Das Anthropozän lernen und lehren

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

EINBLICK I

Reinhold Leinfelder
Das Anthropozän –
mit offenem Blick in die Zukunft der Bildung
1. Einleitung – Die großen Herausforderungen bei der Umweltbildung

Obwohl wir alle die Natur schätzen, hat sich der Unterschied zwischen Natur und Kultur durch die immer stärker zunehmenden menschlichen Eingriffe in die Umwelt gleichsam aufgelöst – und dies weitgehend unbemerkt, zumindest was das Ausmaß angeht: Nur noch etwa 25 % der eisfreien festen Erde können als Urnatur bezeichnet werden, den Rest haben wir schon extrem verändert (Ellis 2011, Ellis & Ramankutty 2008, Ellis 2011, Jones 2011). In den Meeren sieht es kaum anders aus (Halpern et al. 2008, 2015, WBGU 2013). Wir reduzieren die Biodiversität der Organismen in rasch zunehmender Weise (Ceballos et al. 2015, Williams et al. 2018, IPBES 20191) und verschieben sprichwörtlich die Gewichte der Lebewelt. So bestehen 96 % der Biomasse aller Säuger aus der Biomasse des Menschen (36 %) und seiner Säugernutztiere (60 %), nur vier Prozent der Biomasse verbleibt für die Vielfalt aller wilden Säugetiere. Bei den Vögeln ist es ähnlich, 70 % ihrer Biomasse wird von Zuchtgeflügel gestellt (Bar-on et al. 2018)2. Wir müssen also besser verstehen lernen, dass all unser Wirtschaften und Wohlergehen von den Dienstleistungen und Ressourcen dieser Erde abhängt. Diese sind aber nur zum Teil nachwachsend (biologische Ressourcen für Kleidung, Nahrungsmittel, Holz etc.), und dies auch nur, sofern wir die Bedingungen für das dauerhafte Nachwachsen, also Bodenqualität, Wasserverfügbarkeit, Nährstoffverfügbarkeit und Klima nicht aushebeln oder, wie bei der Wasser- und Nährstoffverfügbarkeit, durch Bewässern und Düngen nachhelfen. In sehr weiten Teilen bestehen die von uns verwendeten Stoffe aber aus nicht (bzw. nur unter erdgeschichtlichen Skalen) erneuerbaren Ressourcen (siehe Box 1).

Daraus ergeben sich eine große Verantwortung und damit verbunden auch viele neue Ansätze für die Umweltbildung. Gerade durch die zum Zeitpunkt der Finalisierung dieses Artikels immer noch herrschende, wenn auch in Europa abflauende SARS-CoV-2-Krise werden umfassende gesellschaftliche Herausforderungen nicht nur, aber gerade auch im Bereich der Umweltvorsorge und Umweltbildung wieder besonders klar. So räumt auch der Corona-Virus mit der Vorstellung auf, dass der Natur eine Nichtnatur in Form von Kultur und Gesellschaft als Dualismus gegenübersteht. Sowohl die Verbreitung des Virus als auch die Veränderung des Erdsystems sind heute dominant menschenbedingt: Die Natur umgibt uns nicht irgendwie in weiterer Distanz als Umwelt, sondern durchdringt uns und wir durchdringen sie – ein wechselseitiges Unterfangen. Wir sind Teil dieses Ganzen, dominieren allerdings immer stärker und sollten uns bewusst werden, dass wir uns als integrativen Teil dieser „Unswelt“ verstehen müssen (Leinfelder 2011, 2017a, 2020a, Leinfelder et al. 2012, Schwägerl & Leinfelder 2014)3. Auch gibt es für Problematiken wie die SARS-CoV-2-Krise genauso wie für die Anthropozän-Herausforderungen keine einfachen Richtig-oderfalsch-Lösungen, sondern nur gemischte Lösungsportfolios, die komplex sind und auch laufend dem jeweiligen Kenntnisstand angepasst werden müssen. Vor allem aber zeigt uns die SARS-CoV-2-Krise emotionale Herausforderungen auf, die auch für die Umweltkrise virulent sind: Zu Beginn der Krise war das gesellschaftliche Bedrohungsgefühl immens, vor allem auch wegen der Bilder der vielen Toten und des überlasteten Ärzte- und Pflegepersonals aus Italien. Kaum bekam man aber die Krise wegen der vielen Maßnahmen besser in den Griff, wurden Stimmen laut, alles sei ja wohl gar nicht so schlimm und insbesondere die Wirtschaft dürfe darunter nicht leiden. Dies mündet (mit Stand Mai 2020) in der Aufforderung, möglichst rasch zum Business as usual zurückzukehren, auch hinsichtlich unserer Freizeit, unseres Konsumverhaltens, unseren sozialen Gepflogenheiten. Warnenden Stimmen aus der Wissenschaft werden vereinzelte andere Stimmen von Experten oder auch nur solchen, die sich dafür ausgeben, entgegengesetzt. Statt eines gesellschaftlichen Diskurses über das weitere sowohl politische als auch gesamtgesellschaftliche und persönliche Vorgehen und Verhalten kommt es vielmehr zu Externalisierungen, die einen selbst freisprechen. Zunehmend viele sind dabei auch anfällig für „Fake News“ bis hin zu extrem kruden, oftmals sogar menschenverachtenden Verschwörungstheorien. Aber auch ohne extreme Spielarten ist die in der Psychologie als Verantwortungsdiffusion bezeichnete Entschuldigungs- und Externalisierungsstrategie in leider fast allen Problemarealen und Maßstäben möglich – vom Land zum Bundesland zur einzelnen Stadt, bis hin zu sich selbst. Sowohl hinsichtlich des Verhaltens in der SARS-CoV-2-Krise als auch bei den Klimaaspekten geschieht dieses persönliche Herunterbrechen etwa bei der Nutzung von Flügen, des Autos oder des Internets. Im Endeffekt muss damit keiner verantwortlich sein.

