharina Neges (Hg.): Realism – Relativism – Constructivism. Proceedings of the 38th International Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel. Berlin: De Gruyter, 153–166.

Egner, Heike & Moremi Zeil (2019): Das Anthropozän – ein begriffliches Erdbeben (nicht nur für die Geographie). In: Egner, Heike & Horst Peter Groß (Hg.): Das Anthropozän. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Krisendiagnostik. München: Profil, 15–32.

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Zalasiewicz, Jan, Colin N. Water, Alexander P. Wolfe, Anthony D. Barnosky, Alejandro Cearreta, Matt Egdeworth, Peter K. Haff, Martin J. Head, Juliana A. Ivar do Sul, Catherine Jeandel, Reinhold Leinfelder, John R. McNeil, Naomi Oreskes, Clément Poirier, Andrew C. Revkin, Daniel D. Richter, Will Steffen, C. P. Summerhayes, James P. M. Syvitsky, Davor Vidas, Michael Wagreich, Scott L. Wing & Mark Williams (2017): Making the case for a formal Anthropocene Epoch: an analysis of ongoing critiques. Newsletter on Stratigraphy, 50 (2), 205–226.

Martin Haltrich
Die Kontrolle der Wildnis
Eine Landschaftszeichnung aus dem 14. Jahrhundert als Vorgeschichte des Anthropozäns

Am Anfang des 14. Jahrhunderts, so um 1310 oder 1315, beginnen die Zisterziensermönche im Stift Zwettl ein großes Projekt.1 Sie wollen ein Buch verfassen, in dem alle Informationen und Geschichten über ihr Kloster und die Gründerfamilie vereinigt sind. Aber nicht nur das, sie wollen auch alle Dokumente, die Aufzeichnungen über ihren Besitz und ihre Rechte in das Buch übertragen. So können sie das Werk auch für ihre Verwaltung nutzen, denn die Mönche betreiben eine Grundherrschaft, sie bewirtschaften Wiesen und Wälder, besitzen Fisch- und Jagdrechte, haben Schaf- und vielleicht sogar Rinderherden und verarbeiten die landwirtschaftlichen Rohstoffe in eigenen Betrieben, wie etwa Mühlen oder Käsereien. Das alles dient in erster Linie der Versorgung der Klostergemeinschaft, aber die überschüssigen Produkte – das ist meistens Wein – können sie selbst vermarkten, dafür hat ihnen der Landesfürst Höfe in den größeren Städten geschenkt, in denen sie auch von Zöllen und Steuern befreit sind.2

Dieses Buch enthält demnach existentiell wichtige Inhalte und deshalb wird es auch äußerst repräsentativ gestaltet. Die Kalbshäute bzw. die Pergamentblätter werden nur einmal in der Mitte zu Doppelblättern gefaltet, um das größtmögliche Format zu bekommen. Insgesamt sind fast 100 Tierhäute verarbeitet, die beschnitten, liniert und zu einzelnen Lagen zu je fünf Doppelblättern zusammengelegt wurden. So können sie von einem Schreiber in kalligraphisch hochstehender Schrift mit schwarzer und roter Tinte beschrieben werden. Er lässt immer wieder Bereiche für Zeichnungen frei, in denen Personen, Stammbäume oder bedeutende Szenen aus der Stiftsgeschichte dargestellt werden. Wenn der Schreiber fertig ist, können Buchmaler diese Lücken bunt illustrieren. Für dieses Werk, immerhin das „Stifterbuch“ des Klosters, so genannt, weil alle, die dem Kloster etwas gestiftet haben, darin verewigt wurden, werden die besten im Land verfügbaren Illuminatoren engagiert. Die Malerei muss allerdings ziemlich teuer gewesen sein, denn es wird nur eine einzige Seite fertig, jene mit dem Stammbaum der Kuenringer – der Stifterfamilie der Zwettler Zisterze. Zum Schluss werden die Blätter in den Lagen zusammengeheftet und für den prächtigen Einband Lindenholzbretter mit Wildschweinleder überzogen. Zu seinem Schutz werden die Ecken mit verziertem Messingblech beschlagen und auf dem Vorder- und Hinterdeckel jeweils fünf Buckel genagelt, denn in dieser Zeit werden Folianten liegend aufbewahrt.

Aus der Idee der Zwettler Mönche ist eines der berühmtesten Bücher des Spätmittelalters in Zentraleuropa entstanden, der Liber fundatorum Zwetlensis – im Volksmund nach dem erwähnten Einbandüberzug aus dem Fell eines Ebers bzw. Saubären auch „Bärenhaut“ genannt3. Doch warum dieser Aufwand? Und was hat das mit dem Anthropozän zu tun?

