Das Anthropozän lernen und lehren

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Exkurs: Der Mythos der Erschaffung von Adam und Eva

Diese biblische Erzählung bot Künstlern und Künstlerinnen aller Zeiten ein Motiv für bildliche Darstellungen, die alle Pole der theologischen Deutung des Geschehens ausleuchteten. Eine der ungewöhnlichsten Interpretationen dieser Szene und eines der geheimnisvollsten Bilder überhaupt stammt von Hieronymus Bosch (und er bezieht sich hier auf die ältere Erzähltradition): Der Garten der Lüste. Die Erzählung von Adam und Eva verlegt er in einen Paradiesgarten, der von vier Paradiesströmen durchflossen und von vielfältigen bizarren Organismen bevölkert wird.

Gott führt in Gestalt von Jesus Christus die beiden Stammeseltern einander zu:

Bosch illustriert die Schöpfungsgeschichte und den Fortgang der Menschheit bis zum Inferno, das er auf der dritten, rechten Innentafel in einer bestürzenden Vision einzufängt: Entsprechend den infernalischen Vorstellungen des Mittelalters tummeln sich hier Ausgeburten quälender Fantasie, sie scheinen den letzten Tag anzukündigen. Die Höllenbilder waren also nach wie vor lebendig und schürten die Angst vor der Zucht Gottes wie das Verlangen der Menschen jener Zeit nach Gottgefallen und Heilsversprechen.39


Abbildung 9: Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste (Ausschnitt), (El jadín de las Delicias), Museo del Prado, Madrid40

Exkurs: Der Mythos von der Sintflut

Am meisten fürchtete das „apokalyptische Saeculum“41 – die Endzeitstimmung beherrschte das Zeitalter am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit – übrigens das Wasser, die Sintflut, die über Jahrzehnte vorausgesagt wurde. Im Jahr 1524 erreichte die Panik ihren Höhepunkt, als die Planeten Jupiter und Saturn42 im Februar in einem regelrechten Sternenkampf im Zeichen des Wassers, im Sternbild der Fische, auftauchten und eine himmlische Katastrophe ankündigten: Der Fisch würde sein Element, das Wasser, zu einer neuen Sintflut auf die Erde schicken, lautete die Prophezeihung, die 1523 auf einem Titelblatt eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde:

Die Darstellung „zeigt Sonne und Mond und vier weitere Sterne als zuätzliche Planeten im Bauch des Tierkreiszeichens Fisch, während sich von links vom Schwanzende her bedrohlich die Verkörperung des Saturn in Gestalt eines alten Mannes nähert. Während der Fisch bereits Wasser läßt und einen Sturzbach auf zwei Gebäude mit zerstörerischer Wucht niederschickt, treten die zugehörigen Kontrahenten, rechts die jupiterhafte Obrigkeit in Form von Kaiser, Papst und kirchlichen Würdenträgern sowie links die saturnischen Bauern, in grimmiger Entschlossenheit in Kampfstellung.“43


Abbildung 10: Leonhard Reynmann, Practica vber die grossen vnd manigfeltigen Coniunction der Planeten, die i[m]m jar M.D.XXiiij. erscheinen … werden. 44

Damit beenden wir die kurze Zeitreise in die Renaissance, die wir auf der Motivebene unternommen haben, und wenden unsere Aufmerksamkeit, wie auch die Künstler und Gelehrten der Renaissance, dem antiken Griechenland zu.

Schöpfungsmythen von Homer bis Hesiod

Homer (seine Lebensdaten können nicht annähernd festgelegt werden, sie changieren zwischen 1200 und 750 v.Chr.) gilt als Dichter der ersten großen griechischen Versepen: Ilias und Odyssee, seine Autorenschaft ist allerdings umstritten, das nährt die „Homerische Frage“.

Bei Homer ist Okeanos der Ursprung der Götter und Ursprung von allem: „Okeanos’ wallende Fluten, jenes Stroms, der allen Geburt verlieh und Erzeugnis“ (Ilias, V, 245–246)45. Er ist der Strom, der die Welt im Kreis umfließt, immer wieder in sich zurückströmend, und sie zugleich abgrenzt vom Jenseits.


Abbildung 11: Homers Weltkarte 46


Abbildung 12: Okeanos und Thetys, Zeugma Mosaic Museum Gaziantep 47

Er ist der Ursprung der Götter sowie aller Flüsse, Meere, Quellen und Brunnen. Im Besitz unerschöpflicher Zeugungskraft hat er mit seiner Gattin, der Meeresgöttin Tethys, dreitau-send Söhne gezeugt, das sind die Flüsse, und genauso viele Töchter, das sind die Okeaniden, Meerwesen ähnlich den Nereiden und Nymphen. Er befindet sich aber nun mit ihr im Streit, sie haben die Zeugung eingestellt – damit wird auch auf dieser Ebene Kreislauf und Begrenzung entsprochen.

