Das Anthropozän lernen und lehren

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I. DAS ANTHROPOZÄN … PERSPEKTIVEN global/lokal

Heike Egner
Das „Modell des Wasserkreislaufs“
Weder nachhaltig noch global gültig
1. Einleitung: Das Anthropozän als Herausforderung unseres bisherigen Denkens

Die These des Anthropozäns stellt uns vor große Herausforderungen – sowohl jeden einzelnen von uns als auch als Gesellschaft. Nimmt man die These ernst, dann irritiert sie über alle Maßen, stellt unsere bisherigen Gewissheiten infrage und zwingt uns, alles bisher für normal und selbstverständlich Gehaltene neu zu überdenken (Egner & Zeil 2019). Für die schulische Bildung wird das Anthropozän mittlerweile als „Denkrahmen für Bildungsprozesse“ (Sippl & Scheuch 2019), als fächerübergreifende „Querschnittsaufgabe“ (Niebert 2016, S. 80) und als „integratives Wissens- und Bildungskonzept“ (Leinfelder 2018) diskutiert. Es wird jedoch noch einiges an Arbeit und Zeit brauchen, bis das grundsätzlich veränderte Denken, das als Konsequenz aus der Hypothese des Anthropozäns erwächst, tatsächlich seine konkrete Umsetzung in Lehrplänen, Schulbüchern und durch entsprechend ausgebildetes Lehrpersonal findet.

Dieser Beitrag nutzt das Modell des globalen Wasserhaushalts als ein Beispiel, das in den Lehrplänen der Schule als Grundwissen in den Naturwissenschaften gelehrt und später an den Universitäten als selbstverständlich bekannt voraus gesetzt wird, um daran entlang nach Wegen des Denkens und Lehrens zu suchen, die für die Hypothese des Anthropozäns angemessenen sein können. Ich gehe dabei von zwei Grundannahmen aus, die der Argumentation dieses Beitrags den Rahmen geben:

(1) Unser Denken ist geprägt von Theorien und Modellen, auch wenn es uns im Alltag oftmals nicht bewusst ist. Wann immer wir etwas wahrnehmen, bietet unser Gehirn uns eine Erklärung dafür an. Das geht in der Regel blitzschnell, ohne dass wir bewusst darüber nachdenken. Über diese Fähigkeit verfügen wir offenbar bereits seit unserem frühesten Kindesalter, lange bevor wir Sprache erworben haben (vgl. Liu et al. 2019). Ein grundlegendes Verständnis von Korrelationen (Wechselbeziehungen) und Kausalitäten (Ursache-Wirkungs-Beziehungen) scheint in uns Menschen als Kernkompetenz angelegt zu sein. Wir bringen also bereits ein Set von Annahmen über das Funktionieren unserer Welt mit. Im Laufe unserer Sozialisation lernen wir dann weitere Theorien und Modelle, die unser Verständnis von „normal“ unserer Alltagswelt prägen, wobei uns oftmals die zugrundeliegende Theorie oder das Modell nicht bewusst ist. Treten neue Phänomene oder andere Erklärungsmuster für Bisheriges auf, entsteht zunächst eine Phase kognitiver Dissonanz (im Sinne von Festinger 2001/1957), bevor sie in unsere Alltagslogik integriert werden können. Die Hypothese des Anthropozäns stellt ein derartiges neues Erklärungsmuster bereit, das auf ganz umfassende Weise unsere impliziten und expliziten Theorien und damit unseren Denkrahmen herausfordert.