Die Basis für die geologisch sichtbare Einwirkung des Menschen im Sinne des Anthropozäns ist unter anderem ihre Einstellung zum Naturraum.4 Diese Vorstellungen beeinflussen seinen Umgang mit der Umwelt und es lohnt, ihnen nachzuspüren. Besonders an kleinräumigen Strukturen können die durch Jahrhunderte geleisteten Arbeiten im und am Naturraum nachvollzogen und jene Prozesse verdeutlicht werden, die von der unberührten Natur oder auch Wildnis zu der vom Menschen gezeichneten Kulturlandschaft führen.5 Mit der „Urbarmachung“ eines Territoriums beginnen permanente menschliche Eingriffe in die Erdoberfläche, die dauerhaft in der Erdkruste gespeichert sein werden und in den „Urbaren“ – den mittelalterlichen Vorläufern der Grundbücher – nachvollzogen werden können. Sie dokumentieren die Nutzung des Bodens und sind gute Quellen für die Reflexion des menschlichen bzw. anthropologischen Einwirkens auf den Planeten.

Was „Urbarmachung“ heißen kann, sehen wir, wenn wir die Bärenhaut auf Blatt 12r aufschlagen. Dort ist eine Grafik in Kreisform, die eine bemerkenswerte Informationsdichte im Hinblick auf unsere Fragestellungen aufweist (Abb. 1). Dargestellt ist der sogenannte Umritt, eine Szene, die am Neujahrstag des Jahres 1138 – einen Tag nach der offiziellen Gründung des Klosters – stattgefunden haben soll. Der Kuenringer Hadmar I. reitet mit Abt Hermann die Güter seiner Stiftung ab. Angeblich sollen sie in Moidrams, heute ein Stadtteil Zwettls und etwa 5 Kilometer vom Stift entfernt, begonnen haben und einen ganzen Tag lang geritten sein.6

Die Zeichnung ist analog zu diesem Umritt aufgebaut und von einem großen Außenkreis umschlossen. Auf den ersten Blick scheint alles recht chaotisch. Da ist allerlei Gekritzel, manche Textblöcke sind schief und teilweise auf den Kopf gestellt eingetragen, einzelne Wörter scheinen ohne Zusammenhang hingeschrieben und lange, wellenförmige Zeilen vermitteln den Eindruck, als ob der Schreiber ohne Linierung den Halt verliert. Alles in allem unübersichtlich und auch skizzenhaft, nichts ist koloriert. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber heraus, dass es sich bei dem Bild um eine sehr präzise Landkarte handelt. In den Kreis sind noch die Himmelsrichtungen der genordeten Karte eingetragen, im Osten steht der Sonnenaufgang und der Mond ist im Westen verortet.

In der Grafik befindet sich das Kloster in der Mitte, umgeben von einigen Gebäuden und innerhalb des Kreises, an den Medaillons angeheftet sind. Links unten ist Papst Innozenz zu sehen, ihm gegenüber oben rechts König Konrad, darunter ebenfalls rechts Herzog Leopold. und wiederum gegenüber oben links die beiden Reitenden Hadmar von Kuenring mit Abt Hermann. Es wird hier gezeigt, dass die Gründung des Stiftes im Rahmen der rechtlichen Vorschriften durchgeführt und somit von den politischen und religiösen Autoritäten des mittelalterlichen Herrschaftssystems gutgeheißen wurde.7

Die zentral dargestellte Stiftskirche ist auf drei Seiten von fünf der Grangien des Stiftes umgeben. So wie das Herrschaftssystem mit seinen angehefteten Autoritäten dargestellt ist, so ist auch das Wirtschaftssystem, dem das Kloster unterliegt, ersichtlich. Die hier gezeichnete Grangienwirtschaft ist ein von den Zisterziensern entwickeltes Wirtschaftskonzept, in dem das Kloster von Höfen – lateinisch grangia für Scheune oder auch Kornhaus – umgeben ist, die innerhalb von einer Stunde Fußweg erreichbar sein sollten.8 Diese Einheiten werden von Laienbrüdern geführt, die nur niedere Weihen haben, in einem eigenen Klostertrakt von den Priestermönchen getrennt wohnen und dem innerklösterlichen Alltag weniger verpflichtet sind.9 Auf der Karte sehen wir den Dürnhof sowie die Grangien Gaisruck, Petzleins, Erleich und den Ratschenhof.