Besonders deutlich wird in „Corona-Zeiten“ aber auch das Präventionsparadox. Wenn Maßnahmen zur Kriseneindämmung gelockert werden, ist schnell konstatiert, dass eben diese Maßnahmen übertrieben waren und eigentlich vor allem negative Auswirkungen gehabt hätten. Hätte man die Maßnahmen aber nicht durchgeführt, wäre den Verantwortlichen Versagen vorgeworfen worden. Ähnlichkeiten zum Diskurs bei der Umweltkrise gibt es, etwa beim Waldsterben der 1980er-Jahre. Hier ist heute selbst von manchen Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen im Nachhinein immer wieder noch zu hören, dass der Wald ja doch nicht abgestorben sei, wie damals für weiteres Nichtstun prognostiziert wurde. Tatsächlich nahm aber der überwiegend ursächliche saure Regen durch die Etablierung geeigneter Filtermaßnahmen bei Kraftwerken und Verbrennungsanlagen extrem ab, was auch die Regeneration des Waldes bewirkte, auch wenn andere Schädigungen, insbesondere die intensive Waldbewirtschaftung, das Problem zusätzlich verschärft hatten. Oftmals allerdings wird das Präventionsparadox auch umgedreht. So wird vorab insinuiert, dass Maßnahmen, die ja zu einem guten Teil noch gar nicht getroffen wurden, katastrophale Auswirkungen auf die Wirtschaft und damit die Gesellschaft haben würden und man deshalb lieber nichts oder nur wenig oder nur sehr langsam tun sollte (siehe Abschnitt 3.1.1).

Dies führt uns zu einem wesentlichen Unterschied zwischen SARS-CoV-2-Krise und Anthropozän-Krise – der Frage der Zeitskala. Zwar sind beide Krisen – in all ihrer regionalen Differenziertheit – auch räumlich global, allerdings ist der zeitliche Maßstab doch ein sehr unterschiedlicher: SARS-CoV-2 breitet sich innerhalb von Tagen und Wochen aus und bedarf der Beobachtung sicherlich auch über viele Monate, wenn nicht gar Jahre. Aber die Krise begann jetzt und ist für jeden direkt – durch Erkrankung – oder indirekt – durch die einschränkenden Maßnahmen – spürbar. Die Klimakrise und andere Umweltkrisen sind aber überwiegend nicht bzw. kaum sichtbar oder – von Extremwetterereignissen abgesehen – spürbar. Bei gut sichtbaren Auswirkungen, wie beim extremen Zurückgehen von Insekten oder dem drohenden weiteren Verlust von Korallenriffen, erscheinen sie nicht von direkter Relevanz für uns – eine enorme Fehleinschätzung.