(2) Anders als die Fähigkeiten zu kausalen Erklärungen bringen wir ein Verständnis von Zeit nicht als Kernkompetenz mit in diese Welt. „Zeit“ müssen wir erst erlernen. Gleichzeitig ist Zeit das „unsichtbare Andere“ (vgl. Adams 1995, Adams 1998), das unser Denken und Handeln gleichermaßen fundamental strukturiert. Unser derzeitiges Verständnis von Zeit basiert weitgehend auf der Wahrnehmung unserer alltäglich-lebensweltlichen Verhältnisse und umfasst im besten Falle einige Jahrzehnte. Wenn wir sehr weit denken (und vielleicht in der Mitte unseres Lebens stehen), dann kann sich unsere heutige Zeitvorstellung noch in die Vergangenheit auf zwei Generationen vor uns (Großeltern) und in die Zukunft gerichtet auf die beiden Generationen nach uns (Enkel) erstrecken (außer wir sind Historiker*innen oder Geolog*innen, was jedoch die wenigsten von uns sein werden). Unsere alltagsweltlichen Möglichkeiten, Zeiträume zu erfassen, scheinen sich im Laufe des Lebens zu erweitern. Für Kinder, die „Zeit“ als Konzept und Strukturgeber des Lebens erst noch erlernen müssen, sieht Zeit anders aus als für ihre Eltern oder gar die Großeltern. Die Hypothese des Anthropozäns sensibilisiert uns dafür, dass für die Wahrnehmung und Nutzung unserer natürlichen Ressourcen ein Denken in ganz anderen Zeiträumen relevant ist, insbesondere wenn es sich dabei um fossile Ressourcen dreht, die sich nur in geologischen Zeiträumen erneuern (vgl. Görg 2016). Das Anthropozän lehrt uns, unsere Wahrnehmungsfähigkeit und damit unser Bewusstsein für jene Zeit, die in unseren Ressourcen steckt, zu erweitern, also gleichsam unsere Narrative über uns und die Welt an unsere „irdischen Verhältnisse“ (vgl. Zahnen 2015) anzupassen.

Was folgt? Kapitel 2 nimmt unser Verständnis von Wasser und insbesondere das Modell des Wasserkreislaufs in den Fokus und möchte daran zeigen, in welcher Weise unser Blick in die Welt und unser Normalitätsverständnis durch solche Modelle geprägt werden. Die Hypothese des Anthropozäns sowie die damit zusammengefasste globale Veränderungsdynamik erlaubt, ein als sicher angenommenes „Wissen“ zu hinterfragen, unseren Denkrahmen neu zu justieren und eine neue Erzählung zu beginnen, die veränderter Theorien und Modelle bedarf. Kapitel 3 zieht einige mögliche Schlussfolgerungen für die Lehre aus dem Beispiel. Ergänzt wird der Beitrag durch zwei Exkurse, wodurch sich der Text auf dreierlei Wegen lesen lässt: Kapitel 1, 2 und 3 legen den argumentativen Pfad und enden mit möglichen Weisen, das Modell des Wasserkreislaufs im Unterricht umzusetzen (Leseweg 1, gleichsam für Pragmatiker*innen empfohlen). Für jene, die eine erweiterte theoretisch-konzeptionelle Einbettung der Argumentation in die grundlegenderen Fragen der gesellschaftlichen Naturverhältnisse vorziehen, sei die ergänzende Lektüre von Exkurs 1 „Veränderungen der Mensch-Natur-Verhältnisse im Anthropozän“ empfohlen. Jene Leser*innen, die darüber hinaus auch ein Interesse an erkenntnistheoretischen Fragen treibt, bietet Exkurs 2 vielleicht einige Anregungen.

Exkurs 1: Mensch-Natur-Verhältnisse im Anthropozän radikal anders

Was bedeutet es für unsere Vorstellung von „Natur“, wenn wir akzeptieren, dass wir Menschen die dominierende Größe auf dem Planeten geworden sind (vgl. Egner 2017a)? Damit ist gleichzeitig gesagt, dass wir auf alle natürlichen biochemischen und geophysikalischen Prozesse einwirken (vgl. Zalasiewicz et al. 2017), und dies in einem solchen Ausmaß, dass wir damit sogar unsere Lebensgrundlagen gefährden. Was ist dann noch „Natur“? Es scheint, als würden sich mit dem Anthropozän unsere Vorstellungen von „Natur“ zwangsläufig auflösen. Wenn die „Natur“ verschwindet, hat dies gleichzeitig Auswirkungen auf unser Menschenbild, also unsere Vorstellungen davon, wer wir als Menschen sind und was uns zentral ausmacht. Seit Jahrtausenden haben wir uns als etwas definiert, das der Natur gegenübersteht. Die Natur war gleichsam unser Gegenstück, das wir brauchten, um zu bestimmen, wer wir sind. Dabei galt vor allem unser Bewusstsein als das zentrale Element, das uns über die Natur erhebt und das uns zu etwas deutlich anderem werden lässt, als es die Natur selbst ist. Gleichzeitig ist der Zusammenhang von Mensch und Natur in den Wissenschaften seit Jahrtausenden eine ungelöste Frage. Wenn also mit der Hypothese des Anthropozäns die Natur (oder besser: unsere Vorstellungen von ihr) verschwindet, dann verschwindet gleichzeitig auch unsere Vorstellung von uns selbst. Die Erschütterung dieser Vorstellungen ist einer der Gründe, warum die Hypothese des Anthropozäns unser Weltbild und unsere Vorstellungen von der Ordnung der Welt auf so fundamentale Weise herausfordert.