 

Das Waldviertel war zur Zeit der Gründung des Stiftes keineswegs so unbesiedelt wie man meinen könnte und so sind westlich des Stiftes jene drei Orte verzeichnet, die schon vor dem Kloster existierten.10 Nämlich die Stadt Zwettl, die Pfarrkirche und ein nicht näher bezeichnetes predium, wahrscheinlich die Burg auf dem heutigen Propsteiberg. Außerdem handelt es sich bei Zwettl um keine abgelegene Gegend. Denn wie wir auf der Karte sehen, kommt der Polansteich (für „Steig“) von Südosten her und führt der Pehemsteich im Norden weiter. Diese zwei Straßen sind die beiden Hauptverkehrswege des Waldviertels und sie kreuzen sich in Zwettl.11 Wenn man mit der Gegend vertraut ist, erkennt man in dem als Spruchband gestalteten äußeren Kreis die gesamte Geografie der Gegend wieder. Oben links beginnend in Richtung (Groß-)Gerungs und Gutenbrunn, die ganze Runde bis nach Reichers und am Ende Weißenbach. Vergleicht man diese Angaben mit einer aktuellen Straßenkarte, so wird klar, dass es sich um eine genaue Beschriftung des Wegenetzes handelt.


Abbildung 1: Darstellung des Umritts in der Zwettler „Bärenhaut“ (Stiftsarchiv Zwettl, Hs. 2/1, fol. 12r).

Schlussendlich ist es aber nicht nur eine Straßenkarte, es ist auch andere Infrastruktur, wie Betriebe oder bewirtschaftete Fluren, die in die Grundherrschaft des Stiftes Zwettl fallen, eingezeichnet, angefangen vom Wald in Rabenthan, den Dörfern Salmans oder Gradnitz bis hin zum Klosterwald oder dem Forst in Reinprechtspruck, aber auch Naturerscheinungen wie etwa die Felsen bei Moidrams, wo der Umritt begann. Alle diese Informationen sind sehr genau in die natürlichen Voraussetzungen eingebettet, und dieser Naturraum wird von zwei Spruchbändern durchzogen, die als einzige die Begrenzungen des Kreises durchstoßen. Quer über das ganze Bild fließt der Kamp: Fluvius qui maior Champ dicitur, fluens cum Zwetlensi fluvio iuxta claustrum et contra orientem largiter derivatur, zu deutsch: Ein Fluss, der großer Kamp genannt wird, fließt durch den Fluss Zwettl vergrößert beim Kloster in Richtung Osten vorbei. Das Spruchband des Flusses Zwettl kommt aus dem Norden und mündet genau beim Wort Zwetlensi in das Band des Kamps, an dem das Wort Zwettl steht (Abb. 2). Das ist einzigartig, genauso wie die gesamte Karte.


Abbildung 2: Das Detail zeigt die Mündung der Zwettl in den Kamp, dargestellt als zwei Spruchbänder in der Umrittsdarstellung der Bärenhaut (Stiftsarchiv Zwettl, Hs. 2/1, fol. 12r – Ausschnitt).

Als diese Grafik Anfang des 14. Jahrhunderts in die Bärenhaut gezeichnet wurde, existierte das 1138 gegründete Stift Zwettl schon fast 200 Jahre lang. Warum überlegte man sich gerade zu dieser Zeit so ein Projekt? Was wird hier eigentlich vermittelt, und wer soll damit angesprochen werden?

Gehen wir einen Schritt zurück. Das Stift Zwettl wurde auf einer Halbinsel in einer Schlinge des Kamps gegründet. Der Fluss entspringt im Weinsberger Wald und mündet nach 153 Kilometern Flusslänge im Tullnerfeld in die Donau. Schon der keltische Name ist einer der ältesten Sprachtermini der Region und bedeutet „krumm“ bzw. Krümmung.12 Er weist auf die ersten noch vorrömischen Besiedlungen der Gegend des silva nortica oder „Nordwaldes“ hin, eines Urwalds, der zuerst von slavischen Gruppen besiedelt war und ab dem 11. Jahrhundert sukzessive unter die Kontrolle der Babenberger gebracht wurde. Zuständig für die Inbesitznahme und Kolonisierung dieses Gebietes waren die Kuenringer, die als Dienstleute der landesfürstlichen Babenberger das gesamte Territorium entlang dieses Flusses erschlossen.13

