Das Anthropozän lernen und lehren

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Siehe hierzu sowie zu weiteren umweltethischen Aspekten auch Schwägerl (2012), Leinfelder (2013a), Vogt et al. (2013), Schwägerl & Leinfelder (2014), Möllers et al. (2014), Renn & Scherer (2015), Haber et al. (2016), Lesch & Kamphausen (2016), Kress & Stine (2017), Zalasiewicz et al. (2017) (sowie weitere Artikel in Clark & Yussof 2017), Bertelmann & Heidel (2018), Schwinger (2019), Heichele (2020) uvm.11

3.1.1 Analyse und Diskussion von Ausredemechanismen für Nichtstun

Das Thema anthropogene Umweltveränderungen gehört einerseits zu den besonders schwer behandelbaren Bildungsthemen. Zum Ersten sind die Zusammenhänge komplex, zum Zweiten ist vieles davon nicht direkt sichtbar, da nicht nur Treibhausgase, sondern auch Biodiversitätsbeeinträchtigungen, Überdüngung, Pestizidgebrauch oder Effekte von Gewässerregulierungen nicht sofort erkenntlich sind. Zum Dritten scheinen für Ursachen und Lösungen oftmals andere zuständig zu sein. Obwohl Klima-, Biodiversitäts- und Landnutzungskrise also hinreichend bekannt sind und auch eine große Toolbox technologischer, sozialer und wirtschaftlicher Lösungsmöglichkeiten verfügbar ist (z.B. WBGU 2011), stehen nach wie vor insbesondere die Diskussion der „richtigen“ Lösung sowie – damit verbunden – gegenseitige Schuldzuweisungen im Vordergrund. Populistische Strömungen, verstärkt durch die Echokammern der sozialen Medien, nutzen derartige Mechanismen und erreichen dadurch zunehmende Spaltungen in der Gesellschaft. Die bewussten und unbewussten Benutzer der vielfältigen Ausredemechanismen können heuristisch in Relativierer, Fatalisten und Zyniker, Verantwortungsexternalisierer sowie „Ja, aber …“-Argumentierer eingeteilt werden (Abb. 5; siehe auch Leinfelder 2013b, 2015, 2018).


Abbildung 5: Häufige Ausredemechanismen bei Umwelt- und Anthropozän-Themen (nach Leinfelder 2013, 2018)

Ein beliebtes Beispiel aus Deutschland sei näher ausgeführt. Die durchaus korrekte Aussage „Deutschland ist nur für 2 % des globalen anthropogenen CO2-Ausstoßes verantwortlich“ nutzen viele für ein bequemes Zurücklehnen oder auch ganz bewusst, um Dekarbonisierungsbemühungen zu verlangsamen, erst einmal abzuwarten oder gar ganz auszubremsen. Diese Strategie wird in der Psychologie als Bystander-Effekt (Latané & Darley 1970) bezeichnet. Sie erzeugt pluralistische Ignoranz und daraus resultierend Verantwortungsdiffusion (sensu Katz & Floyd 1931).

Argumente gegen diese „nur 2 %“-Ausrede gibt es viele12, darunter:

• Deutschland hat nur 1,1 % der Weltbevölkerung, aber 2,23 % des anthropozänen CO2-Ausstoßes, also mehr als das Doppelte. (Entsprechend hat Österreich nur 0,1 % der Weltbevölkerung, aber 0,24 % des globalen Ausstoßes, ebenfalls mehr als das Doppelte.)

• Der jährliche CO2-eq-Fußabdruck in Deutschland beträgt 9,15t/Kopf, in Österreich 8,16t/Kopf, in Indien 1,94t/Kopf, im Kongo 0,3t/Kopf.

• Deutschland steht auf Platz 6 der Länder mit dem höchsten aktuellen CO2-Ausstoß. Unter Berücksichtigung der historischen Verantwortung seit 1750 steht Deutschland sogar auf Platz 4 aller Länder bei CO2-Ausstoß.

• Alle Länder, die gleich viel oder weniger als Deutschland ausstoßen – also auch Österreich –, verursachen zusammen 36 % aller Treibhausgase.

• Im Schnitt stößt jedes der etwa 200 UN-Länder 0,5 % aller Treibhausgase aus, damit läge Deutschland schon ein Vierfaches über diesem Durchschnitt.