Eine Möglichkeit, sich der Frage danach zu nähern, was „Natur“ und „Mensch“ im Anthropozän bedeuten und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, kann die Suche nach einem neuen „Wir“ sein. Mir scheint es z.B. problematisch, von „dem Menschen“ zu sprechen, wie das ganz üblich ist, auch in Schulbüchern und im Unterricht. Hier ist üblicherweise die Rede von „dem Menschen“, der zu den Umweltveränderungen geführt hat, die wir mit dem Anthropozän diagnostizieren. Die Rede von „dem Menschen“ als Verursacher von etwas spricht auf eine so allgemeine und so distanzierte Weise über einen Sachverhalt, als könnten die Problemlagen, die durch „den Menschen“ verursacht werden, durch irgendjemand anderen gelöst werden. So ist es jedoch nicht. Weder ist die Problemlage durch irgendjemanden zu lösen, noch ist es irgendjemand anderes, der sie verursacht. Es sind „wir“, wir alle, alle Menschen – und zwar unabsichtlich. Ohne es zu wollen wurden wir zu einer geophysikalischen Größe, allein durch die gelebte Wirtschaftspraxis in neoliberaler Manier und dies von einer stetig steigenden Anzahl an Menschen.

Der Geologe Reinhold Leinfelder spricht in seinem Science-Blog „Der Anthropozäniker“ von der „Unswelt statt Umwelt“ (Leinfelder o. J.). Wen meint dieses Uns in der Welt im Anthropozän? Sind das auch unsere Mitlebewesen (die so genannten Ko-Spezies)? Also Steinböcke, Murmeltiere, Adler, Fische, Käfer, Stechmücken …? Wie ist es mit anderen Elementen unserer physischen Umwelt, jenseits der Tiere? 2017 wurde von drei Bundesverfassungsgerichten in unterschiedlichen Ländern unabhängig voneinander Flüssen erstmals gerichtlich der Status einer „juristischen Person“ zuerkannt (Ganges und Yamuna in Indien, Whanganui in Neuseeland und Rio Atrato in Kolumbien; vgl. Strang 2020). Wie ist das zu verstehen? Welche Rechte und Pflichten können an eine juristische Person „Fluss“ herangetragen werden? Und ganz grundsätzlich: Wie kann ein Fluss eine „juristische Person“ werden, wenn wir gleichzeitig den uns ähnlichsten Tieren (Primaten) sowie jenen Wesen, die unser Leben erleichtern sollen und in die wir sehr viel Geld und Mühe investieren, damit sie das tun (Künstlichen Intelligenzen), den Personenstatus und damit Menschenrechte verweigern?

 

All dies sind offene Fragen, die jedoch – lässt man sie einmal spielerisch gedanklich zu – jegliches Lehren/Lernen verändern und das Bewusstsein für ein neues Verständnis mit Blick auf das Anthropozän öffnen.

