Das Anthropozän lernen und lehren

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Der Wiener Neustädter Kanal

Ausgehend von England bahnte sich die Industrielle Revolution ihren Weg durch Europa bis in die Neue Welt. Auch in Österreich wurde das Thema Kohle und Rohstoffe im Allgemeinen als eine wesentliche Grundlage zur wirtschaftlichen Entwicklung des Habsburgerreiches erkannt und war eine wesentliche Zielvorgabe für Naturwissenschaftler, die das Kaiserreich bereisten, um Rohstoffe zu finden und zu sichern. Noch bevor Eisenbahnen gebaut werden konnten, waren Kanäle die ersten schnellen Handels- und Rohstofftransportwege als künstliche Wasserstraßen neben den großen Flüssen wie der Donau. Nicht umsonst wurde die erste geologische Karte eines Landes, nämlich von England und Wales, durch einen talentierten Kanalbaumeister, William Smith, im Jahr 1815 erstellt (vgl. Winchester, 2001). Smith erfasste auch die geologischen Schichteinheiten und deren Korrelation, insbesonders jene Schichten, die den gesuchten Rohstoff Steinkohle aus dem Zeitalter des Karbons (ca. 330 Millionen Jahre alt) enthielten (http://www.strata-smith.com/). Wasserwege wie künstliche Kanäle waren bestens geeignet v.a. schwere, massive Rohstoffe wie Steinkohle und Holz schwimmend schneller ans Ziel zu bringen als am mühsamen Landweg. Somit wurde England zunächst im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert mit einem Kanalnetz überzogen, dass die Kohle von den Bergwerken und Kohlegruben in die rasch wachsenden industriellen Verbrauchsgebiete transportierte.

Angeregt durch Studien in England, wurde auch in der Donaumonarchie an ein enges Kanalnetz zum Transport für Rohstoffe gedacht. Eines dieser Kanalprojekte war der Wien-Triest-Kanal, also eine Verbindung der Hauptstadt Wien zum nächstgelegenen und einzigen Hafen der Monarchie. Nebeneffekt dieses ehrgeizigen Plans war eine Verbindung zu den damals Wien nächstgelegenen Kohlehoffnungsgebieten östlich von Wiener Neustadt, auf (heutigem) ungarischen Staatsgebiet. Das Unternehmen begann durch die Gründung der „Wiener Neustädter Steinkohlengewerkschaft“ im Oktober 1791, die Kohle um Wiener Neustadt, unter anderem bei Sopron (damals Ödenburg) abbaute (Lange, 2003). Für einen billigen und schnellen Transport nach Wien wurde die „k.k. privilegierten Steinkohlen- & Canalbau A.G.“ gegründet, die zunächst die Strecke von Wien nach Ödenburg plante. In Richtung Adriahafen war allerdings bald klar, dass südlich Ljubliana (Laibach) auf Grund der porösen Gesteinsbeschaffenheit in verkarsteten Gebieten kein Kanalbau bis Triest möglich war. Der Teil von Wien nach Wiener Neustadt und in Richtung der Kohleabbaue wurde allerdings vorrangig geplant und vorangetrieben.

Der Bau wurde 1797 begonnen, finanziert aus Eigenkapital der Gesellschaft, dem Verkauf von Aktienanteilen und einer kaiserlichen Subvention (Lange, 2003). Im Wesentlichen waren die eingesetzten Bauarbeiter Soldaten, allerdings teilweise auch Sträflinge in Ketten. Unter vielen Problemen, etwa zu wenig Wasser, diverse Dammbrüche, Überschwemmungen und Versickerungen, wurde der Kanal endlich 1803 auf der Strecke von 56 km, vom Wiener Hafen bis nach Wiener Neustadt, in Betrieb genommen. Das Wasser wurde von mehreren Flüssen, u.a. der Piesting, abgeleitet.

Der wirtschaftlich wichtige Weiterbau des Kanals bis zu den Kohlegruben Ödenburgs gelang allerdings nicht mehr, es wurde nur wenig Kohle aus den eher geringwertigen Braunkohlelagerstätten in der Nähe von Wiener Neustadt nach Wien geliefert. Der Transport, vorwiegend von Holz aus alpinen Tälern, erfolgte über schmale Lastkähne, an denen Pferde vorgespannt wurden. Fünfzig Schleusen mussten betrieben werden, um den gesamten Niveauunterschied von 103 Höhenmetern zu überwinden. Für die Strecke von Wien bis Wiener Neustadt benötigte man im Schnitt eineinhalb Tage (Lange, 2019).