Nach diesem Muster kann so ziemlich alles „zerteilt“ werden, etwa der Treibhausgasausstoß im Flugverkehr, beim Autoverkehr, für die Internetnutzung und alle weiteren THG-relevanten Sektoren. Heruntergebrochen werden kann noch viel tiefer, etwa auf Bundesland, einen Landkreis, eine einzelne Stadt, bis hinunter zum einzelnen, so dass nach dieser Taktik letztendlich niemand verantwortlich ist.

Noch einfacher ist es natürlich, die Wissenschaften insgesamt zu diskreditieren und ihnen unlautere Absichten zu unterstellen. In einer weit verbreiteten Variante ist dies die Strohpuppenargumentation, also das Aufstellen von Behauptungen, die zwar für viele plausibel klingen mögen, aber keiner Überprüfung standhalten. Publikumswirksam lässt sich aber dann entlang dieser „Strohpuppe“ argumentieren. In einer Linie dazu, allerdings in einer extremeren Spielart, stehen die Verschwörungstheorien, bei denen ein ganzes Netz von in den Raum gestellten Behauptungen flankiert wird durch eine übergeordnete falsche Erzählung, dass das Establishment, bestimmte Wirtschaftszweige, die Medien, der ganze Staat oder gar alle Geheimdienste und Regierungen dieser Welt sich dazu verabredet hätten, dies alles geheim zu halten.

Im vorliegenden Beitrag kann nicht in der notwendigen Tiefe auf die Thematik eingegangen werden; es sei aber darauf verwiesen, dass gerade für das Thema des anthropogenen Klimawandels hervorragende Anleitungen zur Verfügung stehen, um Falschbehauptungen zu erkennen. Exemplarisch genannt seien etwa die „Klimalounge“ des Klimawissenschaftlers Stefan Rahmstorf, das Klimafakten-Portal, das SkepticalScience-Portal (auch mit vielen ins Deutsche übersetzten Artikeln), das Debunking Handbook und der Wissenschaftliche Leitfaden zur Klimaskepsis13. Obwohl speziell ans Klimathema angepasst, lassen sich die dort aufgezeigten Täuschungsmuster auch auf viele andere Bereiche der Wissenschaftsfeindlichkeit übertragen. Dies gilt insbesondere auch für das neue Poster „PLURV – Grundkurs Desinformation“ (wobei PLURV steht für: Pseudoexperten, Logik-Fehler, Unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei, Verschwörungsmythen)14.

Möglichkeiten für den Einbau dieses insbesondere auch Medienkompetenz fördernden Themas in den Unterricht gibt es viele:

• Vorstellbar wären etwa ein spielerisches „Sich selbst den Spiegel-Vorhalten“ (vgl. Abb. 5), etwa mit folgenden Fragen: Welche Ausreden lasse ich mir immer so einfallen? Welche glaube ich auch selbst, warum eigentlich? Warum gefällt mir dies oder jenes, habe ich das selbst entschieden? Habe ich für dies alles eigene Beispiele auch aus dem Umweltbereich?

• Auch können „Richtig-Falsch“-Lösungen kritisch hinterfragt werden, denn häufig dienen sie der populistischen Zuspitzung und lassen andere Lösungsmöglichkeiten oder Lösungsportfolios im Sinne von Mischungen nicht zu.

• Besonders gut können obige Aspekte auch in visuelles Arbeiten (z.B. via Cartoons und Comics, s.u.), künstlerisches Arbeiten (etwa Theaterspiel) und insbesondere Design-Thinking-basierte Projekte eingebracht werden (siehe Abschnitte 3.2 und 3.3).

3.1.2 Analyse und Diskussion des Präventions- bzw. Zukunftskrisen-Paradox

Wie schon im Einleitungskapitel angeführt, wird das Präventionsparadox15 in der SARSCoV-2-Krise wieder besonders virulent und zeigt auf, dass es auch in umgekehrter Weise, also als „Unsichtbare-Krisen-Paradox“ bzw. „Zukunftskrisen-Paradox“ gerade für Umweltkrisen eine spezielle Form von kognitiver Dissonanz darstellt. Vergleichbar zwischen beiden Spielarten, also Vorsorge- und Zukunftskrisen-Paradox, ist allerdings, dass sich die Aufmerksamkeit abwendet, je länger die vorhergesagte Krise nicht kommt bzw. nicht sichtbar oder anderweitig bemerkbar ist (siehe hierzu Hamann et al. 202016).