Okeanos strömt im Kreis und nährt die Quellen, Flüsse und das Meer.48

Eine ähnliche Erzählung vom Anbeginn der Welt wurde von den Anhängern und Verehrern des Sängers Orpheus im orphischen Kult weitergegeben. „Am Anfang war die Nacht …“, beginnt diese, Nyx genannt und eine der wichtigsten Göttinnen auch bei Homer. Die Urnacht ist ein großer, schwarzer Vogel, dieser legt ein vom Wind befruchtetes Ei. In der oberen Hälfte des Eis gähnt der Himmel (Empedokles schöpft dafür erst später den Begriff „Chaos“), unten befindet sich die Erde. Eros erblickt das Licht der Welt, und über seine Wirkung zeugen die beiden Okeanos und Thetys.49

Vasenmaler sind Erzähler der Götter- und Heldengeschichten, ihre Malereien sind jedoch nie Illustrationen zum Wort, sondern alternative, eigenständige Erzählvarianten.

Wie über das Medium Schrift haben auch die einzelnen Maler jeweils ihren eigenen Erzählstil und Duktus, den zeichnerischen Schriftzug, entwickelt.

Bemalt wurden alle Arten von Gefäßen, sie stellen wichtige Quellen dar und geben Auskunft über Alltagsleben und Mythologie der Griechen und ihre Bildkultur.50


Abbildung 13: Orpheus, Rotfigurige Vasenmalerei, Antikensammlung Berlin, Mitte 5. Jh.v.Chr. 51

Hesiod, neben Homer einer der Begründer der griechischen Literatur, lebte um 700 v.Chr. in Askra in Böotien. In seinem großen Epos Theogonie („Entstehung der Götter“) vereint er in über tausend Hexametern die gesamte Genealogie der griechischen Götterwelt. Mit Homers Ilias und Odyssee gehört es zu den ältesten und wichtigsten Quellen der griechischen Mythologie. Hesiods Theogonie ist eine Schilderung der Abfolge der Göttergenerationen „von Anfang an“ (ex archês), ihr Thema ist die Weltentstehung bis zur Herrschaft des Zeus. Hesiod beginnt mit einer Anrufung der Musen, als Dichter und Sänger bittet er um göttliche Eingabe. Die Wahrheit kann er aufgrund seiner begrenzten menschlichen Sicht nicht garantieren – und Dichtung ist zur Erbauung da.

Damit hat sich auf dem Boden der vorderorientalischen Mythen und noch in mythischer Sprache eine wesentliche Veränderung vollzogen: Hesiod schildert seine Berufung zum Dichter durch die Musen, die Entstehung der Welt, und ihre Geschichte bis zur Gegenwart wird bei ihm zu Literatur.

Die Theogonie ist eine Geschichte unübersichtlicher (nur teilweise geschlechtlicher) Zeugungen und daraus resultierender Verwandtschafts- und Neidverhältnisse, von Wut, Kränkung, List, Rache, vor allem aber Macht und den Kämpfen jeder Göttergeneration gegen die vorhergehende und nächste, die in serieller Unablässigkeit und mit äußerster Brutalität geführt werden. „Zuallererst wahrlich entstand das Chaos“, setzt die Erzählung an; um die Beseitigung des Chaos (von griech. kaíno = klaffen, gähnen) oder eine lineare Entwicklung „Vom Chaos zum Kosmos“52, eine Kosmogonie, geht es nicht.53

Wie fast alle mythischen Geschichten über den Anfang der Welt weist aber auch die Theogonie ein vierstufiges Schema auf:

1. Am Beginn existiert eine Urmasse (wie das Wasser oder das Chaos), die belebt und gestaltend – göttlich – tätig wird.

2. Diese Urmasse spaltet sich und bildet ein erstes Gegensatzpaar, meist ein heterosexuelles Götterpaar, z.B. Himmel und Erde.

3. Weitere Göttergenerationen werden gezeugt.

4. Alle anderen Lebewesen, allen voran der Mensch, werden geschaffen. In jüngeren Mythen etabliert sich zuerst ein junger Götterkönig, indem er die alten Götter besiegt (Marduk; Zeus); dieser regiert fortan die Welt und nimmt die Erschaffung der Lebewesen vor.