In der Folge wurde allerdings, ebenfalls dem Beispiel Großbritanniens folgend, bald der Eisenbahnbau parallel zum beinahe stockenden Weiterbau des Kanals geplant. Im Jahr 1842 fuhr der erste Zug auf der Strecke Wien–Gloggnitz, geplant von der „k.k. privilegierte Südbahngesellschaft“, anschließend wurde auch der wichtige Transportweg nach Ödenburg mit einer Eisenbahn von Wiener Neustadt nach Ödenburg geschlossen, und damit Kohle per Eisenbahn und nicht auf dem Kanalweg nach Wien gebracht. In der Folge wurden vor allem Ziegel aus den Ziegelgruben südlich Wiens auf dem Kanal transportiert. In Wien kam es zur direkten Konkurrenz von Eisenbahn und Kanal (Hauer & Spitzbart-Glasl, 2017), mitunter wurden Teile der damals bestehenden Kanaltrasse zur Errichtung von Eisenbahnlinien, z.B. der Aspangbahn im Jahr 1876, verwendet. Ab 1879 kam es so zu einem langsamen Ende des Transportbetriebes auf dem Kanal, nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Donaumonarchie verfiel der Kanal zusehends. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Kanal vom Land Niederösterreich generalsaniert.

Aus geologischer Sicht sind nicht nur die Geschichte des Wiener Neustädter Kanals von Interesse, sondern auch die geologischen Hintergründe. Erstmals wurde für diesen Bau der geologische Untergrund im Wiener Becken interessant – für den Kanal war es wichtig, tonigen (wasserundurchlässigen) von sandig-kiesigem (wasserdurchlässigem) Untergrund zu unterscheiden. Klarerweise war bei der Planung der Trasse zu berücksichtigen, dass das eingelassene Kanalwasser auf den Sand- und Schotterstrecken des Kanals versickern würde, und damit kein Lastenschiffsverkehr stattfinden könnte. Daher mussten für die Planung einerseits auch geologische Vorerkundungen eingeholt werden, und die Trasse nach Möglichkeit auf tonigem Untergrund (dem Tegel des Wiener Beckens) gebaut werden. Andererseits mussten geologische Abdichtungen gegen das Versickern erfunden werden, wie etwa die Zumischung und Verdichtung von tonführender Erde zum Schotteruntergrund, um das Versickern zu stoppen. Die Fortsetzung Richtung Adria war ebenso auf Grund geologischer Studien unmöglich durchzuführen. Während der Planungsphase war bald klar, dass der Untergrund südlich von Laibach aus vorwiegend verkarsteten Kalken eine Kanalführung auf Grund der schnellen Versickerung des Wassers unmöglich machen würde.


Abbildung 2: Die Kreuzung zweier Wasserstraßen bei Schönau an der Triesting, oben die Brücke des Wiener Neustädter Kanals mit seinem geradlinigen Nord-Süd-Verlauf, darunter der naturnahe Flusslauf der von West nach Ost fließenden Triesting

Im Zusammenhang mit dem Anthropozän bildet der Wiener Neustädter Kanal ein erstes landschaftsveränderndes Großbauvorhaben, eine erste anthropozäne Landmarke, die das südliche Wiener Becken (vor etwa 18 Millionen Jahren entstanden) durchpflügt und den wachsenden Einfluss des Menschen markiert, als ein erstes weithin erkennbares Zeichen für die anthropogene Umgestaltung der Erdoberfläche. Als künstliche Wasserstraße wird er hauptsächlich von Flüssen wie Leitha, Schwarza und Piesting gespeist, steht aber im Wettstreit mit diesem natürlichen Flusssystem, und muss etwa mehrere Flüsse mit Aquädukten als Wasserbrücken überqueren (Abb. 2). Als Transportweg wurde der Kanal zunächst von den Eisenbahnen, und später von den Bundesstraßen und Autobahnen abgelöst, die das Wiener Becken durchschneiden. Als morphologische Marke kommt heute der Radweg (Thermenradweg, früher Treppelweg) entlang des Kanals dazu, eine neue Fremdenverkehrsattraktion für die Gemeinden entlang des Kanals.