Mögliche Schulaktivitäten zum Zukunftskrisen-Paradox könnten umfassen:

• Erarbeitung einfacher augenfälliger Vergleiche zur Erklärung des Paradox (vgl. dazu Abschnitt 3.2.1). Als Anregung zwei Beispiele im Kontext der Corona-Krise: Bernhard Ulrich, Journalist bei DIE ZEIT; auf Twitter vom 7.5.2020: „Also jetzt mal ohne jede Polemik: wenn eine Therapie zum Erfolg geführt hat, zu behaupten, der Erfolg beweise, dass die Therapie überflüssig war, ist doch ein bisschen grenzdebil, oder?“

Werner Bartens, Gesundheitsjournalist, bei der TalkShow „Maischberger“ vom 20.5.2020 (leicht verkürzt von R. Leinfelder für Twitter, 21.5.2020):

„Es regnet stark – ich muss trotzdem raus. Ich nehme den Schirm mit. Komme völlig trocken an. Hey, bin nicht nass. Es hat gar nicht geregnet. Schirm war völlig überflüssig!“

• Im schulischen Kontext können weitere Metaphern und Geschichten zum Vorsorge- und Zukunftskrisen-Paradox für diverse Anthropozänthemen kreativ erarbeitet werden, dazu sollten auch die Fakten zur dargestellten Situation recherchiert werden: Eine mögliche Vorlage auch mit Bezug zu Verschwörungsaspekten (3.1.1) könnte beispielsweise folgende Meldung sein:

Aus handelsblatt.com vom 17.3.2015: „Es sei ‚ungewöhnlich kalt da draußen‘, erklärte der Senator [Jim Inhofe]) Anfang März triumphierend während einer Senatssitzung in Washington, den vermeintlichen, eisigen Beweis [mitgebrachten Schneeball] in die Höhe haltend. Und wer mehr wissen will, der kann in seinem Buch nachlesen. Es heißt: Der größte Betrug: Wie die Global-Warming-Verschwörung deine Zukunft gefährdet“17.

 

• Nach einem erarbeiteten Verständnis zum Zukunftskrisen-Paradox könnten Konzepte erstellt werden, wie weitgehend unsichtbare Zukunftskrisen, wie etwa die Klimakrise, auch über andere sichtbare Umweltaspekte beleuchtet werden kann, etwa durch das Thema Plastik und Müll in der Umwelt oder auch durch Landwirtschaft, Verschwinden der Korallenriffe und vieles mehr.

3.1.3 Analyse und Diskussion von Gerechtigkeitsfragen

Die Möglichkeiten der unterrichtsmäßigen Bearbeitung des Themenkreises Gerechtigkeit im Anthropozän sind extrem vielfältig, so dass nachfolgend nur wenige Themenbeispiele sowie deren mögliche methodische Umsetzung aus dem eigenen Umfeld des Autors angeführt werden.

• Beispiel: Die Ozeane als Quelle, Senke und Patient: Regelung der Nutzung von Gemeingütern (Commons) als „Menschheitserbe“ am Beispiel des Seerechts (Quellen hierzu WBGU 2013, Vidas et al. 2015), siehe Abb. 6. Diskutiert werden kann auch, inwieweit es Möglichkeiten der Ausweitung der Commons-Areale auch aufs Land geben könne (Leinfelder 2017a). Weitere Beispiele könnten die aktuelle Situation für Trinkwasser (Abb. 7), Atmosphäre, Ernährungssituation (siehe auch Abschnitte 3.2.2, 3.3.3) u.v.m. umfassen.


Abbildung 6: Die Vision des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zur nachhaltigen Nutzung der Ozeane (aus WBGU 2013, verändert).

Oben: Heutiger Zustand des UN-Seerechtsübereinkommen – Überwiegend küstenstaatliche souveräne Rechte und Hoheitsbefugnisse als 12 und 200 Meilen-Zone (ggf. erweitert) (Ausschließliche Wirtschaftszone, AWZ). Das „Gebiet“, also der Tiefseeboden, stellt ein „gemeinsames Erbe der Menschheit“ (Common Heritage of Mankind) dar und darf, etwa für Gewinnung von Bodenschätzen, nur unter hohen Auflagen und Zustimmung der Internationalen Meeresbodenbehörde genutzt werden. Die Hohe See steht hingegen allen Staaten (auch Binnenstaaten) überwiegend in der Regel ohne weitere Genehmigungsverfahren auch zur Nutzung zur Verfügung (areas beyond national jurisdiction) und wird daher, ähnlich wie die unter küstenstaatlicher Hoheit stehenden Zonen, besonders übernutzt.