Abbildung 1: Ausmaß anthropogener Veränderungen des Erdsystems – einige Beispiele (verschiedene Quellen, siehe 2.1)

Da das Anthropozän-Konzept insbesondere auch auf den Geowissenschaften beruht, sei dieser Unterschied anhand der Erdgeschichte kurz erläutert: Die über viereinhalb Milliarden Jahre lange Geschichte unseres Planeten wird gerne zu Ausreden missbraucht, warum wir angeblich nichts tun müssen bzw. können. So sei die Geologie stärker als wir (dies gilt längst nicht mehr überall, so stoßen wir heute mindestens 100-mal mehr an CO2 aus fossilen Quellen aus als alle aktiven Vulkane dieser Welt zusammen4). Zu weiteren Beispielen menschlichen Tuns im geologischen Ausmaß siehe Abb. 1. Das Klima habe sich eh immer geändert – richtig, aber meist in Millionen von Jahren andauernden Zeiträumen, also nie dermaßen schnell wie wir dies heute bewerkstelligen; das Argument ist also eine klassische Skalenverkennung. Korallenriffe seien auch etliche Male ausgestorben, haben sich aber wieder erholt – richtig, aber die Erholung tropischer korallenreicher Riffe dauerte jeweils mehrere Millionen Jahre, in einem Fall sogar 140 Millionen Jahre (siehe Leinfelder 2019). Nein, die Erdgeschichte liefert uns keinesfalls Ausreden, um die Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Verhaltensänderungen zurückzuweisen5. Diese Dominanz von Langzeitnarrativen wird allerdings – oft unbewusst – sogar bei Studierenden der geologischen Wissenschaften auch heute noch implementiert. Dabei erfordern die erdsystemaren, kulturellen und sozialen Herausforderungen des Anthropozäns nicht nur in den Geowissenschaften, sondern in vielen weiteren Fächern einen Wechsel unserer pädagogischen Ansätze6. Richtig betrachtet und mit neuen Narrativen erzählt, liefern die Geowissenschaften sogar überaus hilfreiche integrative Betrachtungsmöglichkeiten (siehe Abschnitt 3.2). Gerade das aus den Erdsystemwissenschaften und der Geologie hervorgegangene Anthropozän-Konzept liefert hier vielversprechende Ansätze und Möglichkeiten, sieht es doch das Heute als ein Produkt von erdgeschichtlichen Langzeitprozessen und den sozioökonomischen Prozessen der modernen Menschheit. Dies erlaubt damit auch die Entwicklung lösungsorientierter gesamtheitlicher Zukunftsszenarien im Kontext eines funktionsfähigen, die Menschheit und alle Organismen mittragenden Erdsystems. Dazu sollen das Konzept im Nachfolgenden kurz vorgestellt und danach einige Anregungen zu dessen gewinnbringender Nutzung im schulischen Kontext gegeben werden.

 

2. Das Anthropozän-Konzept im Kurzformat

2.1 Die analytischen Ebenen des Anthropozäns

Als „Vater des Anthropozäns“ wird der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen angesehen (Crutzen & Stoermer 2000, Crutzen 2002)7. Das Anthropozän-Konzept kann in mehrere, sich jedoch gegenseitig bedingende Teilbereiche untergliedert werden: Aus den beiden analytischen Ebenen – der erdsystemaren Ebene und der geologisch stratigraphischen Ebene – ergibt sich zwangsläufig eine konsequentiale Metaebene, welche das Anthropozän-Konzept auch zu einem transdisziplinären Zukunftsansatz macht (Leinfelder 2017a, 2019b).