 

Damit ist auch der fundamentale menschliche Zyklus beschrieben: Geburt – der heterosexuelle Gegensatz – Fortpflanzung – Generationenkonflikt.54

Exkurs: Die Meerschaumgeborene

Einer dieser grausamen Episoden, die zur Geburt der Aphrodite, einer Tochter des Uranos, führt (Hesiod: Theogonie, 173–200), hat Sandro Botticelli in einem weltbekannten Gemälde ein Denkmal gesetzt:


Abbildung 14: Sandro Botticelli (1445–1510, Florenz), Die Geburt der Venus, Uffizien, Florenz 55

Beim Betrachten der idyllischen Szene wird einem die blutige Vorgeschichte kaum bewusst:

Saturn hatte auf Geheiß seiner Mutter seinen eigenen Vater Uranos beim Liebesspiel überrascht und mithilfe einer Sichel entmannt. Um die ins Meer geworfenen Geschlechtsteile bildete sich eine gewaltige Menge Schaum, aus dem die Göttin der Liebe geboren wurde.56

Die Naturphilosophie der Antike

Die Entstehung der Welt und ihr gegenwärtiger Zustand, das war auch das weite Themenfeld der etwa anderthalb Jahrhunderte nach Hesiod einsetzenden „Naturforschung“57, die sich der Suche nach den Wurzeln alles Seienden, dem Werden und Vergehen der Welt, dem Urstoff aller Dinge, dem sogenannten Arché, widmete und später als „Vorsokratiker“ bezeichnet wurden. Ihre Schriften sind nur bruchstückhaft erhalten, allerdings haben spätere griechische Autoren, allen voran Aristoteles, über sie berichtet und die unverkennbaren Anfänge ersten echten wissenschaftlichen Denkens, das auf Beobachtung fußt und kausale Zusammenhänge sucht, dokumentiert.

Zu den Vertretern dieser ältesten griechischen Philosophen gehörte unter anderem Thales (624/23–548/44 v.Chr.), der aus der ionischen Hafenstadt Milet stammte, Angehöriger einer wohlhabenden, weltoffenen Kaufmannsschicht und aus diesem Grund wohl weit gereist war und – davon ist auszugehen – die vorderorientalischen Mythen kannte. Das Denken der Naturphilosophen weist überhaupt viele Gemeinsamkeiten auf, z.B. das göttliche Prinzip der Elemente als etwas zugleich Materielles und Geistiges. Eine entscheidende Neuerung besteht darin, dass sie sich in ihrem Wahrheitsanspruch nicht mehr auf göttliches Wissen beriefen. Die Götternamen verschwanden, vom Stromgott Okeanos und seiner Gattin, der Meeresgöttin Tethys, blieb bei Thales z.B. nichts als das Wasser, dem er als „Prinzip aller Dinge“ höchste Bedeutung zumaß.58

Aristoteles (384–322 v.Chr.) beleuchtete diesen Umstand in seiner Metaphysik:

Von denen, die zuerst philosophiert haben, haben die meisten geglaubt, dass es nur stoffliche Urgründe der Dinge gebe. Denn woraus alle Dinge bestehen, und woraus sie als Erstem (d.h. ursprünglich) entstehen und worein sie als Letztes (d.h. schließlich) vergehen, indem die Substanz zwar bestehen bleibt, aber in ihren Zuständen wechselt, das erklären sie für das Element und den Urgrund (Arché) der Dinge, und daher glauben sie, dass weder etwas (nur aus dem Nichts) entstehe noch (in das Nichts) vergehe, in der Meinung, dass eine solche Substanz (Physis) immer erhalten bleibt […] Denn es muss eine gewisse Substanz vorhanden sein, entweder eine einzige oder mehrere, aus denen alles übrige entsteht, während sie selbst erhalten bleibt. Über die Anzahl und die Art eines solchen Urgrundes haben freilich nicht alle dieselbe Meinung, sondern Thales, der Begründer von solcher Art Philosophie, erklärt als den Urgrund das Wasser (daher glaubt er auch, dass die Erde auf dem Wasser ruhe) […]59

Damit wies Aristoteles der Naturphilosophie von Thales ein entscheidendes neues, „materiales Prinzip“ zu, wonach alle Elemente und Naturkräfte nur spezifische Ausformungen des ewigen Urstoffes seien. Dieses Prinzip der unendlichen Verwandlung ist dem Mythos fremd, hier wird der Urstoff zwar als Ausgangselement der Weltentstehung, aber nicht beständiges Element des Kosmos verstanden, genauso wie jede neue Göttergeneration neu und machtvoll die alte ablöst.