Unten: Die WBGU-Vision beruht auf dem Commons-Gedanken für alle Ozeanareale. Dazu wird die Common Heritage-Regelung auf die Hohe See ausgeweitet. Die AWZ wird ebenfalls unter Commons-Regelung gestellt, bleibt aber unter der Zuständigkeit der Küstenanrainer, welche in Sachwalterfunktion die Nutzung regeln und kontrollieren. Keine Nutzung darf dem globalen Commons-Gedanken entgegenlaufen. Eine nationale Nutzung darf keine Nachteile für andere Staaten mit sich bringen (WBGU 2013). Nach Leinfelder (2017a) ließe sich der Sachwaltergedanke auch auf die Festländer übertragen: Kein Land darf seine Ressourcen so nutzen, dass daraus ein Schaden für die Bürger anderer Länder entsteht.


Abbildung 7: Darstellung des Gerechtigkeitsaspekts für sauberes Wasser durch zwei Comic-Panele. Aus Hamann et al. (2013, S. 32 unten).

• Beispiel: Globale Nord-Süd-Beziehungen, hierzu gehören insbesondere auch die historische Verantwortung für Kohlenstoffemissionen (z.B. WBGU 2009, 2011), der atlantische Dreieckshandel18 seit Kolumbus (etwa Recherchen, ggf. eigene graphische Darstellung; als Anregung hierzu siehe Dreieckshandel-Comicstrip19 aus Hamann et al. 2014).

• Beispiel: Innovationen haben ihre Zeit. Besonders spannend ist die Behandlung der kaskadenartigen Innovationen, die durch die Optimierung der Dampfmaschine durch James Watt 1769 erfolgte (WBGU 2011, S: 352, comicstripartige Umsetzung20 in Hamann et al. 2014).

• Beispiel: Tagebuch zur Selbstbeobachtung. Weitere Gerechtigkeitsfragen im Kontext des Anthropozäns, etwa Massentierhaltung, Saisonarbeit, Preisgestaltung u.v.m. bieten sich an und können ebenfalls in unterschiedlichsten Formaten, zum Beispiel als Protokoll oder Tagebuch zur Selbstbeobachtung gestaltet werden. Drei Anregungen dazu:

• Persönliches Shopping-Protokoll etwa zur Analyse des eigenen Einkaufverhaltens und der zugrunde liegenden Kaufmotive.

• Verwendung publizierter Tagebücher anderer Personen für den Unterricht, exemplarisch sei das aktuelle, comicartig gestaltete persönliche Saisonarbeiter-Tagebuch „Hopfen anbinden“ genannt, welches – rein deskriptiv und sehr zurückgenommen – Aspekte zur Wanderarbeit, internationaler Kooperation, Stadt-Land-Beziehungen, Corona-Krise, Insektensterben, industrialisierte Landwirtschaft, Globalisierung usw. mit beinhaltet (Hamann & Kluge 202021). Diese könnten als Grundlage für entsprechende Vertiefungen im Unterricht genutzt werden.

• Die Erstellung eigener Beobachtungstagebücher durch Schüler/innen und die daraus ableitbaren Vertiefungen, Schlussfolgerungen oder Bewertungen könnten als Thema ggf. ebenfalls gut für den Online-Unterricht genutzt werden.

3.2 Kommunikationswege im Anthropozän

Aufgrund der komplexen, fächerübergreifenden Thematik und des systemischen Ansatzes des Anthropozän-Konzepts ist das Auffinden geeigneter Kommunikationswege eine notwendige Voraussetzung zur Analyse, Darstellung und Problemlösung ökologischer, gesellschaftlicher und kultureller Interaktion im Anthropozän. Einige der Herausforderungen und Chancen zur Kommunikation über/für das Anthropozän seien im Nachfolgenden kurz aufgelistet. So geht es unter anderem darum,

• Komplexitäten verständlich zu machen, ohne zu simplifizieren; dies gilt nicht nur, aber insbesondere auch für Metaphern und Narrative zum Anthropozän;

• unterschiedlichste Raum- und Zeitmaßstäbe zu verbinden, also die globalen Auswirkungen lokalen Handels zu kommunizieren, historische, heutige und zukünftige Abläufe zu verbinden, die Erdsystemskala mit kultureller, gesellschaftlicher und individueller Skala zu verknüpfen (und umgekehrt);

• Kommunikation nicht (allein) als Wissenstransfer zu sehen, sondern vor allem als echten wechselseitigen Austausch zu begreifen. Dazu sind offene, reale, virtuelle und gedankliche Räume notwendig („Third Places“ sensu Oldenburg 1999);

• emotionale Zugänge herzustellen, um der Komplexität der heutigen Wissensgesellschaft mit ihrer Mischung aus wissenschaftlichem Wissen, Erfahrungswissen und geglaubten Überzeugungen („beliefs“) gerecht zu werden. So erscheint es sinnvoll, von lebensweltlichen Themen auszugehen und diese weiter aufzufächern sowie mit geeigneten Visualisierungen zu arbeiten (siehe Abb. 8);

• Rückwirkung auf das eigene Verständnis durch multimodale Kommunikation zu erreichen: Lernen durch Lehren.