Die erdsystemare Ebene des Anthropozän-Konzepts beschreibt und analysiert die Eingriffe der modernen Menschheit in die verschiedenen Erdsystemsphären. Erdsystemwissenschaften analysieren die Prozesse des Erdsystems, also das Zusammenspiel von Lithosphäre, Pedosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre und Atmosphäre, dabei wird zunehmend auch der Einfluss des Menschen (Anthroposphäre als Summe aller Soziosphären) auf diese Natursphären und damit auf die Stabilität des Erdsystems analysiert (Abb. 2). Die festgestellten menschlichen Eingriffe sind inzwischen geradezu von unglaublichem Ausmaß (s. Abb. 1): Die Menschheit ist zu einem wesentlichen Erdsystemfaktor geworden. So verändert sie die feste Erdoberfläche, die Ozeane und die Atmosphäre massiv, dominiert regionale wie globale Wasser-, Sediment-, Klima- und Stoffkreisläufe, produziert gigantische Mengen an Technomaterialien aus Ressourcen der Erdkruste (Box 1), dezimiert die biologische Vielfalt enorm und homogenisiert – wie bereits eingangs angeführt – an deren Stelle die Lebewelt durch Dominanz der von ihr gezüchteten Nutzpflanzen und Nutztiere sowie durch das bewusste oder unbewusste Verbringen regionaler Organismen über den ganzen Globus (z.B. Barnosky et al. 2012, Brown et al. 2013, Ellis 2011, Ellis et al. 2013, Leinfelder 2017a,b, Leinfelder et al. 2012, Steffen et al. 2016, 2020, Waters et al. 2016, Williams et al. 2016, 2018, Zalasiewicz et al. 2019a). Auch die Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus muss in diesem anthropozänen Kontext gesehen werden.

Zwar sind die Umwelteingriffe durch den Menschen grundsätzlich gut untersucht und allgemein bekannt, dennoch werden deren globale, erdsystemare Auswirkungen und vor allem auch die Unumkehrbarkeit der meisten dieser Prozesse immer noch überwiegend verdrängt. Dabei ist es schlichtweg eine Tatsache, dass die umweltstabile Zeit des Holozäns, also der erdgeschichtlichen Epoche nach der letzten Eiszeit (welche formal noch bis heute reicht), bereits hinter uns liegt. Das Erdsystem verändert sich rasant, die Gefahr eines Kippens in einen völlig neuen Status ist groß, insbesondere wenn es nicht gelingt, die anthropogene Klimaerwärmung auf global höchstens 2°C zu begrenzen, wobei selbst eine Erwärmung um „nur“ 2°C bereits deutlich außerhalb der Spannbreite des Holozäns liegt (Leinfelder & Haum 2016).


Abbildung 2: Das Erdsystem im Anthropozän, vereinfachte Darstellung. Zu den klassischen Natursphären ist eine weitere hinzugekommen, die Anthroposphäre, als Gesamtausdruck aller menschlichen Aktivitäten und ihrer Hinterlassenschaften. Alle Sphären, also auch die Anthroposphäre, interagieren miteinander (für eine aktuelle wissenschaftliche Darstellung siehe Steffen et al. 2020, Fig. 3).

Box 1: Technosphäre:

Eine ganz besondere Rolle im menschlichen Tun spielt das Ausmaß der Nutzung nicht nachwachsender Ressourcen. So verwendet der Mensch nicht nur fossile Energieträger, deren Verbrennung den anthropogenen Klimawandel bedingen, sondern auch Unmengen anderer Rohstoffe, wie Sand, Kalk, Eisenerze oder seltene Erden, um daraus Gebäude, Infrastrukturen, Geräte, Maschinen und Fahrzeuge zu produzieren, deren Erstellung und Betrieb dann wiederum Energie benötigen. Eine wissenschaftliche Abschätzung der Anthropocene Working Group besagt, dass die Menschheit bislang die unvorstellbare Menge von 30 Billionen Tonnen an „Technosphäre“ hergestellt hat. 40 % dieser Technosphäre befinden sich in und unter den Städten dieser Welt (Zalasiewicz et al. 2017a). Andere technische Produkte, wie insbesondere Kunststoffe, verteilen sich über die ganze Erde. So hat die Menschheit insgesamt mehr als 8,3 Milliarden Tonnen Kunststoffe erstellt (Geyer et al. 2017). Während die Vorkriegsproduktion minimal war und 1950 erst etwa 1,5 Millionen Tonnen hergestellt wurden, stieg die jährliche Produktion auf nunmehr über 358 Millionen Tonnen8, was schon fast der Biomasse aller lebenden Menschen entspricht (Zalasiewicz et al. 2016, Leinfelder & Ivar do Sul, 2019). 2,5 Milliarden Tonnen des insgesamt produzierten Plastiks sind immerhin derzeit noch in Gebrauch, weltweit betrachtet wird allerdings nur ein sehr kleiner Teil recycelt oder verbrannt, während etwa 4,9 Milliarden Tonnen, also ca. 60 % allen bislang produzierten Plastiks in die Umwelt gelangt sind, sei es in langfristig nicht dauerhafte Deponien oder direkt in die Böden und Gewässer auf Land und im Meer (Geyer et al. 2017). Bau und Betrieb technischer Maschinen aus Naturressourcen ermöglichen wiederum, andere Ressourcen, beispielsweise Phosphate, abzubauen und diese in Form von Kunstdüngern auf landwirtschaftliche Flächen auszubringen oder für die Nahrungsmittelproduktion in anderer Weise zu verwenden. Eine neuere Studie trug die verfügbaren Daten zusammen: Zwischen 1910 und 2005 verdoppelte sich hiernach der menschengemachte Anteil an der pflanzlichen Nettoprimärproduktion (NPP) von 13 auf 25 % der globalen Vegetation, was auch eine Verdoppelung des Eintrags an reaktivem Stickstoff und Phosphor in die Umwelt bewirkte sowie gewaltige Anteile an fossiler Energie für die landwirtschaftliche Produktion erforderte. 2014 wurden 225 Millionen Tonnen fossiler Phosphate abgebaut, Tendenz stark steigend. Die Szenarien für den Anteil des Menschen an der gesamten pflanzlichen Primärproduktion bis zum Jahr 2050 belaufen sich auf 27 bis 44 % NPP (Williams et al. 2016, auch für weitere Literatur. Siehe auch Box 3).