Die I. Wiener Hochquell-Wasserleitung

Siebzig Jahre nach dem Bau des Wiener Neustädter Kanals, in den Jahren 1870 bis 1873, wurde ein nächstes Wasser-Großprojekt, keine Wasserstraße, sondern eine Wasserleitung, aus dem Süden, von den kaiserlichen Quellen (Kaiserbrunn im Höllengebirge zwischen Rax und Schneeberg) bis nach Wien gebaut. Geplant und durchgesetzt wurde die Wasserleitung von dem berühmten Geologen Eduard Suess, nebenbei auch Stadtrat in Wien. Suess erstellte die erste geologische Karte einer Stadt mit Einbeziehung von anthropogenen Anschüttungen von Wien (Suess, 1862), zu der Zeit um 1875 die größte deutschsprachige Großstadt mit mehr als 1 Million Einwohnern. Suess erkannte auch die fatale und gesundheitsgefährdende Situation der Wiener Wasserversorgung durch lokale, oft verschmutzte und verseuchte Brunnen und ungefiltertes Donauwasser. Er plante und betrieb den Bau der Wasserleitung, oft heftig kritisiert, von der Nachwelt aber dann mit Denkmälern bedacht. Die Hochquell-Wasserleitung ist so geplant, dass keine Pumpwerke notwendig sind, sondern das Wasser dem berechneten natürlichen Gefälle 150 km bis nach Wien folgt (erst dort gibt es Pumpwerke) – ein großartiges und vorausschauendes Ingenieurswerk. Das Wasser aus den Karstquellen braucht auch heute noch etwa einen Tag nach Wien, bis zu 220 Millionen Liter fließen täglich in die Großstadt.

Nicht nur die Fassung der Karstquellen in den Karbonatgesteinsmassiven von Rax, Schneealpe und Schneeberg, und der Quellschutz auf den Plateauflächen, sondern auch die Bauphase wurden begleitend geologisch betreut. Dabei mussten, um das gleichmäßige Gefälle zu erhalten, immer wieder Aufgrabungen getätigt werden, die längste Tunnelstrecke misst fast 3 km. Diese Aufgrabungen gaben neue Aufschlüsse vor allem über die Schichten im unmittelbaren Untergrund des Wiener Beckens. Eine Vielzahl von Fossilien, versteinerte Meereslebewesen aus dem Meer der Paratethys, wurde während der Bauphase ausgegraben, viele Schichten und sogar Zeitstufen wie das Sarmatium wurden in der Folge neu beschrieben. Ein ganzes Buch von Felix Karrer, einem Schüler von Eduard Suess, ist diesen neuen künstlichen geologischen Aufschlüssen und den Versteinerungen gewidmet (Karrer, 1877). Für die Bauten und die Verkleidung der Wasserleitung wurden lokale Bausteine des Wiener Beckens verwendet, wie etwa das Badener und das Lindabrunner Konglomerat, die in nahen Steinbrüchen am Westrand des Wiener Beckens, wie etwa im Rauchstallbrunngraben bei Baden, abgebaut wurden. Die Wasserleitungstrasse mit ihren Bauten, wie den Talaquädukten und den Steinbrüchen, markiert damit einen weiteren Schritt in der wachsenden anthropogenen Umgestaltung der Landschaft des Wiener Beckens im 19. Jahrhundert.

 

Die Große Beschleunigung

Diese beiden beschriebenen Großvorhaben des 19. Jahrhunderts waren Vorboten der Großen Beschleunigung zu Beginn der Industrialisierung in Niederösterreich. In der Folge, mit dem Ausbau der Städte und von Eisenbahnen und Straßen zum heutigen Hochgeschwindigkeitsverkehrsnetz mit der Südautobahn im südlichen Wiener Becken, stieg die anthropogene Umgestaltung der Landschaft exponentiell an, sodass diese „Große Beschleunigung“ (Great Acceleration) nach dem Zweiten Weltkrieg heute als sinnvollster und geologisch messbarer Beginn des Anthropozäns gesehen wird (Waters et al., 2016) und sich auch in den Umwälzungen und der vom Menschen gemachten Kulturlandschaft im Wiener Becken manifestiert.

Der Begriff der „Great Acceleration“ wurde durch Steffen et al. (2015) eingeführt:

[…] the term ‘Great Acceleration’ aims to capture the holistic, comprehensive and interlinked nature of the post-1950 changes simultaneously sweeping across the socio-economic and biophysical spheres of the Earth System, encompassing far more than climate change.