Vertiefungen und weiterführende Literatur zu den oben aufgeführten Punkten finden sich u.a. bei Leinfelder (2011ff, 2013a, 2016b, 2018, 2020a). Im Nachfolgenden wird daher nur kursorisch auf einige Beispiele eingegangen und werden weitere Vertiefungsquellen genannt.


Abbildung 8: Wissensgesellschaft und adäquate kommunikative Möglichkeiten durch multimodale Kommunikationsformen, mit Beispielen (aus Leinfelder 2018)

3.2.1 Metaphern, Narrative

Metaphern und Narrative haben ein großes Potenzial, über unerwartete Wege plötzliche Einblicke in bzw. Erkenntnisse zu komplexen Zusammenhängen zu erreichen und sich dieser Zusammenhänge bei Bedarf auch wieder erinnern zu können. Falsch angewandt haben aber Metaphern und Narrative auch das Potenzial zu großer Simplifizierung, wenn nicht gar zu populistischer Argumentation. So kommt es auch immer auf den geeigneten Kontext an. Der Verfasser dieses Artikels arbeitet in öffentlichen Vorträgen, Zeitungsartikeln, schulischen Kooperationen, aber auch in der universitären Lehre insbesondere zur interdisziplinären wissenschaftlichen Verständlichmachung gerne mit Metaphern und speziellen Narrativen. Hier erwähnt wurden bereits Metaphern wie „Von der Umwelt zur Unswelt“ (Leinfelder 2011, 2011ff, 2020a), oder „das Erdsystem als Stiftung betrachten“ (Leinfelder 2017b). Weitere vom Verfasser verwendete Metaphern und Narrative umfassen „Vom Parasitismus zur Symbiose“ (Leinfelder 2016a) oder „Die ‚Hall of Fame‘ der Organismen, welche die Erde ebenfalls bereits komplett verändert haben“ (Leinfelder 2018), siehe Abb. 9.

Die mögliche Fehldeutung solcher Metaphern muss allerdings berücksichtigt werden. So könnte ohne weitere Erläuterung der Begriff der „Unswelt“ fehlgedeutet werden als „die Erde gehört uns“; stattdessen soll mit der Wortneubildung die Verwischung der Unterschiede zwischen Natur und Kultur betont und so bewusst gemacht werden, dass wir mit dem Erdsystem in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen (siehe auch Leinfelder 2011). Die Metapher vom „Erdsystem als Stiftung“ könnte ohne weitere Erklärung die Notwendigkeit der Pflege und Stabilisierung dieser Stiftung außer Acht lassen und stattdessen auf größtmögliche Dividende fokussieren. Der Metapher „vom Parasitismus zur Symbiose“ könnte ohne korrekte Einbettung gleichmacherische Tendenz vorgeworfen werden, da die Eingriffe der Menschheit regional und gesellschaftsspezifisch sehr unterschiedlich sind.


Abbildung 9: Scribble-Narrative der „Hall of Fame“ von Organismen der Erdgeschichte, welche die Erde schon vor dem Menschen immer wieder umgestalteten, aber auch Ressourcen, von denen die Menschheit heute abhängig ist, generierten. Der Mensch verändert die Erde allerdings in bislang unbekannter Geschwindigkeit. Das Bild kann als Beispiel zur Entwicklung von Narrativen zur Einbindung des Menschen in die Erdgeschichte und in das Erdsystem dienen. Basierend auf verschiedenen Ressourcen, Näheres siehe Text (aus Leinfelder 2018).

Die „Hall of Fame“-Metapher könnte zur Beschwichtigung herhalten, dass ja schon andere vor uns (etwa Methanbakterien, Cyanobakterien, kalkausscheidende Meeresorganismen, Plankton, Gräser etc.) die Erde ebenfalls sehr stark verändert haben, also unser heutiges diesbezügliches Tun doch eher in dieser Tradition steht. Diese möglichen latenten Brüche können aber ganz bewusst in konstruktiver Weise verwendet werden, indem eben auch diese Metaphern entsprechend diskutiert werden. Nicht die Metapher oder das Narrativ allein, sondern vor allem auch das Reflektieren darüber erscheint hilfreich.