Dagegen sei das Wasser bei Thales als Element eingestuft

• „aus dem alles Seiende (letztlich) besteht,

• in das alles Seiende schließlich vergeht,

• das selbst weder entsteht noch vergeht.“60

Daraus ergeben sich die Schlussfolgerungen:

• „Die Welt ist in ihrer gegenwärtigen Struktur einfacher, als sie zu sein scheint (‚Simplizität‘).

• Hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen existiert eine mit den Erscheinungen nicht identische Realität (‚theoretische Tiefe‘).

• Entstehen und Vergehen ist Veränderung einer quantitativ und qualitativ beharrenden Substanz (‚elementarer Erhaltungssatz‘).“61

Die vier Elemente

Empedokles von Agrigent (483/82–424/23 v.Chr.), der sich unter die späten Vorsokratiker einreiht, wählte einen neuen, nämlich ausgesprochen eklektizistischen Zugang zur Naturphilosophie. In Anerkennung der vielen Bemühungen seiner Vorgänger baute er auf deren wesentlichen Erkenntnissen und Einsichtenn seine Vier-Elemente-Lehre auf und übernahm zu diesem Zweck von Tales von Milet die Theorie zum Wasser, von Anaximenes jene zur Luft und von Heraklit jene zum Feuer; die Erde fügte er als Element dazu bzw. kopierte er Xenophanes, der schon zu Wasser und Erde gearbeitet hatte. Empedokles vereinfachte den bisher verbreiteten radikalen philosophischen Zugang und gab vor allem die theoretische Frage auf nach dem Einen, das alles im Grunde ist.62 Er war Materialist, nahm den Bestand der Materie zur Kenntnis und widmete sich der sinnlich wahrnehmbaren Welt, um sie in ihrer Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit zu verstehen.63 Unvergängliche Grundlage von allem waren für ihn die vier Elemente, die er als „Wurzelkräfte“ bezeichnete und zuerst noch mit Götternamen (Feuer – Zeus, Luft – Hera, Erde – Aidoneus/Hades, Wasser – Nestis/Persephone) vorstellte, wenn er sein Lehrgedicht „Über die Natur“ (Peri phýseōs), einen seiner wenigen erhaltenen Texte, beginnt:

Denn die vier Wurzeln aller Dinge höre zuerst: Zeus der schimmernde und Hera die Leben-Spendende sowie Aidoneus und Nestis, die durch ihre Tränen irdisches Quellwasser fließen lässt. (31B6)

Die vier Elemente und ihre mythischen Bedeutungsdimensionen wurden oft in allegorischen Darstellungen transportiert, auch so wurde ihr Bildungsgut lebendig gehalten:


Abbildung 15: Antonius Wierix (um 1552–1624, Antwerpen), Elemente: Das Wasser, Kupferstich. Die Subscriptio lautet: „Pflanzen und Felder begrünen sich durch meine Feuchtigkeit und durch meine Gabe schenke ich den Fischen das Leben.“ 64

Der Triumphwagen wird von den Meeresrossen Poseidons gezogen, der Wagenlenker treibt sie mit Windhauch an und symbolisiert damit die dynamische Kraft. Die Wasser-Tierkreiszeichen sind vorhanden: Steinbock, Wassermann und Fische. Poseidon tritt als doppelköpfiger König mit einem Schlüssel auf: Er ist Meeresbeherrscher und Erderschütterer. Hinter ihm steht seine Gattin Amphitrite und hält seinen Dreizack (oder es ist eine Flussgöttin, worauf der Krug als Flusssymbol in ihrer Linken hindeuten würde). Peitschende Wellen und drohende Wolken belegen eindrucksvoll seine Macht.

Antonius Wierix hat in dieser Serie entsprechende Kupferstiche auch für die anderen Elemente – Feuer, Erde, Luft – angefertigt.65

Auf ganz andere Weise ist zur selben Zeit und auch in Antwerpen der Maler Joachim de Beuckelaer mit den Motiven der vier Elemente umgegangen; in allen vieren zeigt er farbenfreudige Alltagsszenen, das Bild zum Element Wasser beispielsweise einen Fischmarkt:


Abbildung 16: Joachim De Beuckelaer (um 1530–1573/74), Die vier Elemente: Wasser. Fischmarkt mit dem wunderbaren Fischzug im Hintergrund 66 ; alle genannten Gemälde: National Gallery London 67

Die Gemälde zu den vier Elementen (Feuer: eine Küchenszene mit Jesus bei Maria und Martha im Hintergrund; Wasser: siehe oben; Erde: Der Gemüsemarkt mit Flucht nach Ägypten im Hintergrund; Luft: Geflügelmarkt mit Gleichnis vom verlorenen Sohn im Hintergrund) sind in den Jahren 1569 und 1570 entstanden.