Wie weit sich der Zustand des neuen Erdsystems von dem des Holozäns entfernt, wird von unserem zukünftigen Handeln abhängen (Steffen et al. 2016, 2018, 2020). Hierbei geht es vor allem um die Beherrschbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Menschheit an die neuen Bedingungen unter Wahrung freiheitlicher Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaften. Daher macht es einen immensen Unterschied für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften, ob planetarische Grenzen (Abb. 3), wie etwa die 2°C-Leitplanke, eingehalten werden oder nicht.

Um die menschlichen Eingriffe und die damit verbundene Umweltproblematik zu erfassen, ist es sinnvoll, die Problemkreise zuerst sektoral zu analysieren. Hierbei geht es insbesondere um das Ausmaß der Quantitäten und um die Frage, wie weit man sich jeweils planetarischer Stabilitätsgrenzen (Rockström et al. 2009, Steffen et al. 2015a) angenähert oder diese sogar schon überschritten hat (Abb. 1, Abb. 3). Von besonderer Bedeutung ist dabei auch die „Große Beschleunigung“, der erdsystemare Sektoren durch die entsprechende Akzeleration sozioökonomischer menschlicher Aktivitäten seit den 1950er-Jahren unterliegen (Steffen et al. 2015b). Diese immensen Beschleunigungen hebeln die natürliche Anpassungsfähigkeit der belebten sowie der unbelebten Umwelt aus und lassen damit auch keinen „Trost“ durch die Daten der Erdgeschichte zu (siehe Abschnitt 1). Insgesamt stellt sich zudem die schwierige wissenschaftliche Frage nach den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Problemsektoren und damit auch des Verhaltens von Kippelementen (Lenton et al. 2008, Steffen et al. 2018) (Abb. 4).


Abbildung 3: Planetarische Grenzen mit Hervorhebung des Anteils des Ernährungssektors. Planetarische Grenzen nach Steffen et al. (2015a), vereinfacht, Ernährungssektor sowie Ergänzung des Aerosol-Sektors nach Meier (2017)