2. Der Fall: Das Modell des Wasserkreislaufs

Das Modell des Wasserkreislaufs ist ein konkretes und überschaubares Beispiel, an dem sich zeigen lässt, dass alle unsere Erklärungen über die Welt nichts anderes als „sinnstiftende Erzählungen“ sind, entstanden in einem konkreten Kontext und versehen mit einer beschränkten Gültigkeit. Der Begriff der „Erzählung“ (oder mit dem Fachbegriff: „Narrativ“) erscheint mir zentral. Ich folge damit Yuval Noah Harari, der darauf hinweist, dass wir „Sapiens“ deshalb die Welt beherrschen, weil nur wir in der Lage sind, uns gegenseitig Geschichten zu erzählen, an die wir dann mit ganzem Herzen glauben und unter Umständen sogar bereit sind, dafür in den Krieg zu ziehen. Gleichzeitig zeigt die gesamte Geschichte: „Früher oder später löst sich dieses Sinngeflecht, das wir erfunden haben, auf und wenn wir zurückblicken, fällt es uns schwer zu begreifen, wie irgendjemand es jemals ernst nehmen konnte“ (Harari 2017, S. 207). Wie ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte zeigt, gilt dies auch für wissenschaftliche Erzählungen. Behalten wir also im Blick: Auch unser aktuelles, als sicher angenommenes Wissen, das wir in der Schule und den Universitäten weiterreichen und weiterentwickeln, besteht aus nichts anderem als Erzählungen, deren Sinngeflechte sich früher oder später auflösen werden.

In wissenschaftlichen Erzählungen bilden Theorien und Modelle die Struktur und das Gerüst, an dem entlang erzählt wird. Vor der näheren Betrachtung der Erzählungen über Wasser und das Modell des globalen Kreislaufs erscheint mir ein kurzer Blick auf diese Grundstruktur hilfreich, auch um damit die Unterscheidung zwischen Theorie und Welt in Erinnerung zu rufen.

2.1 Grundlegendes zur Struktur von „Erzählungen“: Theorien und Modelle

Die Begriffe „Theorie“ und „Modell“ werden oftmals synonym verwendet. Sie meinen jedoch Unterschiedliches und verweisen auf verschiedene Aspekte unseres Denkens in einer Erklärung. Theorien lassen sich in einem ganz basalen Sinn als „Annahmen über kausale Zusammenhänge“ (Egner 2010, S. 9) verstehen. Diese einfache Definition gilt für wissenschaftliche Theorien wie auch für jegliche Annahmen über Ursache-Wirkungs-Beziehungen, die wir im Alltag vornehmen. Zwar haben Theorien das Potenzial, auf empirische Phänomene angewendet zu werden, diese Anwendung findet jedoch oft mit Hilfe von Modellen statt (vgl. Bailer-Jones 2004, S. 140). Ein Modell ist eine für bestimmte Zwecke vereinfachende Darstellung mit drei zentralen Merkmalen (vgl. Stachowiak 1973, S. 23 f.):

1. Abbildung. Ein Modell ist ein Abbild von etwas, eine Repräsentation natürlicher oder künstlicher Originale, die selbst wieder Modelle sein können.

2. Verkürzung. Ein Modell erfasst nicht alle Attribute des Originals, sondern nur diejenigen, die relevant erscheinen (relevant für diejenigen, die das Modell erzeugen oder für diejenigen, die es nutzen sollen).

3. Pragmatismus (Orientierung am Nützlichen). Ein Modell ist einem Original nicht von sich aus zugeordnet. Die Zuordnung wird vielmehr durch die Fragen: „Für wen? Warum? Wozu?“ bestimmt.

Ein Modell ist somit bereits interpretiert (da im Zusammenhang mit einer bestimmten Theorie entwickelt) und zweckgerichtet. Weder Modelle noch Theorien sind ein Abbild der Realität, sondern eine sinnstiftende Erzählung über Aspekte der Wirklichkeit. Gleichwohl sind wir gerade bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen leicht versucht, Theorien für die Realität zu nehmen, insbesondere wenn sich viele Belege für die Theorie finden lassen. So ist beispielsweise für einige in der Biologie die Evolution „keine Theorie“, sondern „Naturgeschichte“ und „Gegebenheit wie Erdgeschichte und Geschichte des Kosmos“ (Reichholf 2009, S. 165) und damit – in der Auseinandersetzung mit dem Kreationismus beispielsweise – nicht verhandelbar. In einer unmittelbaren Antwort auf diese Sichtweise hat der Architekturwissenschaftler Wolfgang Sonne zu Recht auf den „Unterschied zwischen Theorie und Objekt“ hingewiesen, und darauf, dass „die Wissenschaft den Streit [mit dem Kreationismus] argumentativ nur gewinnen kann, gerade indem sie darauf insistiert, dass Darwin eine Theorie entwickelt hat“ (Sonne 2009, S. 272).