Für Empedokles repräsentieren die vier Elemente göttliche Naturmächte mit unterschiedlichen, sogar gegensätzlichen Charakteren, aber gleich an Stärke und von gleich alter Abstammung, und abwechselnd gewinnen Einzelne an Stärke oder treten wieder zurück. Diese Tendenzen des Mit- und Gegeneinanders, des Sich-Anziehens und -Abstoßens repräsentieren das lebendige Prinzip dieser Vierheit, die eine Einheit ist. Die Spannungen, die dabei entstehen, werden als Liebe und Hass bezeichnet – symptomatisch für Empedokles’ poetische, aber oft missverständliche Ausdrucksweise68:

Abwechselnd herrschen [die vier Elemente] im Umschwung des Kreises und vergehen und entstehen in und aus einander in festbestimmtem Wechsel. Denn nur diese [vier Elemente] gibt es: durcheinander laufend werden sie zu Menschen und anderer Tiere Geschlechtern; bald vereinigen sich alle zu einer Ordnung in Liebe, bald auch trennen sich wieder die einzelnen [Elemente] im Hasse des Streites, bis sie, kaum zum All-Einen zusammengewachsen, [wieder] unterliegen.69

Der periodische Wechsel von Dominanz und Schwäche, dieses wogende Durcheinander, führt bei Empedokles nie zu Ausgleich und Stillstand. Damit näherte er sich nicht nur den aristotelischen Vorstellungen von der Konstitution der organischen Stoffe, sondern wies voraus in Vorstellungen von Materie-Konsitutionen, die von Attraktion und Repulsion bestimmt werden und in der Tradition des Dynamismus (Leibniz, Bošković, Kant, Schelling) ihren Ausdruck fanden, bis zum Atombegriff der modernen Teilchenphysik.70

Exkurs: Paul Klee und das Wasser

Ähnlichen Fragen wie Empedokles widmete sich fast zweieinhalb Jahrtausende später Paul Klee (1879–1940), und auch er bewegte sich in allen Elementen und Zonen des Wirklichen – des Menschlichen, Tierischen, Pflanzlichen, Dinglichen –, als bildender Künstler näherte er sich ihnen zeichnend und malend. Auch er dachte über die wahrnehmbare Wirklichkeit hinaus, es ging ihm nicht um Abbildung, sondern um die nicht über die Sinne erfassbaren Eigenschaften des Natürlichen, und er forderte vom Maler: „Die sichtbare Welt ist in ihrer Sichtbarkeit für ihn erschöpft. Er muss fortschreiten zum Bild“71, zum Unsichtbaren, und das waren für ihn die Formkräfte der Natur, die Kräfte, die das Lebendige lebendig machen. Nicht um „Form als Erscheinung“, sondern „Form im Werden“, als Genesis, ging es ihm, um die Natur als sichtbare Form unsichtbarer Kräfte und Mächte. Eine besondere Nähe entwickelte er zum Wasser als Zwischenreich und Zone, wo sich das Irdisch-Gewohnte mit dem Unwirklichen und Unglaublichen vermischt, und zu Fischen in ihrer elementaren Form und verschwenderischen Formenvielfalt. Diese erweiterte er noch mit Fantasie und Humor und war auf diese Weise auch Schöpfer. „Satire darf kein überflüssiger Unmut sein, sondern Unmut in Hinblick auf das Höhere. Lächerlicher Mensch, göttlicher Gott.“72

 

Wie so viele Künstler hatte auch er auf seinen Reisen wesentliche Impulse für seine Arbeit erhalten, insbesondere auf seiner Tunis-Reise 1914. „Die Farbe hat mich. Ich bin Maler“, kommentierte er damals einen wesentlichen Entwicklungsschritt.73


Abbildung 17: Paul Klee, Fische (1921) 74

Das freie Element, das Meer, musste früher oder später ein Wesen seiner Art hervorbringen, ein äußerst freies, gleitendes, wogendes, fließendes Wesen, so fließend wie die Flut selbst. Doch musste seine bewundernswerte Beweglichkeit sich einem noch größeren inneren Wunder verdanken, einem zentralen, feinen und starken, sehr elastischen Organismus, wie bis dahin kein Tier noch einen vergleichbaren besaß.75