Narrative zu Zeitläufen können hierbei besondere Augenöffner sein. Beim Beispiel der „Hall of Fame“ sollte betont werden, dass die Geschwindigkeit der ökologischen und sogar erdsystemaren Veränderungen in keiner Zeit der Erdgeschichte dermaßen hoch war wie heute und daher die natürlichen Puffer- und Anpassungsmechanismen der Erde heute nicht mehr nachkommen. Das Narrativ, dass Maschinen nicht von alleine etwas für uns tun, sondern von uns „gefüttert“ werden müssen – derzeit leider überwiegend noch mit fossilen Energien – ist ein möglicher Einstieg zur Behandlung der erdgeschichtlichen Entstehung unserer nichtnachwachsenden Ressourcen wie Erzen, seltenen Erden oder fossilen Energieträgern, aber auch von Kalk, Ton oder Sand, die inzwischen von uns zur unglaublichen Menge von 30 Billionen Tonnen Technosphäre umgebaut wurde (siehe Box 1). Besonders interessant erscheint auch das Narrativ der verlässlichen Stabilität des Erdsystems im Holozän als Grundlage für die Neolithische und Industrielle Revolution und damit als wesentliche Grundlage der Entwickung all unserer gesellschaftlichen, meist extrem differenzierten Systeme.

 

Narrative Verfahren, welche die persönliche Lebensgeschichte sinnhaft einbinden, sind nach Kaimer (2008) von besonderer Bedeutung. In diesem Sinne können auch lebensweltliche Zukunftspfade im Sinne von Szenarien erzählt und damit zugänglicher gemacht werden. So haben Studierende die Leinfelder’schen fünf Zukunftsszenarien für Urbanisierung (vgl. Leinfelder 2014, 2016b) textlich in einem Wettbewerb umgesetzt und damit einen ersten Preis gewonnen (Liebender et al. 2017)22. Näheres zu Zukunftspfaden und Zukunftsszenarien siehe Abschnitt 3.4.

Das gesamte Anthropozän-Konzept kann in diesem Sinne auch als sinnstiftendes Großnarrativ angesehen werden, sofern dessen analytischen Ebenen auch mit der konsequentialen Metaebene verknüpft und Lösungsoptionen in offener Weise mit erzählt werden (vgl. Leinfelder 2017c).

Insgesamt können oben aufgeführte Narrative zwar im Schulunterricht aufgegriffen werden; besonders spannend wäre aber vor allem, diese weiterzuführen oder auch gänzlich neue zu entwickeln. Neue Narrative können sich aber auch aus anderen, entsprechend designten Projekten zur Nachhaltigkeit ergeben, insbesondere wenn aus den Projekten neue Einsichten in komplexe Zusammenhänge erwachsen (Leinfelder 2018).

Sehr gewinnbringend können dann längere Narrationen (nicht unbedingt Narrative, jedoch auf Narrativität basierend) auch graphisch gestaltet werden (mehr dazu siehe nachfolgend).

3.2.2 Visualisierungen

Ausstellungen sind weithin beliebt und bekannt. Sie stellen begehbare, visuell gestaltete Räume dar, in denen sich Besucher/innen mit Objekten, Installationen und untereinander treffen – damit repräsentieren sie kommunikative „Third Places“ auch für komplexe Themen und stellen auch eine eigene Formatsparte innerhalb der Künste dar.

Comics werden von vielen ebenfalls zu den Künsten gezählt. Ähnlich wie es auch bei anderen Künsten, etwa Literatur, Film, Bühne, Bildhauerei, Malerei, Ausstellungen etc., ebenfalls annähernd beliebig viele unterschiedliche Themen und Inhalte gibt, gilt dies auch für Comics. In dieser Arbeit soll nur das Potenzial für Sachcomics zur Kommunikation und Reflexion komplexer Themen kurz hervorgehoben werden. Es führt in diesem Beitrag zu weit, das gesamte Potenzial von Comics für Lehren und Lernen darzustellen. Box 2 bietet dazu einen kleinen Überblick, auch im Hinblick auf Vergleichbarkeiten mit Ausstellungsgestaltung.