Die Zisterzienser übernahmen im 12. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Umwandlung der Natur- in eine Kulturlandschaft.14 Sie sind ein Reformorden der Benediktiner, die schon im Frühmittelalter mit ihren Reichsklöstern eine wesentliche Stütze des karolingischen Herrschaftssystems darstellten und in ihrer langen Kontinuität das gesamte europäische Mittelalter prägten. Benediktinerklöster sind – zumindest theoretisch – Institutionen, die in kultivierten Gegenden, meistens an beherrschender Stelle auf Hügeln gelegen, wie z.B. Melk und Göttweig, geistige Zentren bildeten und maßgeblich für das religiöse und kulturelle Leben des Mittelalters waren. Auf Basis der Bibeltexte adaptierten bzw. rechtfertigten die Mönchsorden die jeweiligen gesellschaftspolitischen Umsetzungen in der „Zähmung der Wildnis“, der Unterwerfung der Natur unter die Bedürfnisse des Menschen.15 Diese Texte werden von den frühmittelalterlichen Kirchenvätern vertieft gedeutet und weiterentwickelt. Die gebildeten Kleriker kennen sie fast auswendig, arbeiteten auch mit der Naturgeschichte des Plinius, dem Kräuterbuch des Dioscurides oder den Tierbeschreibungen des Physiologus.16 Sie lieferten die meist heilsgeschichtlich ausgerichteten Konzepte für den Umgang mit dem Lebensraum. Dahinter steht die Christianisierung Europas, in der sukzessive die Natur entmystifiziert bzw. entzaubert und damit unter Kontrolle gebracht werden soll. Die nötige Organisationskompetenz für Kolonisierung und Urbarmachung der Territorien kommt weitgehend von den alten Orden, die mit ihrem Bildungsmonopol antikes Wissen in ihre Theologie integrieren und diese Denkgebäude mit praktischen Erfahrungen zu einem Organisationswissen formen. Unser westliches naturwissenschaftlich-technisches Verständnis des Planeten nimmt hier seinen Ausgang. Ein bedeutendes Beispiel in diesem Zusammenhang ist der St. Gallener Klosterplan aus dem beginnenden 9. Jahrhundert, in dem das Kloster eine eigene, nach außen abgeschlossene Welt ist.17 Diese klösterlichen Institutionen mit ihren Gelehrten und ihrer auf religiösen Vorstellungen basierenden zeitweiligen Deutungshoheit waren federführend in der Tradierung und Weiterentwicklung von Konzepten für den Umgang mit der Natur. Ihre Ideen werden in der Bearbeitung der Landschaft umgesetzt.18

Besonders gut nachvollziehbar sind die normativen Konstrukte der Zisterzienser, die es als Aufgabe sahen, zurück in die Natur zu gehen, dorthin wo es entlegen, unwirtlich und karg war, wo keine Zivilisation herrschte. Ein halbes Jahrtausend nachdem der Ordensgründer Benedikt sein Regelwerk verfasst hatte, fokussierten sich die Zisterzienser wieder auf Askese, Bildung und körperliche Arbeit. Sie betrachteten ihr Kloster als eine arbeitsteilig organisierte Gemeinschaft, die sich in einer Art Subsistenzwirtschaft von der äußeren Welt und ihren Einflüssen unabhängig versorgen kann. Die „Weißen Mönche“ wollten der unfruchtbaren, ungezähmten Natur unter größter Anstrengung ihre Früchte abtrotzen. Berühmt ist die Passage aus den 1134 festgeschriebenen Regeln des Generalkapitels: In Städten, Befestigungen oder Dörfern ist keines unserer Klöster anzulegen, sondern fern vom Verkehr der Menschen, in abgelegenen Orten.19

Diese Ideen kommen aus Frankreich und sind am Puls der Zeit, und das französische Kloster Clairvaux ist auch Vorbild für Zwettl.20 Die Kuenringer, die als Ministerialen der landesfürstlichen Babenberger für die Kolonisierung der kargen Gegend nördlich der Donau zuständig waren, holen diese hochgebildeten und asketischen Männer von Heiligenkreuz im Wienerwald ins heutige Waldviertel an den Kamp.21 Die Geistlichen siedeln auf einer Halbinsel in einer Schlinge des Kamps ihr Kloster an und beginnen die Arbeit am bzw. mit dem Fluss. Eine erste Brücke wird geschlagen und seine Strömung über Jahrhunderte für den Antrieb von land- und forstwirtschaftlichen Verarbeitungsbetrieben, zum Abtransport von Abfällen und schlussendlich zum Betrieb des ersten Elektrizitätswerkes im Waldviertel genutzt. Mittlerweile ist der Kamp mit Wasserkraftwerken weitgehend ausgebaut.

Der Beginn dieses Ausbaus zur sogenannten Kulturlandschaft der ersten Gründergeneration ist heute noch sichtbar und Architektur von damals wird immer noch genutzt. Wir können heute noch über die alte Brücke mit dem Auto den Fluss überqueren, der Mühlkanal für den Antrieb der noch gar nicht so lange verschwundenen Wasserräder ist noch vollständig erhalten ebenso wie das romanische Kloster mit Kapitelsaal, Kreuzgang und Necessarium, der über dem Kamp errichteten Latrinenanlage – die eigenwilligste Touristenattraktion des Zisterzienserstiftes Zwettl.22