Über Theorien lässt es sich auseinandersetzen, über Glaubensinhalte nicht. Diese Unterscheidung erachte ich in jeder Form von Bildung als zentral.

2.2 Unser bisheriges Normal: Die hydrologische Erzählung über den Wasserkreislauf

Wasser macht unsere Erde mehr als alles andere einzigartig in unserem Sonnensystem. Nicht umsonst wird die Erde auch als „blauer Planet“ bezeichnet. Darüber hinaus ist Wasser ein wichtiger Bestandteil aller Lebewesen: Ohne Wasser können weder Pflanzen noch Tiere, noch wir Menschen, überhaupt existieren. Gleichwohl können wir den weitaus überwiegenden Teil des irdischen Wassers nicht nutzen (Tabelle 1), da es sich um Salzwasser oder gebundenes Wasser handelt. Die Ozeane bedecken gut zwei Drittel der Erdoberfläche und enthalten mehr als 96 % des Wassers der Erde, das aufgrund seines Salzgehalts nicht von uns Menschen genutzt werden kann. Nur 2,5 % der globalen Wassermasse ist Süßwasser, das sich unterirdisch und in Flüssen, Seen und Gletschern befindet. Letztere enthalten etwa 70 % unseres Süßwassers, das somit für uns ebenfalls nicht zugänglich ist. Obwohl frisches Grundwasser den winzigen Bruchteil von weniger als 1 % der Hydrosphäre ausmacht, ist es unsere Hauptressource. Zur Veranschaulichung: Setzt man eine 1-Liter-Flasche (1.000 ml) Wasser als den gesamten globalen Wasserkörper der Erde, dann steht uns weniger als ein halbes Schnapsglas (< 8 ml) davon als Ressource zur Verfügung.

Der globale Wasserkörper unterliegt einer ständigen Dynamik – Wasser fällt als Regen oder Schnee vom Himmel, versickert, verdunstet und fließt in Bächen und Flüssen, landet irgendwann in einem der Meere, verdunstet, fällt als Regen oder Schnee vom Himmel, versickert, verdunstet und fließt in Bächen oder Flüssen ... Diese Dynamik wird im Modell des globalen Wasserkreislaufs abgebildet, das in allen Schulbüchern zum Thema Wasser zu finden ist.

Tabelle 1: Geschätzter globaler Wasserkörper (Daten aus Lutgens et al. 2013, S. 6; Anteil des für uns verwertbaren Wassers kursiv).


Salzwasser Meere salzhaltiges Grundwasser + Seen 97,44 % 96,50 % 0,94 %
Süßwasser Gletscher Grundwasser Bäche, Seen, Bodenfeuchtigkeit, Atmosphäre 2,56 % 1,76 % 0,77 % 0,03 %

In der Hydrologie gilt das Modell des Wasserkreislaufs als das Konzept. Der Kreislauf wird als etwas Immanentes der Natur betrachtet und nicht als Modell, dem gewisse Theorien (= Annahmen über kausale Zusammenhänge) zugrunde liegen. Das Modell des Wasserkreislaufs behandelt „alles Wasser“ und erklärt somit für die Hydrolog*innen alle Umstände in der Hydrosphäre auf der Erde. Der Wasserkreislauf gilt als global gültig und unwandelbar, als in der Natur verankert.