Box 2: Ausstellungen und Sachcomics – ein kleiner Vergleich23:

Comics gehören wie Ausstellungen zu den Slow Media (siehe David et al. 2010) und sind damit als im wesentlichen nichtlineare Kommunikationsformate zu verstehen, welche zu ihrer Wissenserschließung einer umfassenden persönlichen Beschäftigung der Leser/innen bzw. Besucher/innen bedürfen. Das Medium muss in Raum und Zeit verortet werden und gleichzeitig verschiedene Sinne direkt bzw. über synästhetische Ansätze ansprechen (McCloud 1993, 2014; Sousanis 2015). Insbesondere können Abbildungen und Sammlungsobjekte, aber auch komplette, möglichst nicht linear strukturierte Ausstellungen als Slow Media betrachtet werden (Robin et al. 2014; Leinfelder 2015). Im Sinne von Slow Media lassen sich auch Sachcomics zu komplexen Themen grundsätzlich mit wissenschaftsbasierten Ausstellungen vergleichen, da sie dominant visuell gestaltet sind, Informationen zu Mehrebenen-Narrativen verbinden, individuelle Geschwindigkeit beim Erfassen erlauben und damit gleichzeitig erhöhte „partizipative“ Aktivität beim Zusammensetzen der Informationen und Themen im Kopf erfordern (vgl. Jacobs 2007; Leinfelder 2015; Leinfelder & Hamann 2019, Groensteen 2014; Sousanis 2015). Comics sind hierbei insbesondere durch ihre Bildsprache motivierend, visualisierend, permanent, intermediär und populär (Versaci 2001; Morrison et al. 2002; Yang 2008). Die szenographische Gestaltung erlaubt die Kombination realitätsnaher (wahrnehmbarer), abstrahierter (zu erfassender) und symbolisierter (erlernter) Bilder in teils vielschichtig angelegten Panels, welche zeitlich, räumlich und perspektivisch insbesondere durch Weglassen (in den „Gutters“, also den Lücken zwischen den graphischen Panels) inszeniert werden können (McCloud 1993, 2014). Je nach Komplexität der Themen können sich Text und Bildsequenzen komplementär oder auch einander stützend verhalten (Jüngst 2010). Personalisierung, Darstellung wissenschaftlicher Arbeitsweisen, Visualisierung von Szenarien und andere Authentifizierungsmöglichkeiten wissenschaftlichen Vorgehens sind genauso wie mögliche gesellschaftliche Relevanzen und Handlungsoptionen teilweise augenzwinkernd gestaltbar, womit sich die zu vermittelnden Themen von ihrer gewissen „Schwere“ befreien lassen. Dies kann zum Beispiel durch Zuhilfenahme von „Sidekicks“ oder durchlaufenden Nebengeschichten erreicht werden. Insbesondere sind auch gesellschaftlich herausfordernde Themen bzw. Handlungsoptionen, welche bei der Verwendung anderer Medien sehr schnell zu reflexartiger Ablehnung führen, bei Comics durch die vielfältigen Möglichkeiten der humoristischen Einfärbung besser transportierbar (Brocka 1979; Hangartner et al. 2013; Leinfelder & Hamann 2019).

Nachfolgend seien exemplarisch einige Beispiele für Sachcomics kurz aufgeführt. Sie stammen bewusst aus Projekten bzw. dem kooperativen Umfeld des Verfassers und wurden speziell für schulischen Unterricht konzipiert bzw. können auch dort zum Einsatz kommen.

Beispiel 1: Der Comic Die Große Transformation. Klima – kriegen wir die Kurve? (Hamann et al. 2013) stellt gleichsam eine „Übersetzung“ eines wissenschaftlichen Gutachtens für die deutsche Bundesregierung dar (WBGU 2011). Die Beiräte des damaligen „Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen der Bundesregierung“ (WBGU) sind auch die Protagonisten im Comic. Ziel war insbesondere die möglichst weite Kenntlichmachung des Gutachtens zur Energiewende sowie die Vorstellung der Wissenschaftler/innen, welche derartige Gutachten verfassen, um damit Zugänge auch über Personalisierung zu generieren (Abb. 10). Dieser Transformations-Comic ist in mehreren Sprachen verfügbar. Die Erstellung des Comics war eingebettet in ein Forschungsprojekt, mit dem Ziel des Tests der kommunikativen und edukativen Möglichkeiten mit Sachcomics. Dazu wurden auch mehrere Schulprojekte durchgeführt. Zum Comic wurden Lehrerhandreichungen erstellt (Zea-Schmidt & Hamann 2013), sie erlauben Zuordnungen der behandelten Themen zum Fachunterricht sowie zu fächerübergreifendem Unterricht und Projektunterricht. Besondere Berücksichtigung fand hierbei auch die Design-Thinking-Projektmethode (siehe Abschnitt 3.3.3). Die Handreichungen sind frei online verfügbar, die englische Version des Transformations-Comics ebenfalls24.