Wie wird die Menschheit nun auch zur geologischen Kraft? Dies untersucht die geologisch-stratigraphische Ebene des Anthropozän-Konzepts. Ein Blick auf den historischen Ablauf ist erhellend. Natürlich haben sich die erdsystemaren Einflüsse durch die Menschheit graduell aufgebaut (vgl. Williams et al. 2016, Zalasiewicz et al. 2019a): So war bereits der frühe Mensch, wie auch jeder andere Organismus, ein biologischer Faktor, denn schon allein durch seinen Stoffwechsel war er in die Erdsystemkreisläufe integriert und hat sie – wenn auch in sehr kleinem Umfang – mit beeinflusst. Sobald jedoch Werkzeuge wie Faustkeile und Speere sowie der Gebrauch des Feuers dazukamen, war der Einfluss möglicherweise schon so groß, dass das Aussterben von Großsäugetieren zu und nach Ende der letzten Eiszeiten schon durch ihn mitbedingt war. Als sich Menschen in der Neolithischen Revolution niederließen und Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung betrieben, waren die Einflüsse durch die Landnutzung, ggf. auch auf die Atmosphäre (etwa rodungs- und reisanbaubedingte Entwicklung von Treibhausgasen), bereits deutlich höher – der Mensch wurde zum „geographischen Faktor“. Eine Hypothese besagt, dass die Eroberung Amerikas durch Europäer, welche mit dem Einschleppen von Krankheiten und der Ermordung großer Teile der indigenen Bevölkerung einherging, zu einer vorübergehenden natürlichen Wiederbewaldung früher gerodeter Gebiete und damit zu mehr Kohlenstoffspeichern führte, was als kleiner atmosphärischer CO2-Rückgang in Eiskernen messbar sei (Ruddimann et al. 2016, Ruddimann 2018, siehe jedoch Zalasiewicz et al. 2019b). Dies kehrte sich wieder um, als Jagd und Fallenstellerei der ersten europäischen Siedler durch immer mehr Ackerbau und Viehzucht ersetzt wurden und dazu auch diese regenerierten Urwälder wieder abgeholzt wurden. Aber erst durch die Optimierung der Dampfmaschine durch James Watt Ende des 18. Jahrhunderts startete die Industrialisierung voll durch: Bergbau wurde großmaßstäblich möglich, zur Eisenverhüttung wurden weitere Wälder gerodet, später kam Kohle dazu, auf landwirtschaftlichen Flächen in den USA wurde auf riesigen Flächen Baumwolle angebaut, wozu Bäche und Flüsse reguliert wurden, um ganzjährig bewässern zu können und mechanische Webstühle anzutreiben. Eisenbahn- und Handelsschifffahrt wurden mit Dampfmaschinen betrieben und sehr rasch ausgebaut, die Industrialisierung beschleunigte sich in allen Bereichen immens (siehe Abschnitte 3.1.3, 3.2.2). Damit vergrößerte sich nicht nur die „geographische Kraft“ der Menschheit (vgl. ArchaeoGlobe Project 2019) – die Ausweitung der Industrialisierung legte auch die Grundlagen dafür, dass der Mensch zunehmend zur erdsystemaren Kraft wurde. Es dauerte aber noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, bis sich – insbesondere auch durch die Nutzung von Erdöl und Erdgas – diese Prozesse so beschleunigten, dass in allen Erdsystemsphären, darunter auch der Lithosphäre, neue Geosignale dauerhaft überliefert wurden. Die „Große Beschleunigung“ machte die Menschheit damit nicht nur zum „erdsystemaren Faktor“, sondern eben auch zum „geologischen Faktor“.

 

Abbildung 4: Geographische Einordnung der wichtigsten Kippelemente im Erdsystem. Die Kippelemente lassen sich in drei Klassen einteilen: Eiskörper, sich verändernde Strömungs- bzw. Zirkulationssysteme der Ozeane und der Atmosphäre und bedrohte Ökosysteme von überregionaler Bedeutung. Fragezeichen kennzeichnen Systeme, deren Status als Kippelement wissenschaftlich noch nicht gesichert ist. Quelle: PIK https://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente, Creative Commons BY-ND 3.0 DE Lizenz

Tatsächlich werden alle geschilderten Bespiele von unterschiedlichen Wissenschaftsgruppen als jeweils möglicher Beginn des Anthropozäns diskutiert. Die formal zur Untersuchung beauftragte und sehr interdisziplinär zusammengesetzte Anthropocene Working Group (AWG) der International Stratigraphic Commission9 empfiehlt allerdings mit weit überwiegender Mehrheit, die Untergrenze in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu legen. Dafür spricht insbesondere Folgendes:

• In den Sedimenten aller Ablagerungsbereiche (darunter Tiefsee, Flachmeere, Korallenriffe, Küsten, Flussmündungen, Seen, Böden), aber z.T. auch in Tropfsteinen und Baumringen finden sich ab dieser Zeit eindeutige, weitverbreitete und meist dauerhaft überlieferbare „Technofossilien“ bzw. weitere Geosignale. Dazu gehören Fragmente von Beton, elementarem Aluminium, Plastik, Flugasche aus industriellen Hochtemperaturprozessen, radioaktive Niederschläge aus Atombombenversuchen, Schwermetalle wie Blei, aber auch Pestizide und andere chemische Substanzen sowie Isotopensignal-basierte und direkte Messung atmosphärischer Gehalte an Kohlendioxid, Methan und Stickoxiden im Eis bzw. Gasblasen von Eiskernen (Waters et al. 2016, 2018, Zalasiewicz et al. 2016, 2017a, 2019a).