2.3 Erweiterung der Zeit: Die geologische Erzählung von unserem Wasser

Das Modell des Wasserkreislaufs setzt das Vorhandensein des globalen Wasserkörpers als selbstverständlich voraus. Das Wasser ist da und wird in einer globalen Dynamik durch Atmosphäre, Land und Meere bewegt. Woher das irdische Wasser ursprünglich stammt, ist bis heute nicht vollständig geklärt (vgl. ESA European Space Agency 2011). Klar dagegen scheint zu sein, dass es sich um einen relativ stabilen Wasserkörper handelt, also weder neues Wasser hinzukommt, noch altes Wasser verloren geht (von geringen Mengen abgesehen und in den für uns relevanten Zeiträumen gedacht). Wir müssen also mit dem Wasser, das uns auf unserer Erde zur Verfügung steht, zurechtkommen.

Die Dynamik des globalen Wasserkreislaufs wirkt wie eine große Waschmaschine und sorgt dafür, dass wir „gebrauchtes“ oder verschmutztes Wasser irgendwann „gereinigt“ zurückbekommen. Das ist zumindest der Eindruck, den wir gewinnen können, da wir ja bislang immer wieder über frisches Grundwasser verfügen, das in bester Qualität als Trinkwasser genutzt wird. Das klingt zunächst sehr beruhigend, allerdings nur so lange wie die zeitliche Dimension unklar bleibt, in der diese „Reinigung“ passiert. Aus Schätzungen in der Geologie geht hervor, dass der globale Wasserkörper ca. 3.200 Jahre benötigt, um einmal den globalen Wasserkreislauf zu durchlaufen (vgl. Lutgens et al. 2013, S. 7). Rechnet man dies auf die Zeit der Existenz unseres Planten (4,5 Milliarden Jahre) um, bedeutet es, dass jeder Tropfen unseres Trinkwassers in der Vergangenheit bereits mehr als 1,3 Millionen Mal (!) recyclet wurde. Unser aktuelles Trinkwasser war also ca. 1.200 v. Chr. zuletzt in der Nutzung. Blickt man in die Zukunft, dann müssten wir 128 Generationen lang warten (bei einer Annahme von 25 Jahren/Generation), bis das Wasser, das wir heute global „verbrauchen“ (verschmutzen), uns „gereinigt“ wieder zur Verfügung steht. Das wären dann unsere Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel.

2.4 Herausforderung des Modells: Die sozialwissenschaftliche Erzählung vom Modell des Wasserkreislaufs

In seiner Arbeit über die Geschichte unseres Verständnisses von und unseres Umgangs mit Wasser untersuchte der kanadische Geograph Jamie Linton auch die Entwicklung des Modells des Wasserkreislaufs (Linton 2010; Linton 2008). Linton zeigt eindrücklich, wie in das Modell die historischen und geographischen Umstände eingeschrieben sind, unter denen es in den USA der 1930er-Jahre entstanden ist: eine Gesellschaft in einem nördlichen, gemäßigten Kima, die sich mitten in der modernen, staatlich gelenkten industriellen Entwicklung (Fordismus) befand, und in der die „Natur“ zunehmend der nationalen Kontrolle unterworfen wurde.

Ganz entsprechend dem gemäßigten Klima, in dem das Konzept entstand, stellt das Modell des Wasserkreislaufs Wasser als einen konstanten, zyklischen Fluss dar, der relativ regelmäßig von Monat zu Monat und Jahr zu Jahr verteilt ist. Das Modell des Wasserkreislaufs stellt damit „eine Norm auf, die im Widerspruch zur hydrologischen Realität eines Großteils der Welt steht und gleichzeitig die hydrologischen Erfahrungen einer großen Zahl von Menschen falsch darstellt“ (Linton 2008, S. 639, Übersetzung H.E.). Die Annahme einer solchen Norm hat den Effekt, Erwartungen zu konditionieren und Einschätzungen zu rahmen. Das Modell des Wasserkreislaufs trägt somit dazu bei, „ein seit langem bestehendes westliches Vorurteil gegen Trockenheit aufrechtzuerhalten, wonach Orte (und oft auch die Menschen, die sie bewohnen), in denen es nicht ‚ausreichend‘ regnet oder die ‚heftigen‘ Schwankungen der saisonalen und jährlichen Niederschläge ausgesetzt sind, als mangelhaft, anormal und hydrologisch korrekturbedürftig angesehen werden müssen“ (ebenda).