Diese Große Beschleunigung ist zu einem grundlegenden Konzept der sich ebenfalls neu entwickelnden Erdsystemwissenschaften geworden, das die oft exponentiellen Anstiegsraten des globalen Wandels ab den 1950er- und 1960er-Jahren markiert, und damit auch den Beginn des Anthropozäns im geologischen Sinn definiert. Als Signale für diesen globalen Wandel werden unter anderem das Auftreten neuer Stoffe im Erdsystem wie etwa Plastik und Beton erkannt (Zalasiewicz et al., 2016). Als markantes geologisches Signal in den Ablagerungen des Anthropozäns wird von der Arbeitsgruppe der Fallout aus den atmosphärischen Atombombentests aus den Jahren 1950 bis 1964 vorgeschlagen. Dieser Fallout ist global gesehen in geologischen Zeiträumen gleichzeitig verteilt worden und findet sich von der Arktis, z.B. auf Grönland, bis ins Eis der Antarktis als eine messbare Anreicherung von artifiziellen, nur vom Menschen selbst neu erzeugten Nukliden wie etwa die Isotope des Plutoniums 239Pu und 240Pu (Waters et al., 2015). Damit wird das Anthropozän in seiner geologischen Definition sehr wahrscheinlich in einem Jahr zwischen 1952 und 1964 definiert, eine extrem junge und kurze Zeiteinheit der Geologischen Zeitskala, die die Erdgeschichte sonst in Millionen Jahre dauernde Abschnitte teilt. Der menschliche Einfluss auf das Erdsystem wuchs vor diesem Datum langsam und kontinuierlich über Jahrtausende im Holozän an, dem sogenannten „frühen“ Anthropozän („early Anthropocene“, z.B. Wagreich & Draganits, 2018). Eine erste Beschleunigung der Wirksamkeit des menschlichen Einflusses stellten die Globalisierung und die Industrielle Revolution dar als jene Vorstufe der folgenden Great Acceleration, die in Österreich erste landschaftsverändernde Großprojekte wie den Wiener Neustädter Kanal schuf.

Literatur

Crutzen, P.J. (2002): Geology of mankind – The Anthropocene. Nature, 415, 23.

Crutzen, P.J. & Stoermer, E.F. (2000): The ‘Anthropocene’. International Geosphere-Biosphere Programme Newsletter, 41, 12.

Hauer, F. & Spitzbart-Glasl, C. (2017): Nebenvorteil und Erbschaften einer Wasserstraße. Bedeutung und Permanenz von sekundären Nutzungen am Wiener Neustädter Kanal in Wien. Wiener Geschichtsblätter, 72/2.

Karrer, F. (1877): Geologie der Kaiser Franz Josefs Hochquellen-Wasserleitung. Abhandlungen der k.k. geologischen Reichs-Anstalt, Bd. IX, Wien.

Lange, F. (2003): Von Wien zur Adria. Der Wiener Neustädter Kanal. Sutton, Erfurt.

Lange, F. (2019): Der Wiener Neustädter Kanal – Vergessenes und Wiederentdecktes in einzigartigen Bildern. Sutton, Erfurt.

Steffen, W., Crutzen, P.J. & McNeill, J.R. (2007): The Anthropocene: Are humans now overwhelming the great forces of Nature? Ambio, 36, 614-621.

Steffen, W., Leinfelder, R., Zalasiewicz, J., Waters, C.N., Williams, M., Summerhayes, C., Barnosky, A.D., Cearreta, A., Crutzen, P.J., Edgeworth, M., Ellis, E.C., Fairchild, I.J., Gałuszka, A., Grinevald, J., Haywood, A., Ivar Do Sul, J., Jeandel, C., McNeill, J.R., Odada, E., Oreskes, N., Revkin, A., Richter, D. DeB., Syvitski, J., Vidas, D., Wagreich, M., Wing, S.L., Wolfe, A.P. & Schellnhuber, H.J. (2016): Stratigraphic and Earth System approaches in defining the Anthropocene. Earth’s Future, 8, 324–345.

Steffen, W., Broadgate, W., Deutsch, L., Gaffney, O. & Ludwig, C. (2015): The trajectory of the Anthropocene: The great acceleration. The Anthropocene Review, 2, 81–98.

Suess, E. (1862): Der Boden der Stadt Wien nach seiner Bildungsweise, Beschaffenheit und seinen Beziehungen zum Bürgerlichen Leben. Braumüller, Wien.