• Diese Signale ermöglichen eine sehr exakte globale synchrone Grenzziehung, so dass die Prämissen der Stratigraphischen Kommission zur Einrichtung erdgeschichtlicher Einheiten, die dann im Sinne eines Best-Practice-Verfahrens von der geowissenschaftlichen Community weltweit gleich verwendet werden, gegeben sind10.

• Durch eine derartige isochrone Definition des Anthropozäns ist dessen Anbindung an historische und archäologische Archive möglich, so dass etwa Historiker/innen zusätzliche, nicht durch Menschen eingerichtete Sedimentarchive mit ihren eigenen perfekt verbinden können (vgl. Leinfelder 2017a, 2019b, Zalasiewicz et al. 2017b).

• All die anderen Vorstufen sind natürlich für das Prozessverständnis – und damit ggf. auch für Unterrichtszwecke – sehr wesentlich, erlauben sie doch die Verknüpfung anthropologischer, umwelthistorischer und gesellschaftlicher Entwicklungen mit der erdgeschichtlichen Entwicklung (z.B. Zalasiewicz et al. 2017b, weitere Beiträge in Clark & Yussof 2017, siehe auch Hamann et al. 2014). Diese diachrone Vorstufe der sedimentären Entwicklung hin zum Anthropozän kann – im archäologischen Sinne – auch als Archäosphäre bezeichnet werden (Edgeworth 2013, Zalasiewicz et al. 2019b). Eine weitere Möglichkeit wäre, von einer präanthropozänen Übergangseinheit („pre-anthropocene transitional unit“) zu sprechen (z.B. Leinfelder 2019a).

Die beiden erdsystemaren analytischen Ebenen des Anthropozäns lassen sich thematisch auch aufgrund ihres interdisziplinären und prozessbasierten Charakters gut in den Schulunterricht integrieren. Auch der Einbau in den fachspezifischen Unterricht ist hier gut möglich (Klimawandel, Landnutzung, Süßwasser, Ozeane, Stoffkreisläufe, Geschichte etc.; siehe Abschnitt 3.).

2.2 Die konsequentiale Metaebene – Komplexitäten begreifen, Verantwortung übernehmen, Lösungsansätze mitentwerfen, Future Literacy fördern

Das oben skizzierte Ausmaß der anthropogenen Umweltveränderungen, deren Wechselwirkungen und die daraus resultierenden erdsystemaren Auswirkungen, aber auch der historische und dynamische Aspekt der Entwicklung hin zum Anthropozän erscheinen als geeignete Ausgangsbasis, um mögliche Lösungsansätze, aber auch Herausforderungen und Hindernisse auch im Schulunterricht zu thematisieren. Insbesondere eignet sich die Vernetztheit der anthropozänen Abläufe gut dazu, von einfachen „Richtig-Falsch“-Lösungen wegzukommen, gesellschaftliche und mediale „Filterblasen“ zu hinterfragen, partizipatives, kreatives und systemisches Denken und Handeln einzuüben und „Future Literacy“ zu erwerben. Dies steht in Übereinstimmung mit der sich aus den analytischen Konzeptebenen ableitenden und derzeit ebenfalls stark beforschten konsequentialen Metaebene des Anthropozän-Konzepts (sensu Leinfelder 2017a).