Beispiel 2: Auf das Comic-Projekt Anthropozän. 30 Meilensteine auf dem Weg in ein neues Erdzeitalter. Eine Comic-Anthologie (Hamann et al. 2014) wurde in diesem Artikel bereits verwiesen (siehe Abschnitt 3.1.3). Die Comics entstanden als Semesterarbeit einer Illustratorenklasse an der Universität der Künste Berlin in enger Kooperation mit der Storyboard-Entwicklerin Alexandra Hamann und den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die großformatigen Comic-Strips bestehen aus jeweils acht Panels. Die Studierenden erarbeiteten – nach Input durch die Wissenschaftler/innen – die faktenbasierten Geschichten sehr selbstständig und mit großer künstlerischer Freiheit. Die Comics erzählen Geschichten rund um 30 Objekte und Installationen aus dem Deutschen Museum München und wurden während der Sonderausstellung „Willkommen im Anthropozän. Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“25 vor den jeweiligen Objekten der Dauerausstellung aufgestellt, um diesen Objekten auch einen Anthropozän-Kontext zuzuordnen. Die Comics erschienen auch als großformatiges Buch sowie in einer Online-Version26. Ähnliches, also Geschichten rund um anthropozäne Objekte beliebiger Art als gescribbelten Comic-Strip zu erarbeiten, ist auch für den schulischen Unterricht anwendbar.

Beispiel 3: Der Phosphor und die Anthropozän-Küche: Im Exzellenzclusterprojekt „Bild – Wissen –Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin wurde unter der Leitung des Verfassers das Clusterprojekt „Die Anthropozän-Küche“ durchgeführt. Ziel der Arbeiten war es, am Beispiel des Themas Ernährung individuelle Geschichten aus zehn verschiedenen Ländern – erarbeitet zusammen mit Protagonisten weltweit – so zu verknüpfen, dass möglichst viele Aspekte rund um das Thema Ernährung sowohl naturwissenschaftlicher, als auch technischer, gesellschaftlicher, kultureller und geschichtlicher Art dabei erarbeitet werden konnten. Die real existierenden Protagonistinnen und Protagonisten, die sich von Norwegen bis Brasilien, von Südafrika bis Japan aufreihten, erzählten als Ausgangspunkt jeweils, wo sie Lebensmittel einkaufen, woher ihres Wissens die jeweiligen Produkte stammen, wie das Essen in ihren Tagesablauf integriert ist und welches nachkochbare, einfache Lieblingsrezept sie anbieten könnten. Aus diesen Antworten ergab sich der wissenschaftliche Recherchebedarf. Danach wurden von der Storyboard-Entwicklerin in enger Kooperation mit den Protagonistinnen und Protagonisten, Illustratorinnen und Illustratoren – ebenfalls aus den jeweiligen Herkunftsregionen stammend – sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sachcomic-artige Bildgeschichten entwickelt. Die Illustratorinnen und Illustratoren hatten alle künstlerischen Freiheiten, sollten aber nach Möglichkeit ihren eigenen, meist regionaltypischen Comic-Stil verwenden, so dass das resultierende Buch optisch sehr vielfältig wurde. Als zusammenhängendes Narrativ tauchte jedoch in jedem Kapitel der Phosphor zusammen mit seinen Begleitern, vier Sauerstoffatomen auf, welche mit ihm zusammen Phosphat bilden. Das Rahmenthema Phosphor hält damit das Buch sowohl inhaltlich als auch erzählerisch zusammen. Buchtitel und Untertitel versuchen dies widerzuspiegeln: Die Anthropozän-Küche. Matooke, Bienenstich und eine Prise Phosphor – in zehn Speisen um die Welt (Leinfelder et al. 2016). Das Vorhaben einer offenen Narration in komplexer Ausführung, mit vielfältigen partizipativen Elementen sowie Raum- und Zeitsprünge ermöglichender graphischer Ausführung führte damit auch zu umfassenden wissenschaftlichen Recherchen. Auch wurde während des Projekts ein großes Symposium veranstaltet, bei denen Ernährungswissenschaftler/innen, Comic-Theoretiker/innen und -Praktiker/innen sowie das Projektteam und viele Projektillustratorinnen und -illustratoren teilnahmen. Die Ergebnisse wurden als Proceedings veröffentlicht (Leinfelder et al. 2017).