Wagreich, M. & Draganits, E. (2018): Early mining and smelting lead anomalies in geological archives as potential stratigraphic markers for the base of an early Anthropocene. The Anthropocene Review, 5, 177–201.

Waters, C.N., Syvitski, J.P.M., Gałuszka, A. Hancock, G.J., Zalasiewicz, J., Cearreta, A., Grinevald, J., Jeandel, C., McNeill, J.R., Summerhayes, C. & Barnosky, A. (2015): Can nuclear weapons fallout mark the beginning of the Anthropocene Epoch? Bulletin of the Atomic Scientists, 71, 46–57.

Waters, C.N., Zalasiewicz J., Summerhayes C., Barnosky, A.D., Poirier, C., Gałuszka, A., Cearreta, A., Edgeworth, M., Ellis, E.C., Ellis, M., Jeandel, C., Leinfelder, R., McNeill, J.R., Richter, D. deB., Steffen, W., Syvitski, J., Vidas, D., Wagreich, M., Williams, M., An Zhisheng, Grinevald, J., Odada, E., Oreskes, N. & Wolfe, A.P. (2016): The Anthropocene is functionally and stratigraphically distinct from the Holocene. Science, 351, 137.

Winchester, S. (2001): The Map That Changed the World. William Smith and the Birth of Modern Geology. HarperCollins, Glasgow.

Zalasiewicz, J. Waters, C.N., Ivar do Sul, J., Corcoran, P.L., Barnosky, A.D., Cearreta, A., Edgeworth, M., Galuszka, A., Jeandel, C., Leinfelder, R., McNeill, J.R., Steffen, W., Summerhayes, C., Wagreich, M., Williams, M., Wolfe, A.P. & Yonan, Y. (2016): The geological cycle of plastics and their use as a stratigraphic indicator of the Anthropocene. Anthropocene, 13, 4–17.

Zalasiewicz, J., Waters, C.N., Summerhayes, C., Wolfe, A.P., Barnosky, A.D., Cearreta, A., Crutzen, P., Ellis, E.C., Fairchild, I.J., Gałuszka, A., Haff, P., Hajdas, I., Head, M.J., Ivar do Sul, J., Jeandel, C., Leinfelder, R., McNeill, J.R., Neal, C., Odada, E., Oreskes, N., Steffen, W., Syvitski, J.P.M., Wagreich, M. & Williams, M. (2017): The Working Group on the ‘Anthropocene’: Summary of evidence and recommendations. Anthropocene, 19, 55–60.

Das Copyright für die Abbildungen 1 und 2 liegt beim Verfasser.

EINBLICK II

Erwin Rauscher
Unswelt als Wirwelt
Anthropozän – Herausforderung für Schulleitungshandeln

Das Feld der Philosophie […] lässt sich auf folgende Fragen bringen:

1) Was kann ich wissen?

2) Was soll ich tun?

3) Was darf ich hoffen?

4) Was ist der Mensch?

Kant (1800; 2013, S. 450f.)

Ne sutor supra crepidam.1 Kaum etwas so jung Beforschtes hat in kurzer Zeit so viel an Literatur hervorgebracht und an Emotion hervorgerufen wie das Anthropozän. Dennoch haben bislang die Schule und ihr Unterricht zwar unglaublich viel über die Wirkungen Kenntnis genommen, zumeist den Inhalten folgend, aber ohne nach den Gründen zu fragen. Umso mehr gilt es, das Anthropozän in die Schule zu bringen, über die Mülltrennung in färbigen Kübeln und das Zurücktragen-Müssen der Schulmilchflascherln hinaus. Denn nichts würde der zugehörigen Forschung mehr widersprechen, als ihre Erkenntnisse einem grünfärbigen Aktionismus und/oder einer Weltuntergangsideologie zuzuordnen, die keine Alternativen duldet.