Diese konsequentiale Metaebene des Anthropozäns kann an einer Hypothese festgemacht werden: Die zur erdsystemaren und geologischen Kraft gewordene Menschheit, welche – jeweils in sehr unterschiedlichem Ausmaß und Verantwortung (siehe Allen et al. 2018) – das Erdsystem an den Rand eines möglichen Kippens gebracht hat, sollte umgekehrt auch in der Lage sein, nun wissensbasiert und das Vorsorgeprinzip beachtend ihr Handeln so zu gestalten, dass die Menschheit zu einem integrativen Teil eines funktionsfähigen anthropozänen Erdsystems wird. Dies wäre als Grundlage gerechter Entwicklungschancen für gegenwärtige und künftige Generationen zwingend notwendig. Diese Hypothese basiert darauf, dass sich die Menschheit als integrativen Teil des Erdsystems begreift, um besser zu verstehen, dass wir nicht vom Erdsystem, sondern nur mit dem Erdsystem leben können. Um dies bildlich auszudrücken: Erträge einer gut geführten Stiftung können dauerhaft genutzt werden. Sobald man allerdings kräftig in das eingelegte Stiftungskapital greift, wird die Stiftung rasch finanziell kollabieren. Auch das Erdsystem wirft genügend verwendbare Ressourcen ab, um damit grundsätzlich ein gutes Leben für die ganze Menschheit zu ermöglichen, allerdings nur, wenn die „Stiftung Erde“ gut geführt und nicht übernutzt wird. Aus diesem Verständnis heraus resultiert förmlich eine Aufforderung zu anthropozänem (Um-)Denken und Handeln in sehr weiten Bereichen: Politik oder Wirtschaft alleine können eine erdsystemische Integration der Menschheit nicht gewährleisten, da gerade auch individuelles und regionales Handeln in der Summe globale Auswirkungen hat. Daher sind alle zu einer verträglichen, nachhaltigen Nutzung der Erde verpflichtet. Der derzeitige „Parasitismus“ des Menschen an der Natur müsste sich wandeln zu einer echten Symbiose von Mensch und Natur, im Sinne eines gegenseitigen Nutzens (Leinfelder 2016a, 2017b, 2018, auch für Textauszüge).

3. Neue Weltsicht Anthropozän – mögliche Anwendungen für den Unterricht – einige Anregungen

Nicht nur die analytischen Ebenen, sondern insbesondere auch die konsequentiale Metaebene des Anthropozäns eignen sich hervorragend, um im fachspezifischen, fächerübergreifenden und projektbasierten Unterricht fachliche Bildung mit gesellschaftlichen Fragen zu verbinden. Daraus ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, ethische, kommunikative, partizipative und lösungsorientierte Aspekte in unterschiedlichen Kontexten und Formaten zu erarbeiten, Lehren und Lernen wechselseitig zu verknüpfen, und insgesamt eine verbesserte „Future Literacy“ („Zukunftskompetenz“) einzuüben. Im Nachfolgenden sollen einige Möglichkeiten dazu in allgemeiner, teilweise auch konkreter Weise angeregt werden.

3.1 Ethische Aspekte im Anthropozän

Ethik in der Umweltbildung betrifft ein weites Feld. Ethische Fragestellungen ergeben sich thematisch zu Verantwortlichkeiten, Verantwortungszuständigkeiten, bis hin zu Gerechtigkeitsfragen sowie aus allgemeinen philosophisch-ethischen zukunftsorientierten Reflexionen nahezu aller Lebensbereiche. Manche sehen hier Konkurrenz mit anderen Fächern, etwa der Humangeographie, der Humanethik oder auch der Geoethik, wieder andere lehnen das Anthropozän-Konzept gänzlich ab, da es ihnen als ideologische Weltanschauung oder gar Selbstermächtigungsauftrag gegen die Natur erscheint, was in Teilen durchaus zu diskutieren ist, in anderen Teilen allerdings als Strohpuppenargumentation entlarvt werden kann. Der Autor sieht, genauso wie die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler/innen, das Anthropozän nicht als Konkurrenz, sondern als verbindende, integrative Ergänzung zu existierenden Fächern, betont die Faktenbasiertheit der analytischen Befunde und fasst auch die konsequentiale Metaebene des Anthropozäns nicht als neue Weltanschauung, sondern als neuen, integrativen Blick auf diese Welt auf. Vogt (2012) ist allerdings recht zu geben, wenn er betont, dass eine „Bildungsethik“ zur Nachhaltigkeit nicht zu einer politisch-ökologischen Funktionalisierung missbraucht werden darf. An diesem Anspruch müsse sich eine entsprechende Bildungsethik messen lassen. Vogt geht es vor allem darum, wie das Konzept der Nachhaltigkeit zu methodischen und inhaltlichen Innovationen von Bildung beitragen kann. Eine derartige Bildung ist demnach „nicht Mittel zur Umsetzung vorgegebener Ziele, sondern Medium der Auseinandersetzung mit ihnen“ (op.cit.). Eine Beziehung von Bildung und Ethik könne auch direkt aus dem Konzept der Nachhaltigkeit abgeleitet werden, denn dieses Konzept „hat nicht den Charakter eines definitiv vorgegebenen Zieles, sondern den eines offenen pluralen Suchprozesses“ (op.cit.).