Die schulpädagogischen Fragestellungen daran sind keiner Grundlagenforschung unterworfen, auch wenn sie deren Ergebnisse und Erkenntnisse kritisch replizieren (sollen). Umso mehr stellt sich der praktischen Unterrichtsforschung neben den Herausforderungen des ideologiefreien Transfers von Hockeyschlägerkurven über geologische, biologische, physikalische und nicht zuletzt ethische Phänomene hinweg die Frage, in welchen Kontexten die Themenfelder gelernt und gelehrt werden sollen und können. Dahinter aber stehen Fragen zur Schulentwicklung im Rahmen der globalen wie auch lokalen gesellschaftlichen Entwicklungen. Es geht (1) um Er- und Bekenntnis, (2) um Ethik und Moral, (3) um existentielle Fragestellungen und nicht zuletzt (4) um den Stellenwert des Menschen selbst in seiner „Menschenzeit“ (Schwägerl, 2012), der Welt von heute für morgen. Was liegt deshalb näher, als diese Fragen aus den nahezu identen Blickwinkeln eines der großen Leitzitate der Weltgeschichte zu beleuchten, das wohl gewiss in keinem Schulunterricht der Sekundarstufe II fehlen kann? Gestellt aus Sicht der vier kantischen Fragen, unter dem Fokus der schulischen Herausforderungen für das Lernen im Unterricht (und für das Leben), das Verhalten der Schulgemeinschaft (und in der Gesellschaft), für die pädagogischen Zielsetzungen der Schule und schließlich auch für die damit verbundenen neuen Herausforderungen der Schulleitungen.

Was kann ich wissen?

Immanuel Kant fokussiert diese Frage als zugehörig zur theoretischen Philosophie, es geht ihm um Erkennen und Wissen, um Wirklichkeit in ihren Widersprüchlichkeiten und Gegensätzen, um despotischen Dogmatismus und anarchischen Skeptizismus. Die Vernunft braucht und sucht keinen Zustand der Ruhe im gesicherten Besitz, vielmehr setzt sie sich kritisch mit bestehenden Gegensätzen auseinander. Menschliches Wissen ist angewiesen auf die Gegebenheiten der Natur und der Geschichte, es strebt nach Herkunft, Reichweite und Struktur. Menschliche Vernunft strebt nach Freiheit und Mündigkeit. Erst durch seine intelligiblen Leistungen wird der Mensch als vernünftig angesehen, durch das Wissen über sich, die Anderen und die Welt wird er zum Menschen. Die berühmte „kopernikanische Wende“ (Blumenberg, 1965) sagt nichts anderes aus, als dass nicht die Erkenntnis von den Gegenständen, sondern die Gegenstände von der Erkenntnis abhängig sind. Seiendes wird Sein durch Wissen.

Diese Wende drückt sich in unserer digital fokussierenden Welt von heute wohl am einprägsamsten darin aus, dass selbst Physiker/innen eher die Information als die Materie für den Urstoff des Universums halten. Relativitätstheorie und moderne Theoretische Physik legen dafür ihre vielfältigen Beispiele ab, beginnend mit der Äquivalenz von Masse und Energie in Albert Einsteins Ewigkeitsformel E=mc². Kant wie Einstein erfahren eine neue Deutung, die für den Schulunterricht nicht gleichgültig sein kann, durch die zeitgeistige Formulierung It from Bit, aufgestellt von John Archibald Wheeler. Besteht das, was ist, also aus Molekülen und Atomen, oder aus Information? Schafft heute Information erst die Welt? Oder wird wenigstens die Welt erst durch Information und Wissen entdeckt? Unsere Schüler/innen jedenfalls scheinen heute die Wirklichkeit der Welt vorrangig durch jene Informationen zu erfahren, die sie aufnehmen. Umso wichtiger wird die schulische Frage nach dem Zugang zum und dem Umgang mit Wissen. Und pointiert lässt sich eine Antwort dafür geben: Wenn Lehrer/innen ihren Schülerinnen und Schülern beibringen, dass es nicht so nötig sei, etwas zu wissen, sondern nur darauf ankomme, zu wissen, wo das Wissen zu finden ist, dann dürfen sie nicht vergessen, dass es für sie wichtig und unverzichtbar ist zu wissen, was es überhaupt zu finden geben könnte, und wenigstens zu wissen, was man wissen wollen sollte (Rauscher, 2012, S. 46).

 

Für die Führung von Schule ergibt sich daraus als wesentliche Fragestellung, wie sie mit der so schnell wie flüchtig gewordenen Wissenserneuerung umgehen soll: Bloße Management- und Kundenorientierung geben ebenso wenig Antwort wie ein Sich-verlassen-auf etwas oder jemanden. Und längst reicht es eben nicht mehr aus, nur den Inhalten zu folgen, ohne nach den Gründen zu fragen. Die kompromisslose Wertschätzung des Faktischen und des inhaltlichen Transfers verlangt nach einer nicht minder konsequenten Wertschätzung der Personwürde als Kennzeichen des autonomen Selbstverständnisses von Führung (Rauscher, 2020).

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